Foto: A. Wende
Ohnmacht: rare Phase von totalem Bewußt-Geworden-Sein.
Andreas Egert
Nach einem Jahr Pandemie geht es den meisten von uns nicht gut. Die Erschöpfung und die Überlastung werden größer, bei vielen liegen die Nerven blank und das Konfliktpotenzial unter den Menschen steigt. Wie geht das weiter, wie lange halten wir diese Erschöpfung noch aus bis wir innerlich ausgebrannt sind oder gar seelisch und körperlich erkranken?
Wie lange ist ein Leben im Katastrophenzustand aushaltbar ohne an die Substanz zu gehen? Diese Frage stellen sich viele Menschen.
Jeden treffen die Auswirkungen der Pandemie auf irgendeine belastende Weise. Jeder hat seine eigenen Probleme und jeder geht mit dem Ausnahmezustand anders um. Wie dieser Umgang aussieht hat viel mit den individuellen Lebensbedingungen zu tun. Je ärmer Menschen sind, je hoffnungsloser der Blick auf die Zukunft ist, je größer die Verluste, desto schwerer trifft es sie in allen Lebensbereichen. Es ist leichter das Schwere zu tragen, wenn Existenzangst und Existenzverlust nicht treffen. Wer sich finanziell abgesichert auf seine persönliche Insel zurückziehen kann, in der alles zur Verfügung steht, was er braucht, der wird die Sorgen und Nöte der am härtesten Betroffenen nicht nachvollziehen können. Was aber alle Menschen eint ist eine tiefe Erschöpfung gepaart mit dem Gefühl von Abhängigsein und Ausgeliefertsein.
Wir sind müde. Müde vom Hoffen, müde vom Aushalten, müde von der Sehnsucht nach Besserung der Lage, müde von den Einschränkungen, müde von der Angst und müde von der Ungewissheit. Wir trauern um den Verlust unserer alten Normalität und fürchten uns vor dem was noch kommt. Mit all diesen Gefühlen verwoben ist eine subtile Wut, die am liebsten herausschreien würde: Es reicht jetzt!
Wenn sich Erschöpfung, Trauer und Wut mischen, entsteht ein ungesunde emotionale Melange in der Seele, die auf Dauer zermürbt.
Es kommt zu einem tiefen Gefühl von Ohnmacht. In der Ohnmacht fühlen wir uns ausgeliefert, macht- und hilflos. Ohnmacht ist das Gefühl das eigene Leben nicht mehr beeinflussen zu können. Dem Erleben von Selbstbestimmung und Ich-Orientierung steht auf der unbewussten Seite das verdrängte Erleben von Hilflosigkeit gegenüber. Ohnmacht bedeutet: Kontrollverlust.
Wie fühlt sich diese psychologische Ohnmacht an?
Machtlosigkeit kann bei jedem, je nach psychischer Struktur und Charakter, andere Gefühle auslösen. Beim einen sind das Trauer, Resignation und Depressivität, beim anderen sind es Angst, Aggression und Wut.
Ohnmacht ist das am meisten abgewehrte und verdrängte Gefühl. Es ist so unangenehm und existentiell bedrohlich, dass Menschen alles Mögliche zu glauben und zu tun bereit sind, um das Gefühl von Kontrolle zurückzugewinnen mittels der unterschiedlichsten Bewältigungsmechanismen.
Für manche erhöht sich das Gefühl von Kontrolle bzw. der eigenen Wirksamkeit, indem sie ihre wütende Ohnmacht in Macht umwandeln. Das kann soweit gehen, die Macht über andere erlangen zu wollen, was sich bis zur Gewaltausübung steigern kann. Ohnmächtige Wut hat ihr Ziel nicht in der zielgerichteten Vernichtung eines konkreten Feindes, sie ist viel vager, aber auch viel destruktiver gegen die Außenwelt gerichtet. Sie entlädt sich unkontrolliert an den verschiedensten Stellen, was man am steigenden Aggressionspotenzial im Netz und angesichts des immer respektloseren und feindlicheren Miteinanders der Menschen beobachten kann.
Andere wiederum fallen in depressive Passivität. Nach dem Motto: „All i can do is sit and wait“ versinken sie in eine träge Lähmung und verlieren jegliche Motivation und Antrieb.
Wiederum andere verfallen in erhöhte Geschäftigkeit. Hier wird das Gefühl der Ohnmacht unterdrückt, indem man besonders aktiv ist, um vor sich selbst und anderen als das Gegenteil eines ohnmächtigen Menschen zu erscheinen.
Auch der Glaube an den Faktor Zeit ist eine Form der tröstenden Rationalisierung angesichts der Erfahrung von Ohnmacht. Beim Glauben an die Zeit besteht die Erwartung, dass sich mit der Zeit schon alles regeln wird, dass Dinge, zu deren Lösung man selbst nicht fähig ist, vom Vergehen der Zeit gelöst werden.
Weitere
tröstende Rationalisierungen sind der Glaube an eine Obrigkeit, die die Dinge
schon regeln wird oder der religiös spirituelle Glaube an ein Wunder, das die Erlösung bringt.
Die Ursache all dieser Bewältigungsmechanismen ist jedoch die gleiche: Kontrollverlust.
Halten Ohnmachtsgefühle zu lange an kommt es zum Phänomen der erlernten Hilflosigkeit. Der Mensch zweifelt an der Wirksamkeit seiner Handlungen und stellt das Handeln ein. Erlernte Hilflosigkeit führt dann dazu, dass Menschen passiv bleiben, auch wenn sie wieder handeln könnten. Das Resultat ist ein Selbstgefühl absoluter Wertlosigkeit, begleitet von tiefer Angst und Sinnlosigkeit.
Erlernte Hilflosigkeit ist ein Teufelskreis, an dessen Ende das Gefühl steht, sich durch eigenes Handeln nicht aus einer Situationen befreien zu können. Der Glaube Herausforderungen aus eigener Kraft meistern können stirbt. Das anhaltende Gefühl von Ohnmacht ist der Anfang einer destruktiven Abwärtsspirale – sei es die der Gewalt, der Angst, des Ausbrennens oder der Depression.
Wie gelingt ein in produktiver Umgang mit der Ohnmacht?
Sie gelingt dann, wenn eine radikale Anerkennung der Realität stattfindet. Die äußere Wirklichkeit muss anerkannt und akzeptiert werden, ebenso wie die Grenzen des menschlich beeinfluss- und machbaren. Die Ambivalenzen, die Unwägbarkeiten und die Polaritäten des Lebens müssen akzeptiert werden. Eigene Kompensationsmechanismen und Bewältigungsstrategien dürfen hinterfragt werden. Erst wenn diese als das, was sie sind – nämlich untaugliche Versuche um die Kontrolle über das Unkontrollierbare wiederzuerlangen – bewusst geworden sind, kommt es zur inneren Bereitschaft die eigene Ohnmacht anzuerkennen. Dies führt dazu, dass die Erschöpfung, die sich im Widerstand gegen das was ist, weiter verstärkt, auflösen darf.
Ja, wir sind erschöpft, ja wir sind ohnmächtig. Und ja, es ist ok, denn das, was wir gerade erleben ist ein kollektiver Ausnahmezustand, den wir nicht ändern können. Was wir ändern können ist unsere Haltung zu dem was ist. Diese Veränderung beginnt damit uns zu erlauben, was wir fühlen und es mitzuteilen – einander, einer dem anderen. Teilen wir uns wahrhaftig mit, sind wir nicht nur authentisch und menschlich, wir schaffen Verbindung. Und das ist genau das, was wir jetzt dringend brauchen.
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