Foto: Lucas Wende
Das Misstrauen ist immer da, wie eine graue Nebelwand, die über allem liegt. Eine Wand, die sich aufbaut zwischen uns und jedem, der sich uns nähert. Können wir anderen überhaupt noch eine Chance geben? Können wir nach einem Verrat in der Beziehung wieder der oder die sein, die wir waren, bevor man uns den Boden des Vertrauens unter den Füßen weggezogen hat? Wir vergessen nicht wie hart die Landung war. Als wären sämtliche Knochen gebrochen, alle Weichteile zerflossen, das Herz zerrissen, ein allumfassender Schmerz, der uns überwältigt.
Können wir nach einem Betrug, der sich vielleicht sogar über Jahre hinzog, überhaupt noch an die Liebe glauben und wenn nicht an die Liebe, doch zumindest an das Gute, oder stehen wir für immer auf wankendem Boden? Können wir Menschen noch unvoreingenommen begegnen, ohne zu fürchten, dass auch dieser Mensch Abgründe hat, die er perfekt verbirgt und in die er uns hineinziehen wird, wenn wir ihm unser Vertrauen schenken?
Wir Menschen sind voller Abgründe. Das hat mich meine jahrelange Erfahrung gelehrt, in der Praxis und im Leben. Manche Abgründe sind so tief, dass einen das Grauen packt. Wer jemals in einer Liebesbeziehung in einen solchen Abgrund gestürzt ist, verändert sich. Er ist nicht mehr fähig offen an Beziehungen heranzugehen.
Zu erfahren, dass man absichtsvoll und mit System hintergangen, belogen und betrogen wurde, legt einen Schalter um. Werte, an die man glaubte, sind zerbröselt. Vorstellungen die man vom Partner und von sich selbst hatte, sind zerstört. Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und in die eigenen Gefühle ist eine fragwürdige Größe geworden.
Kann ich mir selbst noch vertrauen, wo ich mich so habe täuschen lassen?
Das ist das Schlimmste, bei all dem Schlimmen, was ein Verrat mit uns macht: Selbstzweifel. Uns selbst nicht mehr der vertraute Mensch sein.
Das Selbstbild ist zerbrochen, in tausend Fragmente, die zusammenzufügen eine schier unlösbare Aufgabe zu sein scheint. Das psychische Gleichgewicht kommt ins Wanken, die innere Balance geht verloren. Es kommt zur Identitätsdiffusion, die mit Gefühlen von innerer Fremdheit, Orientierungslosigkeit und Angst einhergeht. Das Jetzt hat sich schlagartig verändert. Die Vergangenheit wird fraglich.
Wer war ich und bin das noch ich?
Diese Frage quält.
Wie naiv war ich, wie blind, wie taub?
Habe ich es nicht sehen können oder wollte ich es nicht sehen?
Wie ist das möglich?
Was habe ich falsch gemacht?
Wie konnte er/sie mir diese Illusion vorgaukeln und warum bin ich ihr verfallen?
Diese Fragen, so quälend sie sind, sind sinnvoll um uns selbst zu reflektieren, um uns selbst besser zu verstehen, um uns aus der Rolle des Opfers zu befreien, um Selbstkenntnis zu erlangen über jene inneren Teile, die uns zum Betrogenen gemacht haben, den anderen eingeladen haben, mit einem unbewussten: „Mit mir ist es möglich.“
Diese Fragen sind wichtig um zu genesen, um das fragmentierte Selbst wieder neu zusammenzufügen und um uns selbst zu verzeihen.
Ein Verrat bringt nicht nur den Schatten des Verräters ans Licht, er verweist uns auf die eigenen. Um die dürfen wir uns kümmern.
Der Verräter hat uns nicht mehr zu interessieren.
Und ja, ich weiß wie schwer es ist, auch ich bin verraten worden.
Nachdem all die Wut, der Hass, der Zorn, die Rachegedanken, die sich gegen den Verräter richten, in Schmerz in Trauer verwandelt sind, müssen wir uns uns selbst zuwenden.
Tun wir es nicht, sind wir verloren.
Wir müssen und ja, ich sage „müssen“, Schattenarbeit machen.
Wir müssen erkennen, was unser Anteil war, um nie wieder im Abgrund eines Verräters zu landen. Wir müssen es tun, um die Angst vor der Wiederholung zu verlieren, die Angst davor uns neu einzulassen, uns fallen zu lassen, zu vertrauen und wieder zu lieben.
Es gibt Menschen, die so gekonnt manipulieren und lügen, dass wir nicht fähig sind, es zu erkennen. Es gibt sie, die Masken der Niedertracht, es gibt Narzissten, Psychopathen, Soziopathen und notorische Betrüger. Sie sind schwer zu erkennen und schwer zu entlarven, weil sie eine Gabe haben: Sie spüren instinktiv unsere tiefste Sehnsucht, den Riss, durch den sie eindringen. Sie wissen, was sie tun müssen um unser Herz zu erobern und es dann zu brechen. Sie wissen, wie sie alle Schutzmauern einreißen um uns verwundbar zu machen und es zu tun. Sie sind Meister der Manipulation und der Lügen.
Sie sind fantastische, überzeugende Schauspieler.
Und wir spielen mit, die Rolle, die uns zugedacht ist, und wir merken es nicht. Weil wir lieben. Weil Liebe blind macht. Weil wir bedürftig sind nach dieser einen Liebe, die wir niemals hatten. Sie steht vor uns ganz groß, ein Blendwerk und wir sind geblendet.
Es ist möglich. Und es ist sogar möglich, dass wir intuitiv wissen, das ist eine Blendung, aber die Sehnsucht ist größer als die Klarsicht. Sie ist größer als die Vernunft.
Diese Sehnsucht, die endlich erfüllt scheint, ist die Falle, die zuschnappt.
Schmerzvoll am Ende.
Dann, wenn die unzerstörbare Wahrheit erscheint. Die Wahrheit über den anderen und unsere Wahrheit, die so alt ist wie wir selbst. Die wir nicht wahrhaben wollen und jetzt erkennen müssen: Wir sind Abhängige der Liebe. Nur einmal wollen wir geliebt werden um unserer selbst willen. Der Sehnsucht ein Ende bereiten. Ankommen.
Wo sind wir angekommen nach dem Verrat?
Im Tiefsten wieder bei uns selbst, bei der Wunde dieses ungeliebten Kindes, das wir schon immer waren und noch immer sind. Wir werden es solange bleiben, bis wir uns selbst geben können, was wir woanders erfolglos suchen.
Erst wenn wir uns Liebe selbst geben können, werden wir Misstrauen in Vertrauen wandeln – in uns selbst. Dann erst können wir dem Richtigen, der Richtigen, unser Vertrauen neu schenken. Wir werden uns selbst nicht mehr verraten und niemand wird uns mehr verraten können.
Wir sind erwacht.
Der Albtraum hat ein Ende.
„Du musst etwas in dir entdecken, was nicht außer Balance gebracht werden kann. Nur wenn du etwas in dir entdeckst, was nicht außer Balance gebracht werden kann, dann hast du etwas sehr wertvolles gefunden.“
- Shihengyi
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