Mittwoch, 7. August 2024

Aus der Praxis: Die Sehnsucht des Opfers nach Gerechtigkeit

 

                                                                      Foto: pixybay


Im Trauma Zusammenhang sprechen wir von einem Täter, wenn ein Mensch einem anderen Menschen körperlichen oder seelischen Schaden zufügt. Der Mensch, dem der Schaden zugefügt wird, wird als Opfer bezeichnet. Ein Wort, das keiner mag und etwas, was keiner von uns sein will. Dennoch werden Menschen zu Opfern, es geschieht jeden Tag im Großen wie im Kleinen.
 
Opfer sein heißt: Wir erleben überwältigende Gefühle von Hilf- und Wehrlosigkeit, Machtlosigkeit, Demütigung und Ohnmacht aufgrund dessen, was der Täter uns zufügt. Wir erleben ein Gefühl des Unwürdigseins. Wir erleben, dass ein anderer Mensch Macht über uns hat, sie ausübt und wir nichts dagegensetzen können.
 
Viele Opfer haben das Gefühl versagt zu haben, sie verachten sich selbst für das, was ihnen widerfahren ist, für die Erniedrigung, die Schande, die sie erleben mussten, für das, was sie zugelassen haben. Sie fühlen sich mangelhaft und fallen in ein tiefes Loch von Scham und Wertlosigkeit. Es kommt zu einer Verachtung in ihnen selbst und nicht selten zu einer inneren Verurteilung. Es kommt zu einer Palette von unheilsamen Gefühlen und Affekten. Opfer zu sein verletzt das Selbstbild eines Menschen.
Was sich alle Opfer mit denen ich in all den Jahren meiner Arbeit gesprochen habe, wünschen ist Gerechtigkeit. Was bedeutet, dass der Täter die Verantwortung für seine Tat übernimmt.
In unserer kollektiven Gerechtigkeitsvorstellung wird der Gerechtigkeit dann Genüge getan, wenn ein Täter Einsicht und echte Reue zeigt, sich aufrichtig für seine Tat entschuldigt, den Schaden an seinem Opfer so weit als möglich kompensiert und sich bemüht, Wiedergutmachung zu leisten. Die Bestrafung des Täters spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Im Grunde geht es dabei um den sogenannten Täter-Opfer Ausgleich. Man weiß, dass Verantwortungsübernahme, eine Entschuldigung des Täters und der Versuch der Wiedergutmachung hilfreich für das Opfer bei der Bewältigung erfahrenen Unrechts ist. Auch das Verstehen des Täters, seiner Beweggründe und seiner Einstellung zu dem begangenen Unrecht, können Opfern helfen, aus der Tat resultierende Traumata und Ängste besser zu verarbeiten. 
 
Was aber, wenn der Täter keine Spur von Reue zeigt, die Verantwortung für seine Tat abstreitet oder sie sogar als gerechtfertigt empfindet, wenn er die Tat verharmlost oder wenn er Schuldumkehr betreibt und dem Opfer die Schuld an seinen Handlungen zuschreibt? Was wenn er zu keiner Entschuldigung bereit ist und es ihm an jeglichem Mitgefühl fehlt oder er das Opfer sogar verhöhnt?
Dann ist eine Versöhnung ausgeschlossen.
 
Das Unrecht und die tiefe Kränkung des Opfers bleibt bestehen. Das Opfer erfährt keine Gerechtigkeit. Es ist gezwungen, einen Umgang mit der Kränkung, dem Trauma mitsamt den physischen und/oder psychischen Verletzungen zu finden, die ihm zugefügt wurden.
Es muss die tiefe Erniedrigung, die es erfahren hat, das Gefühl schadhaft zu sein, mangelhaft, nicht achtungswürdig, nicht gut genug um als Mensch von Bedeutung zu sein, bewältigen um das fragmentierte, schwer beschädigte Selbst wieder zusammenzufügen. Es muss erkennen und letztlich akzeptieren, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Justitia ist blind.

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

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