Selbstkenntnis erlangen bedeutet, sich durch die Prozesse der Selbsterkenntnis auszudifferenzieren, mit dem Ziel die eigene Einzigartigkeit zu finden und sie anzunehmen, was immer sie auch sein mag. Das Annehmen meiner selbst in meiner Besonderheit ist ein wichtiger Schritt um mich aus der Schleife von Selbstanklage, Selbstbeurteilung, Selbstabwertung und Selbstverurteilung heraus zu bewegen. Und immer wieder, ich kann es nicht oft genug betonen, spielt das Erkennen der Schatten bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle.
Solange das Verdrängte, eben das, was ich nicht sehen will in mir selbst und meiner Biografie, nicht angeschaut und aufgelöst ist, werde ich mir meiner selbst nicht bewusst. Ich reife nicht, wenn ich mich vor den Schatten verstecke, aus Angst sie könnten mein Leben im Jetzt überschatten. Dabei tun sie es längst, nur dass ich es nicht bewusst wahrnehme.
Zu den Schatten gehört auch der Elternschatten, den wir so gerne unangetastet lassen.
Gerade hier neigen wir dazu uns selbst zu blenden um uns die Illusionen nicht zu nehmen, wie die Eltern in unserem Wunschdenken waren, auch wenn wir in der hintersten Ecke unseres Bewusstseins wissen, dass unser Bild eben nur ein Bild von ihnen ist, ein Wunschbild bisweilen, das sich auflöst sobald wir nur ein wenig daran kratzen.
Aber was nützt uns ein Wunschbild, das der Realität unserer Erfahrung nicht entspricht?
Das Werden zu dem, der ich bin, bedeutet auch, mir klar darüber zu werden, wessen Kind ich bin. Es bedeutet, mir Klarheit darüber zu verschaffen, was meine Kindheit geprägt und was sie überschattet hat.
Wie kann sich ein Mensch selbst lieben, der sehr früh erfahren musste, dass er nicht liebenswert sei? Dass er besser anders wäre als er ist, dass er den Eltern eine Last war oder besser nicht geboren worden wäre? Er glaubt, dass er die wahre Ursache ihrer Ablehnung, ihrer Wut, ihrer Lieblosigkeit, ihrer Gewalt ist, was nicht stimmt. Er fühlt sich schuldig, er schämt sich, will besser werden, lieber werden, folgsamer, aber all das kann gar nicht gelingen, weil die Eltern das Unheilsame was sie selbst nicht verarbeitet haben, ihre Neurosen oder eigenen Traumata auf das Kind projizieren.
„Wenn man einmal wirklich verstanden hat, hört man auf, auf die Liebe der Eltern zu warten. Man weiß dann, warum sie nicht möglich war noch ist. Erst dann erlaubt man sich, zu sehen, wie man als Kind behandelt wurde, und zu spüren, wie man darunter gelitten hat. Statt die Eltern wie bisher zu bemitleiden, zu verstehen und sich selber zu beschuldigen, fängt man an, dem misshandelten Kind beizustehen, das man einst war.“
Zitat: Alice Miller
Der Elternschatten ist solange ein mich unbewusst beeinflussender Teil, solange ich mich davor fürchte ihn ins Licht meiner Aufmerksamkeit zu holen. Und wenn ich spüre und erkenne, dass ich eine Illusion anschaue, dann ist es eine Illusion.
Sich die Eltern gut denken wollen, macht sie und mich nicht besser. Das gute Denken ist vielleicht ungefährlicher, weil es mich nicht mit Gefühlen von Schmerz und Wut konfrontiert, aber das ist Verdrängung, die nur den Sinn hat, mich selbst zu schützen und nicht die Eltern, wie man fälschlicherweise denken könnte. Denn wenn ich mich wage auch das Ungute, das Destruktive, das nicht Liebevolle, das Grausame der Eltern zu sehen, dann fühle ich Schuld, dann fühle ich Scham, weil ich sie als gutes Kind ja lieben und ehren soll.
Den Schatten der Eltern sehen heißt: ich differenziere und ich erwache. Ich erwache aus der infantilen Illusion des "alles ist gut, wenn ich ausschließlich das Gute sehen will".
Indem ich erwache, werde ich wach für mich selbst und den Teil in mir, der mich geprägt, beeinflusst und geformt hat. Ich erkenne die Wut, die nicht die meine ist, ich erkenne die Trauer, die nicht die meine ist, ich erkenne die Angst, die nicht die meine ist, ich erkenne die Scham, die nicht die meine ist, ich sehe die Schuld, die nicht die meine ist, ich erkenne die Verzweiflung, die nicht die meine ist, ich erkenne die Unsicherheit, die nicht die meine ist und ich sehe den inneren Kampf, der nicht der meine ist und doch zu dem meinen geworden, solange ich mich nicht innerlich gereinigt habe, von dem, was nicht das meine ist.
Eltern formen ihre Kinder. Und die Wirkung ihrer eigenen Schatten wirkt auf ihre Kinder. Je massiver der Elternschatten, desto stärker die Gefahr, dass sich im Kind ein falsches Selbst bildet, denn als Kind entscheiden wir nicht, was wir in uns aufnehmen. Wir können nicht anders, wir saugen auf - alles, das Hell und das Dunkel derer, die uns nähren und erziehen. Es braucht mitunter ein Leben lang um herauszufinden wer bin ich und was der Schatten der Eltern, der mich beeinflusst in meinem Fühlen, meinem Denken und in meinen Handlungen, vor allem aber in meinem Selbstbild.
Es geht um Erinnern statt Erinnerungsleugnung.
Um der zu werden, der ich im Kern bin, muss ich hinschauen, (muss und nicht ein gesäuseltes darf). Ich muss es wagen zu demontieren, was ich für unanstastbar halte, um unter all den Fragmenten, die diese Demontierung nach sich zieht, die Teile zu erkennen, die nicht die meinen sind um mehr ich selbst zu werden. Differenzieren ist nötig um alle falschen Identifikationen aufzulösen. Das bedeutet Abgrenzung und Loslösung mit dem Ziel zu mehr Selbstbestimmung zu gelangen, zur eigenen Mitte hin zu balancieren um ein Mehr an Selbstbewusstsein, Selbstachtung und Autonomie zu erreichen.
Das Werden zu dem, der ich bin, bedeutet nicht, ein Mensch zu sein, der keine Probleme mehr hat, es bedeutet ein Mensch zu sein, der sich mehr und mehr allen Teilen seiner Persönlichkeit bewusst wird. Und dazu gehört der Elternschatten, den wir introjiziert haben, ohne eine Wahl gehabt zu haben, dazu gehört ihn zu identifizieren um ihn dahin zurückzugeben, wo er hingehört: zu Mutter und Vater.
Wenn das gelingt, wenn wir fähig sind zu spüren und zuzulassen wie wir als Kind unter dem unheilsamen Verhalten der Eltern gelitten haben, verschwinden Verständnis und Entschuldigungen für die Eltern. Sie konnten nicht anders. Aber wir können anders.
Wir können uns der Wahrheit stellen, auch wenn sie schmerzt.
Dann erst sind wir fähig uns unserem Inneren Kind wirklich mitfühlend zuzuwenden und es aus dem Schatten der Vergangenheit ans Licht zu holen, damit es, damit wir lebendig werden. Wir werden zum Helfer dieses Kindes der ihm immer zur Seite steht, es vertritt und vor weiteren Verletzungen und Selbstverletzungen schützt. Wir beginnen diesem Kind in uns, das zu geben, wonach es sich zeitlebens sehnt: Liebe.
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