Montag, 29. Juli 2024

Vereinzelung, Selbstisolation, Einsamkeit

                                        

                                                                      Foto: A.Wende

 

"Was ist mit uns geschehen, dass es so viele betrifft? Was ist auf kollektiver Ebene irgendwann passiert, dass immer mehr Menschen vereinzeln, einsam sind oder sich in die Selbstisoltion zurückziehen?
Ich habe nachgedacht, ich denke schon lange darüber nach, denn ich erlebe immer mehr Menschen, die zu mir kommen, weil sie unter Einsamkeit leiden. Auch die Mitarbeiter der Telefonseelsorge berichten, dass Einsamkeit eines der das Hauptthemen ist, weshalb Menschen dort anrufen.
Fakt ist: Unsere Gesellschaft vereinzelt immer mehr.
Fakt ist: Wir bewegen uns in Richtung kollektive Einsamkeit.
Wann hat das begonnen?
Es hat begonnen, als wir in das Stadium des modernen Individualismus eingetreten sind. Manche meinen, das sei so seit der Coronapandemie. So ist es nicht. Die Pandemie und die Maßnahme, Menschen voneinander zu isolieren, hat das soziale Virus „Individualismus“ nur verstärkt und es bewusster gemacht. Nicht ohne Grund, wie ich meine: Damit wir endlich hinsehen, wo wir kollektiv hindriften.

Schon lange vor der Pandemie sprechen Soziologen und Psychologen von einem Trend zur Vereinzelung. Hans-Joachim Maaz geht in seinem Psychogramm: „Die narzisstische Gesellschaft“ auf Ursachenforschung, was Individualismus und Narzissmus kollektiv mit uns machen. In seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“, geht der Publizist Martin Hecht diesem Thema auf den Grund. Er spricht vom radikalen Ich, das unsere Demokratie bedroht und warnt davor, dass der moderne Individualismus zunehmend zu einer Gefahr für den Zusammenhalt im Kollektiv wird. Diana Kinnert setzt sich in ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ mit alter und neuer Einsamkeit auseinander und stellt fest: Eine neue Einsamkeit greift, unabhängig von Corona, immer weiter um sich. Die Gründe hierfür sieht sie darin, dass unsere Gesellschaft auf Konsum statt Intimität, Flexibilität statt Verbindlichkeit, und immer mehr Gewinn statt Stabilität ausgerichtet ist.

Höher, schneller, weiter – das ist das Lebensmotto vieler. Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und persönliche Freiheit werden als hohes Gut angesehen. Jeder ist sich selbst der Nächste, was das eigene Ich und dessen Verwirklichung stört, muss weg.
Haben statt sein.

 
Damit hat sich schon Erich Fromm in seinem Buch "Haben oder Sein" im Jahre 1976 auseinandergesetzt und eindringlich davor gewarnt, dass eine Gesellschaft, die vom Streben nach Besitz und markt- und konsumorientierten „Haben“ dominiert wird, scheitern wird.
Das zeigt sich jetzt immer deutlicher.
Der Individualismus, der kollektive Narzissmus, der Selbstoptimierungswahn und die Egozentriertheit vieler Menschen fordert ihren Preis: Der Mensch entfremdet sich von sich selbst und damit in der Folge von seinem Nächsten. Er dreht sich nur noch um sich selbst, er bespiegelt sich selbst und am Ende muss er feststellen: Individualismus macht allein und einsam.

Was ist Individualismus?
Individualismus definiert eine Anschauung und Geisteshaltung, die dem Individuum und seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt. Eine Haltung also, die auf die Entfaltung und das Wohlergehen der eigenen Persönlichkeit ausgerichtet ist und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wenig Raum lässt. Die Folge: Eine individualistisch orientierte Gesellschaft, die sich durch lose, unverbindliche soziale Bindungen auszeichnet.

Das eigene Ich wird zum Maß aller Dinge.
Und so reden sie auch, die Meisten: von sich selbst. So denken sie auch die Meisten: an sich selbst. Ich, ich, ich …Und dann kommt lange nichts oder nur das, was dem Ich nützlich ist und was es brauchen kann.

Eine Geisteshaltung, die natürlicherweise ihren Preis hat: nämlich die Zersplitterung eines Gemeinsamkeitsgedankens und der Verlust des Bewusstseins des Einzelnen für das Ganze.
Verbundenheit fehlt, ein menschliches Miteinander fehlt, lebendiger Kontakt, der mit allen Sinnen erlebt wird, fehlt. All das wird ersetzt durch die virtuelle Welt, die uns vorgaukelt – wir sind verbunden.
Schimäre weiter nichts! Denn hunderte Freunde auf Facebook oder tausende Follower auf Instagram simulieren lediglich eine illusionistische Verbundenheit, die in der realen Welt nicht existiert. Flashfull Fantasy, die an der Realität zerplatzt, dann nämlich, wenn uns bewusst wird, wie allein wir da vor unseren Handys und Rechnern sitzen, während wir das Leben unserer sogenannten Freunde betrachten, liken und kommentieren, Menschen, die wir meist nicht einmal kennen.

Der Mensch selbst ist nicht nur Konsument, er ist selbst zum Konsumgut geworden.  Er konsumiert und wird konsumiert. Tinder z.B., das Online Warenhaus in dem ich mir, nach dem Motto: Wisch und weg und Match!, einen One Night Stand bestelle, denn eine echte Beziehung wollen die meisten gar nicht. Das Leben mit dem eigenen Ich ist anstrengend genug.
Es geht noch krasser.
Manch einer verliebt sich in eine(n) KI-Chatbot, der/die ihm vorgaukelt, er sei in einer echten Beziehung. Eine Beziehung, die nur seine eigenen Bedürfnisse erfüllt, nichts von ihm fordert und ihm die tägliche Dosis Honig ums Maul schmiert um sein Ego zu streicheln, auf dass es weiter wachsen möge. Ich, ich, ich …

Das moderne Ich holt sich seine Bedeutung vornehmlich virtuell. 

Geredet wird auch nicht mehr viel, wenn nicht unbedingt nötig, es wird What´s appt, zugetextet, wie ich es nenne. Texten ist weniger anstrengend und zeitaufwendig als ein echter Dialog mit einem leibhaftigen Gegenüber. Vornehmlich wird mitgeteilt, es werden Gifs und flache Sprüche versendet – ein Mist, den kein Mensch braucht. Alles um das eigene Selbstgefühl zu stärken, alles um das illusionistische Gefühl zu bekommen: Ich werde wahrgenommen. Man textet einander, man kann sich einreden, dass man im Innern des anderen präsent ist, eine Bedeutung in seinem Leben hat, auch wenn der andere einer ist, den man noch nie im richtigen Leben gesehen hat. Unbemerkt bleiben, nicht gesehen zu werden, nicht existent sein für andere, ist schwer erträglich. Aber in Wahrheit ist es bei immer mehr Menschen genauso. Wer seine Bedeutung und damit sein Selbstwertgefühl auf diese Weise zu stärken versucht, baut auf Sand, er stützt sich auf etwas, das so schnell verschwindet, wie sein Getexte. Zurück bleiben vereinzelte Individuen, die sich mit der Einsamkeit abfinden müssen, wenn sich nicht radikal etwas ändert.

Die Heilung des Individuums hat nicht viel Sinn ohne das Streben nach Verbundenheit und Gemeinschaft.

Wieviel Sinn hat es, Individuen von seelischen Krankheiten zu heilen, aber nicht vor den Gefahren zu schützen, die durch eine individualistisch-narzisstische, vereinsamte Gesellschaft drohen, die ein gesundes Kollektiv zunichte macht?
Vereinzelung und Einsamkeit haben Folgen. Sie verändern den Einzelnen auf unheilsame Weise und damit auch das Ganze, denn alles ist eins. 

Olivia Lang schreibt dazu ihrem Buch "The Lonely City":
"Wenn Menschen eine längere Erfahrung der Einsamkeit machen, lösen sie ein Phänomen aus. In diesem Zustand, in den man sich unwissentlich begibt, neigt das Individuum dazu, die Welt immer negativer zu erleben und Vorfälle von Unhöflichkeit, Zurückweisung und Beleidigung sowohl zu erwarten als auch sich daran zu erinnern, was diese Reaktionen dann mehr Gewicht und Bedeutung verleiht als andere, gütige oder freundliche Reaktionen. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, in dem der einsame Mensch immer isolierter, misstrauischer und zurückgezogener wird. Und weil die Hypervigilianz nicht bewusst wahrgenommen wird, ist es keineswegs leicht, die Voreingenommenheit zu erkennen, geschweige denn zu korrigieren. Je einsamer Menschen werden, desto weniger gelingt es ihnen, sich im sozialen Umfeld zurechtzufinden. Die Einsamkeit wächst um sie herum, wie Schimmel oder Fell, sie wird zum Prophylaxemittel, das Kontakt verhindert, egal wie stark der Wunsch nach Kontakt ist. Einsamkeit verstärkt sich selbst und hält sich selbst aufrecht."

Bedrückend wie ich finde. Leider hat sie Recht, denn genau das erzählen viele Menschen, die zu mir kommen, sie wollen raus aus der Einsamkeit, die Vereinzelung überwinden, schaffen es aber irgendwann nicht mehr, weil sie soziale Kompetenzen verlernt haben und Misstrauen und Angst vor Verletzung die Sehnsucht nach Verbundenheit überschattet.
Wir sind soziale Wesen, wir brauchen einander, gerade in Zeiten wie diesen. Möge das wieder in unser Bewusstsein dringen.



www.wende-praxis.de

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