Mittwoch, 6. Februar 2013

Samen

  


In Annas Kopf malte die Erinnerung an den Großvater ein schemenhaftes Bild von einem gut aussehenden Mann ohne Eigenschaften. Annas Mutter schimpfte ihren Vater einen dummen Menschen. Ihr Vater sei ein dumpfer Mann gewesen. Die Mutter erzählte, dass er sich nach der Arbeit als Straßenarbeiter, die ihm am Ende eine Teerlunge beschert hatte, Abend für Abend auf seinen Fernsehsessel legte und Cowboyheftchen las, oder sich Westernfilme ansah und kein Wort sagte. Seinetwegen habe die Großmutter gelitten.

Der Großvater ging schweigend durch das Leben, als seien Worte etwas Überflüssiges.
In Annas Erinnerung war er ein sanftmütiger Mensch, sie hatte ihn nie wütend erlebt. 
Er hieß Arthur. Arthur, fand Anna, war ein schöner altmodischer Name. Sie sagte, er klänge so, als stünde sein Besitzer über den Dingen.


Für Anna war der  Großvater ein abgewiesener Liebhaber, der sich in selbst zurückzog, sich eine eigene Welt erschuf, in der er der Held war, wagemutig, wild und begehrenswert, darum die Cowboyheftchen. Vielleicht hatte sie Recht und er hatte sich wegen der Kälte der Großmutter in eine Welt eingeschlossen, in der es möglich war ein anderer, als er selbst zu sein.

Die Großmutter besaß kein Talent zum Glücklichsein. Für das Traurigsein umso mehr. 
Anna schleppte ihr Erbe mit sich herum. Sie versuchte zu verstehen, fragte sich, wie man glücklich sein konnte, in einer Ehe, die man eingegangen war, weil die Eltern es so beschlossen hatten. Von Anfang an hatten die Großeltern gelebt wie zwei Verurteilte, die keine andere Wahl haben, als die gleiche  Zelle miteinander zu teilen. Ein  Mann in seiner alles ausschließenden Einsamkeit und eine Frau in ihrem verzehrenden Unglück, beide mit einer Sehnsucht, die irgendwann aufhört zu sein und an deren Stelle Resignation tritt. 

Annas Mutter war überzeugt davon, das Licht der Welt nur erblickt zu haben, weil die Großmutter die Leere in ihrem Leben nicht mehr ertrug. Eine ungesunde Triade, eine Frau und eine Tochter gegen einen Vater, den ungewollten Dritten im unfreiwilligen Bund. Vom Schicksal verbunden, ohne die Freiheit der Wahl auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie waren arm. Armut erlaubt den Menschen nicht zu wählen, sie fordert ein sich Fügen in das, was ist. Anna fragte sich, ob die Großmutter wirklich eine kalte Frau gewesen war. Sie wusste es nicht, obwohl sie die ersten fünf Jahre nach ihrer Geburt bei ihr verbracht hatte. Die Erinnerung an sie war bruchstückhaft, wie die Erinnerung an den Großvater.


Immer wieder erzählte sie mir von dem Bild ihrer Großmutter, das sich in schlaflosen Nächten vor ihr aufbaute. Die Großmutter, die wie ein jaulendes Tier auf dem Boden lag und sie Anna, fünf Jahre alt, die unter den Küchentisch kroch und zusehen musste wie der massige Körper bebte und zitterte. Sie hörte das laute Heulen, das irgendwann leiser wurde und schließlich verstummte. Dann erhob sich die Großmutter, trocknete sich das nasse Gesicht mit einem Zipfel ihrer bunten Küchenschürze ab und machte sich am Herd zu schaffen oder sonstwo in der kleinen Küche. Anna war froh, wenn es zu Ende war. Die Großmutter hatte sie nicht bemerkt. 

Leid ist einschüchternd für ein Kind. Erwachsene können sich dem Leid entziehen. 
Die meisten tun es, weil sie glauben Leid ist ansteckend. Ein Kind fühlt sich schuldig am Leid des geliebten Menschen, wie sonst soll es sich erklären, warum dieser Mensch unglücklich ist. Es ist nicht fähig die Dinge von sich abzuspalten, es empfindet sich selbst als Ursache, weil es die Trennung noch nicht kennt, zwischen sich und den Menschen, denen es vertraut. Als Anna fünf war starb die Großmutter. Anna weinte nicht. Vielleicht war sie erleichtert, dass das Weinen ein Ende hatte. Annas Mutter erstarrte innerlich als ihre Mutter starb. Du hast sie totgeärgert, schrie sie in Annas tränenloses Kindergesicht. Als die Großmutter unter der Erde lag bekam die Mutter eine Depression. Der Vater versuchte so gut er konnte den Alltag zu bewältigen, überfordert mit der Arbeit, der trauernden Frau und zwei kleinen Kindern, die sich ständig stritten. 

Anna bewunderte den Vater. Sie bewunderte ihn, weil er tat, was ein guter Vater tut. Er lernte mit Anna und ihrem Bruder, er sorgte für sie und am Abend las er Geschichten vor. Einmal sagte Anna zu mir: "Alles war gut, wenn Mutter nicht in der Nähe war. War sie da, war alles anders. Er sah nur noch sie. Er tröstete sie und er verfluchte sie, wenn er es nicht mehr aushielt in ihrem Jammertal, das sie ihn betreten ließ, um vor ihm zu klagen, dessen Eingang ihm jedoch verschlossen blieb, wenn er sie lieben wollte. Gelacht haben wir selten wenn sie da war, so als sei Lachen eine persönliche Beleidigung für die Trauer, die sie wie Elektra trug. Ihre Trauer machte sie schön, stolz und unnahbar. Sie erschien mir wie die böse Königin im Märchen. Sie war keine Königin, sie war eine verzweifelte Frau, die in ihrer Trauer stecken blieb, unfähig loszulassen und den Blick auf das zu wenden, was um sie herum lebendig war, ihre Kinder und der Mann, der sie liebte. Anna versuchte zu verstehen, sie versuchte immer zu verstehen. Was ich verstanden habe? Sie hilft nichts, die Liebe, so wie sie niemals hilft, wenn sie nicht gesehen wird und auch dann ist sie oft wirkungslos. Als erwachsene Frau entschied Anna, dass die Mutter nicht anders konnte. Sie sagte sich, es mache keinen Sinn ihr böse zu sein. Ich glaube, sie war es leid, dem nachzutrauern, was schon damals nicht existierte, die Liebe, die sie ihr verweigert hatte.

Wenn ich heute an Anna denke, frage ich mich: Wie kann man etwas wollen, von dem man nicht weiß, was es ist, wie etwas suchen, was man nicht kennt, wie etwas fühlen, was man nicht fühlt, weil man es nie gefühlt hat? Für Anna war Liebe etwas, das sie mit Assoziationen, Worten und Bildern verknüpfte. Untaugliche Versuche, ein Gefühl zu begreifen, das ihr so fremd war wie die Mutter. In einer Kammer ihres  Unterbewusstseins blieb sie für Anna wohl doch die böse Königin und es hätte einer guten Fee bedurft, den Fluch von ihr zu nehmen, oder eines Zauberers, der sie davon erlöste. Aber, es gibt keine Feen und es gibt keine Zauberer. Es gibt diesen Mangel, der meine Beziehung zu Anna vergiftete. Die Erfahrungen ihre Kindheit lagen auf ihr wie ein Stein, der nach jedem Versuch ihn von ihr weg zu heben, sofort wieder auf sie zurückrollte. Das Schwere trennte Anna von dem was sie sich wünschte. Das Schwere hielt sie in der Vergangenheit fest und erdrückte unsere Gegenwart. Einmal in meiner Verzweilfung schrie ich: Es sind die Männer in deiner Familie, die dich zu dem gemacht haben, was du bist. Darum verachteste du mich. Sie sah mich an und sagte: Paul, du hast Recht und du hast nicht Recht. Es sind die Frauen in meiner Familie, die bei diesen Männern geblieben sind, obwohl es sich an ihrer Seite nicht wie Glück anfühlte. Sie blieben, aus sie Angst davor das Leben alleine nicht bestehen zu können. 

Es scheint mir, die Keimzelle allen Übels und allen Glücks ist die Familie. Sie verstreut ihre Samen über Generationen. Ich hatte keine Chance, ich konnte Anna nicht glücklich machen.















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