Mittwoch, 26. Dezember 2012

Ich wünsche euch Mut ...


"Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein." Diese Zeilen schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Franz Xaver Kappus. Das sind wunderbare Worte an einen jungen Freund, der dem Dichter am Herzen lag, dem er Zuversicht vermitteln wollte und die Kraft sich zu entfalten und Mut, das zu leben, was in ihm war und leben wollte.

Was ist Leben? Das fragten sich junge Menschen damals und sie fragen es sich heute.
Ganz einfach: Leben ist alles. Und wenn Leben alles ist, bedeutet das – alles ist möglich. Das Geschenk, das uns das Leben macht, sind Möglichkeiten. Jeden Tag aufs Neue. Aber es braucht offene Augen und Herzen, um sie zu sehen, es braucht Zuversicht, um an sie zu glauben und Mut sie auch zu nutzen. Aber mit dem Mut ist das so eine Sache. Rilke hatte ihn und sein Freund Kappus hatte ihn. Viele kreative Menschen haben Mut. Das macht sie aus. Sie haben den Mut gegen alle Widerstände – von innen und von außen – sie selbst zu sein, sich selbst zu verwirklichen und damit auch der Welt etwas zu geben. Menschen wie Rilke haben mutig das getan, was möglich war. Sie haben ihre Potentiale und Begabungen erkannt, ihren Träumen vertraut und ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Das ist Schöpfertum. Dass das nicht immer leicht war, haben sie als selbstverständlich akzeptiert. Auch das Schwere. Das war 1903. Aus jener Zeit stammt dieser Brief.

Wir schreiben das Jahr 2013 und wir haben eine neue Jugend.
Was ist mit ihrem Mut? Haben unsere Jugendlichen überhaupt Mut? Haben sie Träume und den Mut, sie zu leben? Wissen sie um ihre Begabungen und suchen sie einen Weg, sie zu vervollkommnen und zu entfalten? Jeder Mensch hat Begabungen und Träume. Und mancher hat den Mut, sie zu leben. Die meisten aber haben mehr Angst als Mut. Und lassen sie zugrunde gehen, ihre Begabungen und Träume, bevor sie jemals leben durften.

Alle acht Jahre befragen Kölner Forscher im Auftrag des Marktforschungsinstitutes Rheingold in psychologischen Interviews junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren zu ihren Lebenseinstellungen. Das Ergebnis der jüngsten Studie sieht so aus: Unsere Jugend ist ausgrenzend und anpassungswillig. Ich zitiere: „Das Fehlen eines klaren und richtungsweisenden politisch-gesellschaftlichen Zukunftsbildes verstärkt die Unsicherheit und die Zukunftsangst der jungen Generation. Sie weiß einfach nicht, wofür sie in dieser Welt eigentlich gebraucht wird. Immer mehr Jugendliche flüchten sich in diffuse Superstarphantasien. Vor allem die 16- oder 17jährigen träumen davon, dass in ihnen verborgene Talente schlummern, die irgendwann einmal von den Medien entdeckt werden.“

Flucht also in die höchsten Höhen, bevor das Naheliegende überhaupt versucht wird. Damit es erst gar nicht versucht werden muss? 
Warum? Weil da die feste Überzeugung herrscht, es wird ja doch nichts aus meinem Traum. Aus der Traum vom Superstar wird sicher bei den meisten nichts, aber was ist mit den kleinen Träumen, all den kleinen Talenten? Daran wird gar nicht gedacht. Groß wird gedacht, und wenn das Große nicht erreicht wird, ist die Enttäuschung groß. „Noch nie waren die Jugendlichen so zaghaft, ziellos und unentschlossen im Hinblick auf eine mögliche Berufswahl“, so die Studie weiter. Und noch weiter: „Die meisten Jugendlichen warten erst einmal ab und halten die definitive Berufswahl sehr lange offen. Sie verlängern ihr Bleiberecht im Elternhaus. Sie jobben hier und da und hoffen, dass über ein Praktikum irgendwann die Begeisterung für ein Berufsfeld erwacht oder man zumindest einen ersten Einstieg findet.“ Eigeninitiative? Keine Spur! Denn sie wissen nicht, was sie wollen. Und weil sie nicht wissen, was sie wollen, versuchen sie erst gar nicht zu wollen. Größer als der Versuch etwas zu tun ist die Angst. Genauer – die Absturzangst. Und wer Angst hat abzustürzen, wird niemals fliegen.

Man stelle sich einen kleinen Vogel vor, der längst flügge geworden ist und vor lauter Angst seine kleinen Flügel zu entfalten, das Nest nicht verlässt. Er wird verhungern, denn die Vogelmutter wird ihn nicht mehr füttern. Die meisten Eltern in unserem Lande aber füttern ihre Kinder weiter, auch wenn sie längst flügge geworden sind. Damit begehen sie einen Kardinalfehler. Denn wer ewig gefüttert wird, lernt nie, sich selbst zu versorgen. Und er bekommt immer mehr Angst, es nicht alleine zu schaffen. Klar, weil er es ja nicht gelernt hat.

Angst lähmt. Und unsere Jugend ist gelähmt wie die meisten Erwachsenen. Sie ist haltlos, weil sie zu sehr gehalten wird, weil sie gepampert wird, auch wenn sie längst den Windeln entwachsen ist.
Das tut nicht gut, wie die Studie und das Leben zeigen. Das führt dazu, dass junge Menschen sich in einen narzisstischen Kokon verpuppen. Sie schaffen sich eine eigene, scheinbar heile Welt, die über den vertrauten Kreis von Familie und einigen wenigen Freunden, nicht hinauskommt. Das ist eine enge Welt, eine sehr enge Welt. Und sie bleibt es, trotz der vielen „Freunde“ in Facebook oder Schüler VZ. Nichts ist enger als eine virtuelle Realität. Sie ist Schein, kein Sein. Und Schein  ist nicht das Leben. Leben ist Bewegung und nicht mit dem Hintern vorm PC sitzen.

Scheinbares ist gefühlt brüchig, Scheinbares gibt keinen Halt, Scheinbares ist flüchtig und im Scheinbaren zu leben ist eine Flucht.
Wovor eigentlich? Vor der bösen Welt da draußen? Es ist wahr, die Zukunftsaussichten für junge Menschen sind nicht ideal. Sie sind sogar ziemlich mies. Aber ist es nicht viel mieser sich dieser Zukunft zu verweigern. Und fühlt es sich nicht mies an, sich zu verstecken vor dem Leben, vor sich selbst und den eigenen Begabungen und Fähigkeiten, der eigenen Kreativität, der eigenen Kraft und den unzähligen Möglichkeiten da draußen, und es nicht einmal zu versuchen den Sprung zu wagen?

Ist die Angst wirklich so groß oder ist es einfach Bequemlichkeit?
Ist es möglich, dass nicht nur aus Angst, sondern auch aus Bequemlichkeit Qualifikationen wahllos und schematisch angehäuft werden? Nicht aus Liebe zur Sache wird eine Ausbildung begonnen, wissen die Forscher der Studie aus hunderten von Interviews mit jungen Menschen. Das ist traurig und es ist genau das, was an den Alten verachtet wird, das Funktionieren um des Funktionierens willen, um des Status Willen oder eines fragwürdigen erfolgreichen Lebens Willen -  ohne Lust und Liebe zum eigenen Tun.

Wie wäre es, es den Alten endlich mal zu zeigen und es anders zu machen?
Es genauso machen, das kann nichts werden. Denn wer etwas nur tut, damit er eine scheinbare Sicherheit erlangt, wer einen Weg wählt, der ihm nicht entspricht, der wird nicht froh und by the way, schon gar kein Superstar in seinem Fach. Er wird höchstens unglücklich.

Aber was ist die Lösung?
Mut. Das ist die Lösung. Und Mut bedeutet, sich mit sich selbst zu beschäftigen, herauszufinden, was man wirklich will und was man am Besten kann. Und dann mutig dazu zu stehen und es versuchen. Mut heißt: seinen Weg zu suchen, anstatt sich an vermeintliche Sicherheiten zu klammern. Es gibt nämlich keine Sicherheit im Leben. Weder 1903 gab es die noch heute. Und kommt es darauf an? Ich sage nein, denn das Leben hat die Eigenschaft unsicher zu sein. Das Leben lässt sich nicht berechnen. Das einzig Sichere ist die Veränderung, und das Einzige, was uns ganz sicher gehört, ist das, was in uns selbst steckt, was uns von Innen hält, wenn alles andere wegfällt.

Hand aufs Herz, wollt ihr Jungen, das was ihr an den Alten verachtet, endgültig ins eigene Leben lassen und euch am Ende gar selbst verachten, oder habt ihr den Mut euer eigenes Leben zu gestalten? Ihr habt die Kraft! Ich wünsche mir für Euch und für diese Welt, dass ihr endlich anfangt, an Euch zu glauben, mutig die Flügel auszubreiten und zu fliegen. Auch auf die Gefahr hin, einmal abzustürzen. Es gibt Schlimmeres. Ich weiß es aus eigener Erfahrung.




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