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Die Änderung der eigenen Misere von anderen zu verlangen, ist unwirksam.
Gestern fragt mich eine Klientin: Wie geht ein gutes Leben in dieser Krise?
Ich frage sie, wie denn ihre Tage aussehen.
Naja, antwortet sie: Ich stehe am Morgen auf, ich räume auf, ich arbeite, ich koche, ich esse, ich gehe spazieren, ich geh zu Bett, ich stehe auf, ich arbeite. Und täglich grüßt das Murmeltier.
Ja, das ist nicht viel. Und was macht Ihnen Freude?
Tja, es geht ja nichts mehr. Kein Urlaub, kein nettes Essen mit Freunden im Restaurant, keine Mittagspause im Café, kein Einkaufsbummel am Wochenende, kein Fitnesstudio. Ich frage mich ernsthaft, wie abhängig ich von all dem bin, was es einmal gab, so als gäbe es nichts sonst was mir Freude macht, also im Grunde frage ich mich gerade, wie abhängig ich davon bin, mich auf etwas zu freuen.
Sich auf etwas freuen gehört zum guten Leben, antworte ich. Sich auf etwas freuen können, trägt zu unserem Wohlbefinden bei. Das ist wichtig.
Wir schauen uns genau an was meiner Klientin Freude macht.
Sie erkennt, dass es alles Dinge oder Erlebnisse sind, die vom Außen abhängen.
Und damit sind wir bei der Ausgangsfrage: Wie geht ein gutes Leben in dieser Krise?
Über das gute Leben haben Philosophen und Psychologen viel und lange nachgedacht. Es gibt unzählige Bücher über das gute Leben und wie man es gestalten kann, aber es gibt noch kein Buch, das uns sagt, wie das in einer Pandemie geht. Es erfordert also anderes als wir den klugen Büchern entnehmen können, die vor dieser Zeit geschrieben wurden um ein gutes Leben zu gestalten angesichts eines äußeren Rahmens, der sehr eng ist.
Beginnen wir mit der Frage: Woran würden Sie merken, dass es ein gutes Leben ist, sage ich zu meiner Klientin.
Wenn ich mich gut fühle, kommt spontan.
Warum sind sie zu mir gekommen damals vor drei Jahren?, frage ich zurück.
Weil es mir schlecht ging.
Aha, antworte ich, damals gab es die Pandemie noch nicht und sie haben sich schlecht gefühlt.
Sie lacht. Ja das stimmt.
Also scheint es doch so zu sein, dass ihr Leben schon damals nicht gut war, als alles noch „normal“ war.
Stimmt auch, antwortet sie. Aber das waren andere Gründe.
Ja, aber sie haben sich auch damals wenn auch aus anderen Gründen, nicht gut gefühlt.
Ja, das ist wahr, aber worauf wollen sie hinaus?
Ich will ihnen zeigen, dass ein gutes Leben weniger von den äußeren Umständen abhängt, als sie glauben.
Aber wovon denn?
Woran würden sie merken, dass sie ein gutes Leben haben?
Wenn ich mich wohl fühle.
Und was brauchen Sie dazu?
Genau das ist die Frage, die wir uns jetzt alle stellen dürfen: Was brauche ich, um mich wohl zu fühlen?
Alles gut und schön und auch hilfreich. Viele von uns machen all das schon, aber die Erfahrung nach über einem Jahr im Ausnahmezustand zeigt, wirklich wohl fühlen wir uns alle nicht. Das ist logisch und es ist okay, aber es hilft nichts, sich immer weniger wohl zu fühlen, weil uns das krank macht und zwar seelisch, geistig und körperlich. Wohlbefinden geht tiefer.
Hilfreich ist hier ein Blick in Richtung Positive Psychologie:
Nach der positiven Psychologie basiert Wohlbefinden auf fünf Säulen:
1.Positive Emotionen spüren
2. Sich für etwas engagieren
3. Verbundensein mit anderen Menschen erfahren
4. Sinn in unserem Tun finden
5. Selbstwirksamkeit: merken, dass wir etwas bewegen können
Wie übertragen wir das nun auf unser Leben im Jetzt?
Indem wir uns folgende Fragen beantworten:
1. Was verschafft mir positive Emotionen? Wie kann ich selbst dafür sorgen, dass ich sie spüre? Und wenn ich etwas gefunden habe, was mir gute Gefühle macht, mache ich mehr davon.
2. Wofür könnte ich mich engagieren? Was liegt mir am Herzen wofür ich mich einbringen kann? Was möchte ich mir geben? Was will ich in die Welt geben? Welche Werte will ich lebendig werden lassen – und zwar indem ich etwas dafür tue?
3. Wie und mit wem erfahre ich Verbundenheit? Wie kann ich diese Verbundenheit intensiver gestalten? Wie kann ich in dieser Verbundenheit etwas bewirken? Können wir gemeinsam etwas was tun, was uns gegenseitig hilft oder anderen?
Sind es nur Menschen, die mich das Gefühl von Verbundenheit spüren lassen, oder gibt es da anderes, was mir dieses Gefühl schenkt? Und die entscheidende Frage: Mit wem oder was will ich mich überhaupt verbinden? Welche Schritte muss ich tun?
4. In welchem Tun finde ich Sinn? Und bevor wir uns tief in der Sinnfrage verfangen, genügt die Frage: Welche kleinen Dinge geben mir das Gefühl von Sinn? Was kann ich tun, was sich für mich sinnvoll anfühlt in diesem Moment, Moment für Moment, immer wieder? Was mache ich wenn der große Sinn, den ich hatte, gerade nicht lebbar ist? Welche lebbaren Alternativen gibt es für mich?
5. Was schenkt mir das Gefühl von Selbstwirksamkeit? Wo kann ich etwas bewegen? Auch das muss nicht das ganz große Ding sein. Wo kann ich in meinem Alltag Dinge bewegen, die mir ein Gefühl geben von: Super, was du heute geschafft hast! Oder: Schön wie du kleine Schritte machst auf dein Ziel hin, was immer es auch sein mag. Oder: Gut, wie du für dich sorgst!
Wenn wir etwas über uns selbst hinaus tun wollen, können wir uns fragen: Was, wie und wo kann ich etwas für andere tun, was mir selbst Freude macht, wo ich das Gefühl habe etwas zu bewirken?
Wenn wir all diese Fragen beantworten, werden wir erkennen, dass wir selbst in Zeiten in denen das Außen wenig Freude und Wohlbefinden bietet, ganz viel haben, was wir aus unserem eigenen Inneren heraus an Wohlbefinden in unser Leben holen können.
Auch das ist Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Sinngebung und positiven Emotionen. Wir sind alle so viel mehr als wir denken. Wir müssen es nur zulassen, es zu sein. Da ist etwas sehr Wertvolles, was uns diese Krise lehren kann: Wir sind mehr als wir glaubten zu sein und viel weniger abhängig von dem, was uns wichtig erschien.
Ich für meinen Teil habe bis jetzt aus der Krise gelernt: Ich bin abhängiger als ich dachte, aber ich bin unabhängiger, als ich es mir je träumen ließ.
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