Dienstag, 24. November 2020

Selbstbestimmtheit oder der Wille zum Sinn

 

                                                                 Foto: A. Wende

 
Es ist Zeit umzudenken.
Es ist Zeit endgültig anzuerkennen, dass es nicht mehr wird wie es war. Die Welt hat sich radikal verändert. Persönliche Freiheit, Selbstbestimmung, das unendliche Meer von Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, einst Selbstverständlichkeiten, all das gerät ins Wanken oder ist bereits beschnitten. Wie lange noch? Keiner von uns weiß es.
Das Leben ist ein anderes geworden. Aber wir hinken emotional und mental hinterher. Das veränderte Leben im Außen, sucht noch die Anpassung des Inneren.
Der Blick in die Zukunft sieht für viele von uns nicht gerade rosig aus. Denn was wird, was werden wir errichten können auf den Trümmern unserer Verluste?
Sind wir soweit der Realität mutig und gefasst ins Auge zu blicken und zu akzeptieren: Es ist wie es ist.
Schwer, denn da ist eine ganze Welt zusammengebrochen, da sind Säulen weggebrochen, die uns getragen haben, da wankt der Boden auf dem wir sicher gingen.
 
Viele von uns sind noch immer in der Phase der Leugnung.
Aber können wir noch leugnen was ist, wenn nichts mehr ist wie es war und wir es Tag für Tag am Leib und Seele erleben?
Wir können es, aber es hilft uns nicht weiter.
Was jetzt?
Was machen wir mit dem, was uns bleibt?
Was gibt es neu zu finden, wo vieles verloren ist, was wir liebten und als wichtig und lebenswert erachtet haben?
Unsere Selbstachtung und unsere Eigenliebe vielleicht?
Wer sich selbst achtet und sich selbst gegenüber fürsorglich und achtsam ist, wird leichter Frieden schließen mit dem was ist.
Aber hilft uns das auf allen Ebenen unseres Seins?
Wo bleibt die Selbstbestimmung, die in diesen Zeiten an massive Grenzen stößt?
Wo bleiben die Möglichkeiten uns als ganzer Mensch zu erfahren und zu entfalten und dazu gehört eben auch das lebendige Leben, das Miteinander leben, das Teilen, die Nähe und die Berührung. Dazu gehört auch das Ausüben unseres Berufes, dazu gehört das Entfalten unserer Potenziale, unsere Kreativität und unser Schöpfertum, das an äußere Grenzen stößt.
Wir können nicht mehr wollen, was wir können und wir können nicht mehr tun, was wir wollen. Viele von uns können nicht einmal mehr tun, was sie können, weil es verboten ist oder nicht mehr gebraucht wird im Jetzt.
Und was, wenn es nie mehr gebraucht wird?
Oder wenn es zerstört ist, wenn es wieder gebraucht wird und uns die Mittel fehlen es neu aufzubauen?
Wir müssen umdenken.
Was können wir noch tun, was erreichen und wie wollen wir es umsetzen im Rahmen der Möglichkeiten?
 
Da die Ressourcen begrenzt sind, ist die Auswahl einer Teilmenge potenzieller Ziele notwendig, auf die die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen dann gebündelt werden. 
Hierzu zählt das Setzen neuer Prioritäten, die Konzentration auf zentrale Ziele und die Anpassung dieser Ziele an die jetzigen Gegebenheiten.

Dazu gehört vielleicht der Erwerb neuer Fertigkeiten, das Suchen und Finden von bisher übersehenen und ungenutzten Ressourcen, in uns selbst und im Außen, und die Integration dieser Fertigkeiten und Ressourcen in unsere weitere Lebensgestaltung.
Wir könnten uns fragen:
Welche Mittel haben wir um mit Verlusten umzugehen?
Wie kompensieren wir beispielsweise den Verlust des Arbeitsplatzes, wenn sich ein Neuer nicht finden lässt und wir plötzlich von Hartz IV leben müssen?
Wie kompensieren wir den Verlust unserer selbstständigen Tätigkeit?
Was fangen wir an mit all der Zeit, die zu füllen ist?
Was tun wir, wenn wir Menschen, Dinge und Vertrautes verloren haben?
Was, wenn wir gar bei Null anfangen müssen?
Wie wollen und können wir den Verlust äußerer und innerer Ressourcen bewältigen?
Was können wir optimieren?
Was muss neu gefunden werden um unser Wohlbefinden zu erhalten oder um es wieder zu gewinnen?
Wo finden wir Sinn?
Das sind wesentliche Fragen, die uns das Jetzt stellt.
 Viele von uns finden keine, unbefriedigende oder nur wenige Antworten. Manche sitzen da und warten. Worauf? Dass es wieder so wie früher wird. Während sie warten, bricht immer mehr weg von dem, was ihr Leben war. Und sie werden immer hoffnungsloser und tatenloser.
 
Wenn wir tatenlos warten verzichten wir auf den letzten Rest unserer Selbstbestimmtheit.
Was also können wir tun um selbstbestimmt zu leben?
Viktor Frankl sagte einmal: „Wenn wir eine Situation nicht mehr ändern können, sind wir aufgefordert, uns selbst zu ändern.“ Er sagte auch, dass das Leben zu jeder Zeit und in jeder Situation einen bedingungslosen Sinn hat und diesen auch unter keinen Umständen verlieren kann.
Wir sind, folgen wir Frankl, mehr denn je aufgefordert uns und unserem Leben selbst einen Sinn zu geben. Und dieser muss, weil das Leben sich verändert hat, für viele von uns aufs Neue erspürt und gefunden werden. 
 
Da wir uns als Menschen nicht allein über die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse definieren, sondern über sie hinausgehen müssen, um so etwas wie Sinn zu finden, liegt dieser Sinn jetzt meines Erachtens darin uns Werte zu setzen, die über materielle Werte hinausgehen.
Insofern stellt sich der gestalttherapeutische Ansatz Frankles gegen Maslow und dessen Bedürfnispyramide, welche ja davon ausgeht, dass zuerst die vitalen Grundbedürfnisse erfüllt sein müssen, um an so etwas wie die Sinnfrage überhaupt erst denken zu können.
Für Frankl ist es der Wille zum Sinn, der den Menschen leidensfähig macht, der es ihm ermöglicht zu verzichten und seine momentan vorhandenen Lustbedürfnisse hinten an zu stellen. Hier zitiert Frankl Friedrich Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“.
Was, könnten wir uns jetzt fragen, ist unser Warum? Und: Wie gestalten und integrieren wir unser Warum in unser Leben, um unsere Selbstbestimmtheit zu erhalten oder sie wiederzuerlangen.

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