Viele Menschen stellen sich die Frage nach dem Sinn des Lebens im Alltag in der Regel nicht, solange die eigene Lebensführung nicht fragwürdig wird oder zusammenfällt wie ein Kartenhaus. Zurzeit versuchen wir jedoch alle irgendwie das Leben aufrecht zu erhalten und dem Leben auch in dieser herausfordernden Zeit einen Sinn zu geben. Denjenigen, die es aufrechterhalten können, geht es noch vergleichsweise gut, diejenigen aber, denen der existentielle Boden unter den Füßen weggezogen wird, beginnen zu verzweifeln. Sie empfinden im schlimmsten Fall einen schmerzhaften Sinnverlust.
Der Sinn des Lebens definiert sich zu einem großen Teil auch aus dem, was wir beruflich tun. Dieses Tuns sind viele Menschen jetzt beraubt.
Unsere Arbeit macht einen wesentlichen Teil unserer Identität und unseres Selbstverständnisses aus. Und das, je mehr wir mit ihr verbunden sind und je mehr wir lieben, was wir tun. Jetzt, wo viele von uns weniger zu tun haben oder nichts mehr, wird die Frage nach dem Sinn des aktuellen Lebens groß.
Nicht mehr gebraucht zu werden mit unseren Fähigkeiten und Gaben oder mit unserer Dienstleistung, fühlt sich für manche von uns an wie ein Sterben im Leben. Wir erleben den Zusammenbruch all dessen, was wir uns aufgebaut haben, das Ende dessen, wofür wir gebrannt und gelebt haben. Das ist eine schmerzhafte Zäsur. Wir haben sie nicht einmal selbst verschuldet. Wir können nicht einmal sagen: „Ich hab es verbockt und jetzt korrigiere ich die Fehler, die dazu geführt haben“. Wäre es so, hätten wir die Macht umzugestalten was nicht funktioniert. Aber so ist es nicht: Es hat funktioniert. Wir sind entmachtet, die Möglichkeiten sind uns genommen. Wir sind nicht mehr systemrelevant. Wir fühlen uns fallen gelassen und ohnmächtig.
Mit dieser Ohnmacht wächst die Angst, dass unsere berufliche Existenz unwiederbringlich zerstört ist und wir nicht mehr in der Lage sind sie wieder neu aufzubauen, weil wir finanziell ausgeblutet und alle Rücklagen verbraucht sind. Klappe zu, Affe tot. Wir müssen staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, wir werden also nicht verhungern, aber das hilft uns nicht auf der seelischen Ebene, im Gegenteil: Unsere Psyche steht vor der großen Herausforderung den Sinn unseres Lebens trotzdem aufrecht zu erhalten.
Was können wir tun, um unser Jetzt sinnstiftend zu gestalten?
Die Frage nach dem Sinn des Lebens beinhaltet die Frage nach der zweckgerichteten Bedeutung des Lebens, dem Daseinszweck. Dieser ist für jeden von uns ein anderer. Mein Daseinszweck ist es Menschen zu helfen. In der Praxisarbeit und mit meinen Texten. Das entspricht einer meiner idealen Wertvorstellungen. Würde ich das alles verlieren, müsste ich mich jetzt fragen: Wie soll ich leben, um meinen Daseinszweck zu erfüllen, wenn das was ihn erfüllt hat, nicht mehr ist? Das ist eine fast schon überwältigende Frage. Die Antwort darauf zu finden ist schwer. Das kann uns komplett überfordern.
„Warum setzen Sie eigentlich voraus, dass ein Leben, außer da zu sein, auch noch etwas haben müsste oder auch nur könnte – eben das, was Sie Sinn nennen?“ Diese Frage stellte einmal der Philosoph Günther Anders.
„Sinn ist Fülle – ein erfülltes Leben“, finde ich und dazu gehört für mich mehr als nur da zu sein. Es ist zwar schön, wenn ich in der Mediation Atemzug für Atemzug mein reines Sein spüren darf, aber ich brauche ein Warum, ich brauche ein Wozu, etwas, das über mein eigenes Dasein hinausgeht und Sinn macht. Ich will etwas bewirken und ich wage zu behaupten, wir alle wollen das – etwas bewirken und wirken. Und über das Wirken möchten wir Resonanz spüren. Viktor Frankl ging davon aus, dass die primäre Motivationskraft des Menschen ein existenzielles Streben nach Sinn im Leben sei. Und weiter sagte er: „Die Kunst des Lebens besteht darin, das Verwirklichungswürdigste unter dem jeweils Möglichen zu erkennen, zu ergreifen und zu realisieren.“ Ist der verwirklichungswürdigste Sinn nach dem wir gestrebt haben und den wir realisiert haben, verloren, stehen wir erst einmal vor dem Nichts. Die Empfindung völliger Sinnlosigkeit des eigenen Daseins, zusammen mit einem Gefühl der inneren Leere, kann in die Depression führen oder gar in den Suizid. So weit darf es nicht kommen!
Was hilft?
Eine der großen Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach Lebenssinn ist die prinzipielle Fähigkeit des menschlichen Verstandes, einen einmal angenommenen Sinn zu hinterfragen und die Urteils- und Bewertungsperspektive zu wechseln. Damit wenden wir uns dem Relativismus zu. Der Relativismus ist ein philosophischer Ansatz bei dem es darum geht die Wahrheit von Überzeugungen, Forderungen und Prinzipien als stets von etwas anderem bedingt anzusehen und absolute Wahrheiten zu verneinen. Konkret bedeutet das, dass jede Überzeugung, jede Aussage auf Bedingungen beruht, deren Wahrheit wiederum auf Bedingungen gründet. Demnach geht der Relativismus davon aus, dass eine sichere Erkenntnis der Welt unmöglich und alles gleichermaßen wahr ist. Diese Bedingungen ermöglichen es uns unsere Überzeugungen über uns selbst und unser Sein in Welt zu verändern und neu zu formieren.
Wie geht das?
Wir wechseln die Perspektive. Wir fragen uns nicht weiter: Was macht das mit mir? Was nicht bedeutet, wir verleugnen die Gefühle, die wir ob unseres Sinnverlustes haben, wir fragen uns aber, wenn wir einen ruhigen, klaren Moment haben: Was mache ich mit dem, was jetzt ist? Was fange ich an mit dem, was mir noch bleibt? Ist es wirklich wahr, dass der Sinn meines Lebens darin besteht, was ich ein Leben lang getan habe? Und kann ich einen anderen Sinn für mich kreieren?
Wenn ich zum Beispiel meine Arbeit als Coach verliere, weil keine Klienten mehr zu mir kommen, dann schreibe ich. Ich lebe dann, wenn alle Rücklagen verbraucht sind, erst einmal von staatlicher Hilfe, aber ich habe weiter einen Sinn. Ich kann mit meinen Texten immer noch Menschen erreichen und ihnen helfen, auch wenn ich davon nicht leben kann, aber ich habe ein Warum und ein Wozu. Ich überprüfe die Überzeugung: Ich muss aber mit Menschen arbeiten!, und ersetze sie durch: Ich möchte und kann Menschen weiter erreichen.
Was mache ich aber, wenn all das nicht mehr geht?
Das führt zu den Fragen: Ist es wirklich wahr, dass der Sinn meines Lebens darin besteht, was ich ein Leben lang getan habe? Und kann ich einen anderen für mich kreieren?
Es ist nicht wahr, dass der Sinn meines Lebens nur in dem besteht, was ich ein halbes leben lang getan habe. Wo also kann ich neuen Sinn für mich selbst kreieren?
Wie gestalte ich meine Tage so, dass mein Leben für mich selbst lebenswert ist?
Was brauche ich wirklich um darin einen Sinn zu finden?
Was könnte mir Sinn geben, wenn all das, was ich zuvor dafür getan habe, nicht mehr möglich ist?
In meinem Fall heißt das: Kann ich einen Sinn darin finden mich mehr mir selbst zuzuwenden, anstatt anderen zu helfen?
Hilft es mir den Focus mehr auf mich selbst zu legen, statt auf andere.
Texte für mich zu schreiben anstatt für andere?
Mich mehr körperlich bewegen, statt geistig.
Mich mehr ausruhen, lesen, malen, spazieren gehen, mir gut tun, anstatt immer anderen gut zu tun?
Erst mal ...
Das sind sinnvolle Fragen, die wir uns stellen können. Fragen, die uns neue Wahrheiten finden lassen, neue Werte und mit der Zeit einen neuen Sinn. Ob dieser dann trägt zeigt sich, wenn wir im Sinne dieser neuen Sinngebung eine Weile leben und nicht mehr am Alten festhalten. Und wer weiß, vielleicht hat uns der Relativismus auch nur geholfen eine schwere Zeit zu überstehen und was wir lieben, kommt zu uns zurück.
Zuvor ist Trauerarbeit angesagt. Diese braucht ihre Zeit. In dieser Zeit dürfen wir sehr mitfühlend mit uns selbst sein, uns nicht drängen, wir dürfen geduldig mit uns sein.
Und irgendwann kommt ein Tag an dem wir mit dem was ist einverstanden sind und beim Morgenkaffe lächeln anstatt zu weinen. Wir beginnen die Welle des Lebens zu reiten, vorangetrieben vom ewigen Fluss der Veränderung. Eine lebensverändernde Welle, die uns hilft aus alten Überzeugungen auszubrechen und abgelebte Identitäten zu verlassen, frei von der Angst unser Leben so zu leben wie es auch sein könnte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen