Samstag, 7. November 2020

Heilsame Nächstenliebe

 

                                                                Malerei: A. Wende

 
Das Erleben eigener Gefühle empfinden wir viel intensiver als die Erzählungen anderer darüber wie sie sich fühlen. Kein Mensch ist in der Lage genau zu fühlen, was ein anderer fühlt, da kann die Empathie noch so hoch sein. Gefühle sind zutiefst persönlich. So empfindet jeder Mensch z. B. Angst anders. Allein körperlich sind die Symptome schon verschieden spürbar. Dem Einen schnürt es die Kehle zu, der Andere hat ein Grummeln im Bauch, der Nächste spürt sein Herz schneller schlagen.
Mit unseren Gefühlen sind wir allein. Wir können es anderen nur schwer vermitteln, wie sich das anfühlt, was wir gerade fühlen, auch wenn wir wahre Wortkünstler sind. Dabei wünschen sich viele von uns, der andere möge uns fühlen, damit wir endlich verstanden werden und damit wir das Gefühl haben unsere Gefühle teilen zu können, weil wir dann nicht mehr allein damit sind – so fühlen wir uns angenommen und getröstet. 
 
Viele Menschen haben diese große Sehnsucht nach dem gemeinsamen Fühlen, nach einer Seele, die mit der eigenen Seele gleich schwingt. Sie reden von Seelenverwandtschaft, vom Seelenpartner – aus der Sehnsucht geborene Wünsche endlich in der eigenen Gefühlswelt nicht mehr allein zu sein.
Ja, das klingt schön und ja, für Momente in der Zeit haben manche von uns dieses Gleichschwingen zweier Seelen schon empfunden, aber dauertüchtiges gleiches Fühlen gibt es nicht. Es ist eine Illusion. Eine schöne Illusion, die wir uns nicht zerstören lassen wollen und das ist okay.
C. G. Jung schrieb einmal sinngemäß, was einsam macht ist nicht das Alleinsein, sondern nicht verstanden zu werden und seine Gefühle nicht teilen zu können. Einsam macht keinen Adressaten zu finden, der die Botschaft der Seele in ihrer Tiefe gefühlt decodiert. Das ist der Grund für die innere Einsamkeit, die viele von uns empfinden, auch wenn sie unter oder mit Menschen sind. 
 
Menschen, die unter psychischen Störungen leiden, leiden auch darunter, dass ihre Angehörigen oder ihre Freunde nicht nachfühlen können, wie sie sich selbst oder das Leben empfinden.
Es wäre für sie eine große Entlastung sich nicht immer wieder erklären oder gar rechtfertigen zu müssen, dass sie gerade nicht anders fühlen können, als sie fühlen.
Je mehr Unverständnis ihnen entgegengebracht wird, dass sie zum Beispiel zum dritten Male in einer Woche eine Verabredung absagen müssen, weil die Depression sie nicht vor die Tür gehen lässt, desto mehr ziehen sich diese Menschen in sich selbst zurück. Sie schämen sich, weil sie die normalsten Erwartungen nicht erfüllen können, weil die normalsten Dinge für sie nicht machbar sind.
Es macht Druck sich immer wieder erklären zu müssen. Im schlimmsten Falle fühlen sie sich als Versager, weil sie sozial nicht mehr kompatibel sind und Dinge nicht im Griff haben, die für andere überhaupt kein Problem darstellen. Das macht alles noch schlimmer als es ist. Irgendwann treten sie den Rückzug an, denn sie wollen andere nicht mehr belasten. Sie wollen die anderen nicht in Hilflosigkeit versetzen, angesichts des Scheiterns aller gut gemeinten Hilfsangebote.
„Komm endlich raus aus deinem Loch, deine Angst ist wirklich nicht mehr nachvollziehbar, deine Panik ist unangemessen, deine Trauer dauert schon zu lange. Du musst es nur wollen, dann schaffst du das.“ All das sind Sätze, die für Menschen mit seelischen Problemen wie ein Vorschlaghammer mit Wucht auf das einschlagen, was sie sowieso schon wissen. 
 
Es wissen hilft ihnen nicht, denn sonst würde es ja helfen!
Was aber hilft diesen Menschen, außer einem guten Therapeuten, der ja auch nicht rund um die Uhr verfügbar ist?
Es hilft sie in ihren Gefühlen anzunehmen und zwar ohne diese zu bewerten oder Ratschläge zu geben. Das macht Druck.
Es hilft Mitgefühl zu zeigen und zu sagen: Okay, wenn dir das jetzt nicht möglich ist, vielleicht gelingt es dir ein anderes Mal, ich bin da. Das lässt Möglichkeiten offen und entlastet.
Es hilft sie reden zu lassen, sie ihre Gefühle ausdrücken zu lassen und einfach nur zuzuhören. Das entlastet und vermittelt das Gefühl nicht allein zu sein.
Es hilft ihnen sie sein zu lassen, so wie sie in diesem Moment sind und dieses Sosein zu achten. Das schenkt Wertschätzung, wo gerade die eigene Wertschätzung für sich selbst fehlt.
Und es hilft zu fragen: Was kann ich jetzt für dich tun?
Wir müssen die Gefühle anderer nicht fühlen, wir können es nicht, aber wir können sie ernst nehmen und damit achten wir diesen Menschen.
Die Botschaft ist dann: So wie du fühlst, so wie du dich gerade fühlst, bist du für mich okay. Ich hab dich lieb. Und ich muss jetzt auch nicht versuchen deine Gefühle bei dir wegzumachen, weil ich das gar nicht kann. Ich kann das aber aushalten mit dir.
Das ist Nächstenliebe für mich. Diese Nächstenliebe kann Gefühle bei dem, der sie empfängt verändern. Und damit ist sie heilsam.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen