Montag, 26. August 2024

Aus der Praxis: Was Trennungsschmerz mit einer beschädigten Kindheit zu tun hat

 

                                                                      Foto: Pixybay

 
„Es gibt keinen Sinn mehr. Das ist niemand mehr für den ich Bedeutung habe. Niemand, der mir beim Leben zusieht. Niemand, der liebend seine Augen auf mich legt, mit dem ich reden kann, der mich versteht, der die Dinge mit mir teilt, niemand, der mich hält, da ist nur ein menschenleerer Raum, immer nur ich. Ich bin mutterseelenallein.
Was soll ich hier noch? Den Rest meiner Tage in diesem Schmerz, dieser Trauer, dieser tiefen verlassenen Einsamkeit vor mich hinleben? Das ist kein Leben. Das ist ein Gefängnis. Da geht jeder Mensch irgendwann zugrunde. Ich will nicht mehr leben, aber werde mich nicht töten, dazu bin ich zu feige. Aber so kann ich nicht mehr leben. Ich bin so allein mit meinen Gedanken und Gefühlen. So allein ohne ihn. Ich gehe zugrunde. Es tötet mich. Langsam aber sicher.
Egal was ich versuche, egal wie oft ich rausgehe, egal was ich mache, ich bin einsam, auch unter Menschen. Ich gehe immer weniger raus, ziehe mich immer mehr in mich selbst zurück. Und den ganzen Tag ist da Angst, dass dieser Schmerz niemals aufhört. Meine Kraft ist aufgebraucht, meine Zuversicht ist aufgebraucht, meine Hoffnung auf ein besseres Leben ist aufgebraucht. Weil es schon so lange so ist. Ich will mich selbst nicht mehr. Ich will diese gebrochene Frau nicht mehr, die nur noch um sich selbst kreist und sich nicht findet.
Wer bin ich jetzt – allein in der Welt? Ein bedeutungsloses Nichts bin ich ohne ihn. Ich habe ihn geliebt und es hat mich zerbrochen.“ 
 
Meine Klientin ist verzweifelt. Ihre große Liebe hat sie nach langen gemeinsamen Jahren betrogen und verlassen. Sie kämpft seit Monaten mit dem Trauma des Betrugs und der verlorenen Liebe. Nichts hilft. Es wird nicht besser. Sie kann die Trennung nicht verarbeiten.
Liebeskummer tut weh. Trennung tut weh.
Das ist ein tiefer emotionaler Schmerz, den wir sogar körperlich spüren. Es ist, als sei etwas von uns abgerissen. Das Herz ist gebrochen, obwohl es noch schlägt. Es gibt keine Medizin, keinen Verband, der es schnell wieder heilen lässt und manchmal scheint es, als würde das gebrochene Herz nie mehr heilen. Der Liebeskummer nimmt kein Ende.
Die Schwere des Liebeskummers ist von Mensch zu Mensch verschieden. Bei meiner Klientin ist er übermäßig, alles beherrschend, er nimmt ihr ganzes Denken und Fühlen ein.
Sie findet in nichts Trost. 
 
Lena, so nenne ich sie hier, ist in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Der Vater war Choleriker, die Mutter emotional kalt. Liebe, Geborgenheit und Halt hat Lena seitens der Eltern nie erfahren. Im kalten Milieu der Familie gab es kein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. Die Eltern lagen ständig im Streit. Lena war schon früh sich selbst überlassen. Der Mann, der sie verlassen hat, gab ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl verstanden und geliebt zu sein. „Ich dachte, endlich bin ich zuhause angekommen“, sagt Lena. Und dann bricht dieses Zuhause zusammen. Er geht und Lena ist wieder auf sich selbst reduziert, wie damals als Kind. Dieses Kind fühlt: Ich werde niemals geliebt sein, ich werde niemals zuhause ankommen. Mit dem Verlust des geliebten Menschen stürzt Lenas ganze Welt ein. Nichts geht mehr. Der alte Schmerz der Kindheit legt sich zum neuen Schmerz und macht ihn unendlich groß. Die beschädigte Kindheit bekommt einen weiteren Schaden. Das verlassene Kind übernimmt die Macht über alle anderen inneren Teile. „Niemals“ wird es geliebt werden. Und wenn, kann es der Liebe nicht trauen, es wurde wieder ja verlassen. Es ist ja wieder ungeliebt. Es hat das Gefühl es muss sterben. 
 
Es ist allein und verlassen wie das Kind in Büchners Woyzeck:
Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an, und wie's endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz, und da ist es zur Sonn gangen, und wie's zur Sonn kam, war's ein verreckt Sonneblum, und wie's zu den Sterne kam, waren's klei golde Mück, die waren angesteckt wie der Nuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein.“ 
 
Herzzerreisende Worte. Worte die mir einfallen, während ich mit Lena arbeite. Worte, die die existenzielle Not beschreiben in der sie sich befindet, den durchdringenden Schmerz, die tiefe Verlassenheit aus Kindertagen und die damit einhergehende Angst, die die Trennung nach Oben bringt. Lena fühlt sich auf eine schreckliche, tiefe Weise verlassen. Weil das Gefühl so tief sitzt, weil es so alt ist wie sie selbst, hat es diese enorme Wucht.
Ich fühle die seelische Katastrophe in welche sie die Trennung gestürzt hat.
 
Die Schwere der Trennung reaktiviert ein altes Trauma: die Schwere der Kindheit mit all dem Unheilsamen, was sie ausmachte und Lenas in-der-Welt-sein prägte, steht aus der Vergangenheit wieder auf. Das macht die Verarbeitung der Trennung so schwer, schwerer als bei Menschen, die als Kind sicher gebunden waren, die Liebe und Geborgenheit erfahren haben und Urvertrauen besitzen.
Das Schwerste für uns Menschen ist es alleine zu sein, wenn wir von einem geliebten Menschen verlassen wurden. Lena ist allein. Sie hat niemanden, der ihr wirklich nah steht. Die Beziehung war alles für sie. Und jetzt ist da Nichts. Wieder ist da nichts. Ein leerer Raum wie damals, als das Kind die Ärmchen austreckte und es keiner auf den Schoß nahm.
Lena nützen keine Tipps und keine Ratgeber, wie man den Liebeskummer schneller überwindet und heilen lässt. Nichts davon ist für sie hilfreich. Sie braucht viel mehr als das, sie braucht psychologische Unterstützung. Sie braucht eine empathische, verlässliche, tragende Beziehung um von den Wunden der ersten Beziehung in ihrem Leben zu genesen um nach und nach ein stabiles Selbst zu entwickeln. Ihr Inneres Kind muss nach Hause finden. Dieses Zuhause liegt in Lena selbst. Sie weiß das, aber sie kann es (noch) nicht fühlen. Wir machen uns nichts vor: Es ist ein langer Weg nach Hause. 
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

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