Sonntag, 6. Juni 2021

Angst essen Liebe auf - Über das Phänomen der Spaltung

 

 

Der andersdenkende ist kein Idiot, 

er hat sich eben eine andere Wirklichkeit konstruiert.

 

Paul Watzlawick

 Heute Morgen lese ich eine Nachricht von einem Menschen, mit dem ich früher Zeit verbachte und Projekte verwirklich habe und den ich seit Beginn der Krise nicht mehr gesehen habe. In dieser Nachricht steht eine einzige Frage: Hallo, bist du jetzt geimpft? Ich bin verwundert, gibt es doch andere Fragen, die man einem vertrauten Menschen nach so langer Zeit stellen könnte, zum Beispiel: Wie geht es dir? Das scheint den Fragenden nicht zu interessieren, wichtig ist ihm, ob ich zu den Geimpften zähle. Ich zähle nicht dazu. Ich zähle zu den Gesunden, aber damit nicht zu den drei G´s, die in der neuen Normalität jetzt zur Teilnahme am sozialen Leben Vorrausetzung sind. Wieder wird mir klar, wie weit die Spaltung unsere Gesellschaft durchdrungen hat.

Die Corona-Krise hat soziale Wunden unter den Menschen geschlagen. 

Wir sind mehr und mehr in eine gesellschaftliche Polarisierung geraten. Das Klima des gegenseitigen Verstehens ist im Laufe der vergangenen fünfzehn Monate zerbröckelt und angesichts der Impfbereitschaft, die von uns gefordert wird und viele Menschen unter immensen Druck setzt, vollends zusammengebrochen. Die Polarisierung führt so weit, dass Menschen einen Glaubenskrieg führen in dem sich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstehen. Dieser Krieg wütet mittlerweile sogar in der kleinsten Zelle, der Familie. Es gibt Streit, es kommt zu Kontaktabbrüchen und zu Trennungen. Wer nicht glaubt, was wir glauben, gehört nicht mehr zu uns. Wer nicht glaubt, was wir glauben, nicht macht, was wir machen, bedroht uns. Und was uns bedroht, müssen wir loswerden, vernichten und weil das nicht geht, spalten wir es ab, sogar wenn es die eigene Mutter ist, die anders denkt und fühlt.

Wieso ist das so? Warum reagieren und handeln Menschen in einer Zeit in der Zusammenhalt, gegenseitiges Verständnis, Mitgefühl, Unterstützung und Hilfe, so wichtig wären, auf diese extreme Art und Weise und gegen jede Menschlichkeit?

Das Social Distancing hat nicht nur soziale, sondern auch zunehmend psychische Folgen.  

Wir Menschen wurden über anderthalb Jahre voneinander getrennt, wir erlebten und erleben Kontaktbeschränkungen und Kontaktverbote. Das hat dazu geführt, dass sich unser Menschenbild verändert. Aus dem Mitmenschen, besonders dem Fremden, wurde ein potentiell bedrohlicher Organismus, der uns, kommen wir ihm zu nahe, infizieren kann und damit im Zweifel sogar töten. Die äußere Spaltung führte zu einer inneren Trennung von unserem Mitmenschen, sie ging und geht sogar soweit, dass man Menschen alleine sterben lässt, anstatt sie im Beisein ihrer Liebsten den letzten Weg gehen zu lassen. Hätte uns das jemand vor der Krise als Zukunftsszenario geschildert, wir hätten es uns nicht einmal vorstellen können, so absurd, menschenverachtend und traumatisch wäre uns das erschienen. Und das ist es auch. 

Angst essen nicht nur Seele auf, Angst essen Liebe auf.

Wie ertragen Menschen das? Indem sie das Unerträgliche abspalten.

Wir kennen das Phänomen der sogenannten Dissoziation aus der Traumaforschung. Ein wesentliches Element von Trauma ist die innere Abspaltung. Diese Abspaltung rettet uns in einer traumatischen Situation vor Schmerzen und Gefühlsüberflutung. Abgespalten wird, was unaushaltbar  ist. In der Dissoziation findet eine Abspaltung eines oder mehrere Teile von uns selbst -  eben aller Gefühle, die wir nicht aushalten können. Diese abgespaltenen Gefühle werden aus unserem Alltagsbewusstsein ausgelagert. Nur so können wir das traumatische Erleben überhaupt ertragen.

Des weiteren kennen wir in der Psychologie die Spaltung oder Spaltungsabwehr. 

Dies bezeichnet man als einen psychischen Abwehrmechanismus, der auf einer Reaktivierung eines frühkindlichen innerpsychischen Zustandes basiert, in dem wir noch zu keiner Integration der positiven und negativen Aspekte des eigenen Selbst und seiner Umgebung entwickeln konnten. Diese Form der Spaltungsabwehr dient in Überforderungs-, Belastungs- und Konfliktsituationen dafür, dass unaushaltbare Vorstellungen vom eigenen Selbst oder von  äußeren Objekten auseinandergehalten werden können. Das führt dazu, dass das Selbst bzw. die Objekte als „nur gut“ oder „nur böse“ wahrgenommen werden. Es kommt zur genannten Spaltung. 

Diese Spaltung schützt uns vor den eigenen inneren Konfliktspannungen und Aggressionen, die dann dem „bösen“ Objekt gegenüber projektiv zugeschrieben oder ausgelebt werden. Zudem schützt die Spaltungsabwehr die positiven Selbstaspekte vor negativen Vorstellungen über das eigene Selbst, die dann projiziert auf andere - in Form von Wut und Ausgrenzung - zum Ausdruck kommen. Mit anderen Worten: Das eigene Verdrängte wird dem anderen übergestülpt um sich als weiterhin als „gut“ empfinden zu können. Was wiederum dazu führt, dass man mit sich selbst im Reinen sein kann und somit das Gefühl der Überforderung kompensiert – man kommt wieder in das Gefühl von Eigenmacht.

Die Ohnmachtserfahrung von Corona hat uns aus unserem psychischen Gleichgewicht geworfen, sie hat uns traumatisiert, überfordert und gereizt gemacht. 

Viele Menschen spüren eine permanente existenzielle Verunsicherung. Jede Erfahrung von Ohnmacht aufgrund existentieller Bedrohung ist für Menschen schwer aushaltbar. Dieses Ohnmachtsgefühl muss überwunden werden – es strebt nach seinem polaren Gegenüber – dem Gefühl von Eigenmacht.

Eigenmächtig fühlen wir uns dann, wenn wir das Gefühl haben die Kontrolle über uns selbst und unser Leben zu haben. Mächtig fühlen wir uns auch dann, wenn wir nicht alleine sind mit unserer Meinung und unserer Sicht der Dinge.  

Daher folgen viele Menschen in ihren Überforderungs- und Ohnmachtsgefühlen dem, was man ihnen  als hilfrich, erlösend und „gut“ verheißt, besonders wenn es von einer höheren Instanz kommt. Die höhere Instanz muss ja wissen, was gut für mich ist. Die meisten Menschen davon aus, dass die höhere Instanz es gut mit ihnen meint. In Krisenzeiten wird immer der Retter gesucht, die Vater- die Mutterfigur, die es wieder gut macht. Wer diese Figuren antastet oder hinterfragt, stört  das Gefühl wiederhergestellter Sicherheit und muss daher zum Selbstschutz, bekämpft werden. Es kommt zur Abspaltung all derer, die diese Sicherheit bedrohen.

Spaltung ist jedoch für die Psyche ein unheilsamer Kompromiss, weil das Ich gezwungen ist, permanent zwischen den Polen von zwei emotionalen Zuständen hin und her zu schwingen, ohne dass es deren unterschiedliche Tönungen gleichzeitig wahrnehmen kann. Dieser Mechanismus wird dann durch andere Abwehrmechanismen, wie die Verleugnung, die Projektion und/oder die Entwertung unterstützt. Im Abwehrmechanismus der Spaltung wechseln die Gefühlszustände ständig. Eben noch gemochte oder sogar geliebte Menschen werden nun plötzlich zu Feinden, Vertrauen wird zu Misstrauen, Angst zerstört gefasste Hoffnung und Zuversicht. All dies gründet auf der Unfähigkeit, die Ambivalenz von Emotionen auszuhalten.

In der Spaltung ist das Selbstbild, die Objektwelt, die Qualität und Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und daraus folgend der gesamte Realitätsbezug verzerrt. Der Mensch handelt nach einer selbstkonstruierten Logik, die nicht mehr rational nachzuvollziehen ist und schafft sich eine eigene Realität, die schließlich vehement gegenüber Andersdenken verteidigt werden muss, damit das haltgebende Konstrukt nicht zusammenbricht. In der Spaltungsabwehr ist der Mensch in einem Zustand verbunkert, der Entwicklung aussperrt.

 

 

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