"Sie
sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann,
bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und
zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie
Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt
nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie
nicht leben könnten. Und es
handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht
leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort
hinein." Diese
Zeilen schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke in einem Brief an seinen Freund,
den Schriftsteller Franz Xaver Kappus. Das sind wunderbare Worte an einen
jungen Freund, der dem Dichter am Herzen lag, dem er Zuversicht vermitteln
wollte und die Kraft sich zu entfalten und Mut, das zu leben, was in ihm war und
leben wollte.
Was
ist Leben? Das fragten sich junge Menschen damals und sie fragen es sich heute.
Ganz
einfach: Leben ist alles. Und wenn Leben alles ist, bedeutet das – alles ist
möglich. Das Geschenk, das uns das Leben macht, sind Möglichkeiten. Jeden Tag
aufs Neue. Aber es braucht offene Augen und Herzen, um sie zu sehen, es braucht
Zuversicht, um an sie zu glauben und Mut sie auch zu nutzen. Aber mit dem Mut
ist das so eine Sache. Rilke hatte ihn und sein Freund Kappus hatte ihn. Viele
kreative Menschen haben Mut. Das macht sie aus. Sie haben den Mut gegen alle
Widerstände – von innen und von außen – sie selbst zu sein, sich selbst zu
verwirklichen und damit auch der Welt etwas zu geben. Menschen wie Rilke haben
mutig das getan, was möglich war. Sie haben ihre Potentiale und Begabungen
erkannt, ihren Träumen vertraut und ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Das ist
Schöpfertum. Dass das nicht immer leicht war, haben sie als selbstverständlich
akzeptiert. Auch das Schwere. Das war 1903. Aus jener Zeit stammt dieser Brief.
Wir
schreiben das Jahr 2013 und wir haben eine neue Jugend.
Was
ist mit ihrem Mut? Haben unsere Jugendlichen überhaupt Mut? Haben sie Träume
und den Mut, sie zu leben? Wissen sie um ihre Begabungen und suchen sie einen
Weg, sie zu vervollkommnen und zu entfalten? Jeder Mensch hat Begabungen und
Träume. Und mancher hat den Mut, sie zu leben. Die meisten aber haben mehr
Angst als Mut. Und lassen sie zugrunde gehen, ihre Begabungen und Träume, bevor
sie jemals leben durften.
Alle
acht Jahre befragen Kölner Forscher im Auftrag des Marktforschungsinstitutes
Rheingold in psychologischen Interviews junge Menschen zwischen 18 und 24
Jahren zu ihren Lebenseinstellungen. Das Ergebnis der jüngsten Studie sieht so
aus: Unsere Jugend ist ausgrenzend und anpassungswillig. Ich zitiere: „Das
Fehlen eines klaren und richtungsweisenden politisch-gesellschaftlichen
Zukunftsbildes verstärkt die Unsicherheit und die Zukunftsangst der jungen
Generation. Sie weiß einfach nicht, wofür sie in dieser Welt eigentlich
gebraucht wird. Immer mehr Jugendliche flüchten sich in diffuse
Superstarphantasien. Vor allem die 16- oder 17jährigen träumen davon, dass in
ihnen verborgene Talente schlummern, die irgendwann einmal von den Medien
entdeckt werden.“
Flucht also in die
höchsten Höhen, bevor das Naheliegende überhaupt versucht wird. Damit es erst
gar nicht versucht werden muss?
Warum? Weil da die feste
Überzeugung herrscht, es wird ja doch nichts aus meinem Traum. Aus der Traum vom Superstar wird
sicher bei den meisten nichts, aber was ist mit den kleinen Träumen, all den
kleinen Talenten? Daran wird gar nicht gedacht. Groß wird gedacht, und wenn das
Große nicht erreicht wird, ist die Enttäuschung groß. „Noch nie waren die
Jugendlichen so zaghaft, ziellos und unentschlossen im Hinblick auf eine
mögliche Berufswahl“, so die Studie weiter. Und noch weiter: „Die meisten Jugendlichen
warten erst einmal ab und halten die definitive Berufswahl sehr lange offen.
Sie verlängern ihr Bleiberecht im Elternhaus. Sie jobben hier und da und
hoffen, dass über ein Praktikum irgendwann die Begeisterung für ein Berufsfeld
erwacht oder man zumindest einen ersten Einstieg findet.“ Eigeninitiative?
Keine Spur! Denn sie wissen nicht, was sie wollen. Und weil sie nicht wissen,
was sie wollen, versuchen sie erst gar nicht zu wollen. Größer als der Versuch
etwas zu tun ist die Angst. Genauer – die Absturzangst. Und wer Angst hat
abzustürzen, wird niemals fliegen.
Man stelle sich einen
kleinen Vogel vor, der längst flügge geworden ist und vor lauter Angst seine
kleinen Flügel zu entfalten, das Nest nicht verlässt. Er wird verhungern, denn
die Vogelmutter wird ihn nicht mehr füttern. Die meisten Eltern in unserem
Lande aber füttern ihre Kinder weiter, auch wenn sie längst flügge geworden
sind. Damit begehen sie einen Kardinalfehler. Denn wer ewig gefüttert wird,
lernt nie, sich selbst zu versorgen. Und er bekommt immer mehr Angst, es nicht
alleine zu schaffen. Klar, weil er es ja nicht gelernt hat.
Angst lähmt. Und unsere
Jugend ist gelähmt wie die meisten Erwachsenen. Sie ist haltlos, weil sie zu
sehr gehalten wird, weil sie gepampert wird, auch wenn sie längst den Windeln
entwachsen ist.
Das tut nicht gut, wie die
Studie und das Leben zeigen. Das führt dazu, dass junge Menschen sich in einen
narzisstischen Kokon verpuppen. Sie schaffen sich eine eigene, scheinbar heile
Welt, die über den vertrauten Kreis von Familie und einigen wenigen Freunden,
nicht hinauskommt. Das ist eine enge Welt, eine sehr enge Welt. Und sie bleibt
es, trotz der vielen „Freunde“ in Facebook oder Schüler VZ. Nichts ist enger
als eine virtuelle Realität. Sie ist Schein, kein Sein. Und Schein ist nicht das Leben. Leben ist Bewegung
und nicht mit dem Hintern vorm PC sitzen.
Scheinbares ist gefühlt
brüchig, Scheinbares gibt keinen Halt, Scheinbares ist flüchtig und im
Scheinbaren zu leben ist eine Flucht.
Wovor eigentlich? Vor der
bösen Welt da draußen? Es ist wahr, die Zukunftsaussichten für junge Menschen
sind nicht ideal. Sie sind sogar ziemlich mies. Aber ist es nicht viel mieser
sich dieser Zukunft zu verweigern. Und fühlt es sich nicht mies an, sich zu
verstecken vor dem Leben, vor sich selbst und den eigenen Begabungen und
Fähigkeiten, der eigenen Kreativität, der eigenen Kraft und den unzähligen
Möglichkeiten da draußen, und es nicht einmal zu versuchen den Sprung zu wagen?
Ist die Angst wirklich so
groß oder ist es einfach Bequemlichkeit?
Ist es möglich, dass nicht
nur aus Angst, sondern auch aus Bequemlichkeit Qualifikationen wahllos und
schematisch angehäuft werden? Nicht aus Liebe zur Sache wird eine Ausbildung
begonnen, wissen die Forscher der Studie aus hunderten von Interviews mit
jungen Menschen. Das ist traurig und es ist
genau das, was an den Alten verachtet wird, das Funktionieren um des
Funktionierens willen, um des Status Willen oder eines fragwürdigen
erfolgreichen Lebens Willen - ohne
Lust und Liebe zum eigenen Tun.
Wie wäre es, es den Alten
endlich mal zu zeigen und es anders zu machen?
Es genauso machen, das kann
nichts werden. Denn wer etwas nur tut, damit er eine scheinbare Sicherheit
erlangt, wer einen Weg wählt, der ihm nicht entspricht, der wird nicht froh und
by the way, schon gar kein Superstar in seinem Fach. Er wird höchstens unglücklich.
Aber was ist die Lösung?
Mut. Das ist die Lösung. Und
Mut bedeutet, sich mit sich selbst zu beschäftigen, herauszufinden, was man
wirklich will und was man am Besten kann. Und dann mutig dazu zu stehen und es
versuchen. Mut heißt: seinen Weg zu suchen, anstatt sich an vermeintliche
Sicherheiten zu klammern. Es gibt nämlich keine Sicherheit im Leben. Weder 1903
gab es die noch heute. Und kommt es darauf an? Ich sage nein, denn das Leben
hat die Eigenschaft unsicher zu sein. Das Leben lässt sich nicht berechnen. Das
einzig Sichere ist die Veränderung, und das Einzige, was uns ganz sicher
gehört, ist das, was in uns selbst steckt, was uns von Innen hält, wenn alles
andere wegfällt.
Hand aufs Herz, wollt ihr
Jungen, das was ihr an den Alten verachtet, endgültig ins eigene Leben lassen
und euch am Ende gar selbst verachten, oder habt ihr den Mut euer eigenes Leben
zu gestalten? Ihr habt die Kraft! Ich wünsche mir für Euch und für diese Welt,
dass ihr endlich anfangt, an Euch zu glauben, mutig die Flügel auszubreiten und
zu fliegen. Auch auf die Gefahr hin, einmal abzustürzen. Es gibt Schlimmeres.
Ich weiß es aus eigener Erfahrung.
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