Mittwoch, 20. März 2024

Aus der Praxis: Schmerz

 

                                                     Mixed Media: Angelika Wende

 

„Etwas, dem wir uns nicht stellen, wir uns doch ausfindig machen.“  - John Trudell

Das gilt für alles, was wir verdrängen oder abwehren, vor dem wir davonlaufen oder es nicht haben wollen, auch für den Schmerz, dem wir uns nicht stellen, er wird uns doch ausfindig machen. Es gibt keinen Fluchtweg, egal was wir anstellen, um den Schmerz zu vermeiden. Wenn etwas weh tut, tut es weh. Und manches tut verdammt weh. Manches schmerzt so sehr, dass wir glauben, wir werden verrückt vor Schmerz. Anstatt mit sinnlosem Bemühen vor dem Schmerz wegzulaufen, nach Drogen oder Alkohol zu greifen, zu viel zu essen, zu viel zu kaufen, zu viel zu konsumieren, können wir anhalten und uns dem Schmerz zuwenden. Dazu müssen wir uns zunächst gewahr sein: Weglaufen ist ein Lösungsversuch, der nicht funktioniert. Und wo es keinen Fluchtweg gibt, können wir Freiheit finden.

Schmerz bedeutet zunächst nichts weiter als, ich bin lebendig, ich fühle, ich bin ein fühlender Mensch. Schmerz gehört zur Geburt, zum Leben und zum Sterben. Warum also meinen wir, dass Schmerz nicht sein darf, warum meinen wir, ihn nicht haben zu sollen?

Warum meinen wir, dass schmerzhafte Erfahrungen nicht in Ordnung sind oder, dass wir die Einzigen sind, die Schmerz fühlen und das Leben ungerecht und grausam zu uns ist? Warum suchen wir nach Schuldigen, warum klagen wir das Schicksal oder Gott an? Weil wir uns dem lebendig sein verweigern. Weil wir nur das Gute und das Glück haben wollen. Weil wir nicht begreifen wollen, dass Leben alles ist. Weil wir alles persönlich nehmen was archetypisch ist. Weil wir ignorant uns selbst und dem Leben gegenüber sind.

Vieles von dem was Menschen tun um dem Schmerz auszuweichen, entspringt dem sinnlosen Bemühen sich dem Leben wie es ist, zu verweigern

Sie glauben, dass da ein Fehler im System ist und dass Schmerz einer dieser Fehler ist. Um das System zu begreifen und es zu akzeptieren, müssen wir auch den Schmerz begreifen und akzeptieren. Wir müssen die Idee von richtig und falsch fallen lassen. Wenn wir das schaffen, besteht eine realistische Chance zu heilen.

Heilen bedeutet nicht alles ist perfekt und das Leben voller Glückseligkeit, heilen bedeutet: Setz dich hin zu deinen Schmerz und fühle deinen Schmerz. Mach deine Arbeit, die dir keiner abnehmen kann, weil es dein Job ist. Ein anderer kann dir die Hand halten, aber da durch musst du selbst. Heilen bedeutet, uns mit dem Leben in seiner Ganzheit vertraut machen, es zu leben, zu erfahren, es zu akzeptieren wie es ist, mit allem was uns widerfahren ist und widerfährt und einen Sinn darin zu finden und zu wachsen. Heilen bedeutet zuallerst anzunehmen was ist, auch den Schmerz.

„Wir können nichts ändern, solange wir es nicht akzeptieren.“

~ C. G. Jung

Heilen bedeutet, sich zu fragen: Worin liegt die Chance? Und nicht: Warum ich?

Wir irren, wenn wir glauben, dass Schmerz nicht sein darf, dass etwas falsch daran ist. Aus diesem Irrtum ergibt sich dann Leiden. Schmerz ist ein Signal, er weist immer auf etwas Existentielles hin. Folgen wir seinem Hinweis, lernen wir. Im Schmerz hilft es nicht den Versuch zu machen das Außen so zu verändern, dass es so ist wie wir das wollen. 

Viele Menschen versuchen zwanghaft den Schmerz zu betäuben. 

Jede Sucht ist eine Flucht vor dem Schmerz, der ihr zugrunde liegt. Der Süchtige versucht, wenn auch erfolglos, immer wieder den Schmerz zu betäuben, ihn auszuschalten und erreicht dabei das Gegenteil – der Schmerz wird immer größer, er muss immer öfter, immer mehr konsumieren. Das Konsumieren wird zur obersten Priorität. Es zerstört alles Lebendige, nur den Schmerz nicht.

Um den Schmerz zu bewältigen müssen wir ihn erst einmal einfach annehmen und mit dem Wegrennen und betäuben aufhören. Wir müssen ihn erkunden und erforschen. Herausfinden wie wir ihn beurteilen und wie wir auf ihn reagieren. Wir müssen alle Schmerzvermeidungsstrategien sein lassen und ihn da sein lassen, solange er da sein will, solange bis wir begriffen und verinnerlicht haben, was er uns zu sagen hat. Wir dürfen ihn durchleben und erfahren, dass wir ihn überleben. Nur wenn wir auf diese Weise durch den Schmerz durchgegangen sind, können wir einen Ort inneren Friedens erreichen. Das ist das Ende der Flucht - ein Einverstandensein mit dem, was war und ist und was nicht mehr sein muss, weil wir stärker, wahrhaftiger und weiser geworden sind.

 

„Ihr braucht nichts weiter zu tun, als aufrecht mitten im Schmerz zu stehen.“

Katagiri Roshi

 

 

 

 

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