Donnerstag, 9. Februar 2023

Aus der Praxis: Ist Sucht wirklich eine Krankheit ?


 

In seinem Buch The Biology of Desire: Why Addiction Is Not a Disease schreibt der Neurowissenschaftler Marc Lewis, der selbst drogensüchtig war, dass es nicht nur trügerisch, sondern gefährlich sei, Sucht als Krankheit zu bezeichnen.

Zitat: „Ich kritisiere hier die Art und Weise, wie das medizinische Modell dazu verwendet wird, um einerseits Sucht zu konzeptualisieren und andererseits die Philosophie der Entzugsindustrie zu untermauern, zu unterstützen und zu stärken. Eigentlich sollte man aufgrund der häufigen Misserfolge das medizinische Modell und die aktuelle Suchtdefinition ernsthaft in Frage stellen, aber das wird nicht getan und genau da liegt die Krux. Es handelt sich hier um ein eigendynamisches System, das einem Süchtigen groß vor Augen hält, dass er an einer chronischen und tödlichen Krankheit leidet, auf die er selbst keinen Einfluss hat und er sich deswegen besser in Behandlung gibt.“

Damit machte sich der Wissenschaftler in der Fachwelt unbeliebt. Hat doch die WHO längst den Alkoholismus offiziell als Krankheit eingestuft. Seit 1968 können sich Alkoholabhängige in Deutschland auf Kosten von Krankenkassen oder Rentenversicherungen ambulant oder stationär behandeln lassen. Ab diesem Zeitpunkt wurde diese Erkenntnis von Ärzten und Suchttherapeuten nicht mehr angezweifelt.

Die vorherrschende Meinung macht für die Entstehung einer Sucht die gesteigerte Dopaminausschüttung verantwortlich. Dopamin ist ein Botenstoff, der das Belohnungssystem im Gehirn anregt. Alkohol und andere Drogen führen zu einer erhöhten Dopaminausschüttung - die tägliche Dopaminzufuhr, die der Alkoholiker braucht, um sein tägliches „Glück“ zu erleben. Das mit Dopamin betriebene Belohnungssystem tritt bei jeder Aktivität in Aktion, die angenehme Zustände verspricht – aber das alleine macht noch nicht süchtig, behauptet dagegen Lewis. Es gehe bei Sucht nur um eine neurale Formbarkeit und diese hat Ursachen, die in der Psyche der Betroffenen liegen. Was wir wissen: Prädestiniert für eine Sucht sind Menschen, die depressiv, ängstlich und/oder traumatisiert sind oder an Persönlichkeitsstörungen leiden und  dann irgendwann beginnen das Suchtmittel als Selbstbehandlungsversuch zu benutzen.

Die weit verbreitete These Sucht sei eine Krankheit hilft Süchtigen nicht, behauptet Lewis. Und sie hilft auch denen nicht, die mit einem Süchtigen zu tun haben: Den Co- abhängigen, behaupte ich. 

Im Gegenteil und da bin ich ganz der Meinung des Neurowissenschaftlers - definiert man Sucht als Krankheit ignoriert man damit den menschlichen Willen. Wer mit Suchtkranken zu tun hatte oder hat, weiß, der Wille spielt bei der ganzen Sache eine große Rolle. Wer nicht will findet Gründe. Wer will findet Wege.

Suchtexperten wissen, dass der Wille und die Selbstmotivation für den Weg zur Überwindung der Sucht extrem wichtig sind. Den Willen und die Bereitschaft  das Suchtverhalten sein zu lassen, findet man bei Süchtigen, die nach einem Entzug oder einem Klinikaufenthalt trocken bleiben. Leider sind das wenige. Laut der fachmedizinischen S3-Leitlinie zur Behandlung alkoholbezogener Störungen werden ca 80 Prozent der Patienten in den ersten sechs Monaten nach einem Entzug wieder rückfällig.

Rückfällig werden bedeutet, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.  

Das passiert beim Alkoholiker dann, wenn er nach einer Zeit der Abstinenz wieder zur Flasche greift. Er gibt dem Suchtdruck nach, der entstanden ist. Gedanken wie: „Soll ich trinken oder nicht“ kämpfen miteinander. Wird er rückfällig, entscheidet er sich willentlich dafür. Und wieder greift die Überzeugung: „Ich bin eben krank, ich kann nicht anders.“

Und genau da liegt das Problem. Wer davon überzeugt ist, ich kann nicht, muss auch nicht. 

Dass man eine Suchterkrankung als solche definiert, sei nur eine „Political Correctness“, behauptet Lewis: „Das ist eine bequeme Möglichkeit, Süchtigen zu verzeihen. Und Süchtige können sich so auch ganz leicht selbst verzeihen.“ Definiert man die Sucht als Krankheit, erlebt sich der Süchtige als unschuldiges willenloses Opfer von etwas, das von Außen in ihn dringt. Er sieht sich als Patient, dem geholfen werden muss, er kann glauben, dass er selbst machtlos ist.

Wenn man Sucht als Krankheit definiert nimmt man Betroffenen die Eigenverantwortung ab, man lässt sie als passiv und unverantwortlich für ihren Zustand erscheinen. Wenn man einem Menschen sagt, dass er an einer Krankheit leidet, geht er nicht davon aus, von dieser Krankheit aus eigener Kraft zu genesen. In Wahrheit aber gibt es genug Süchtige, die ihre Sucht stoppen können, weil sie es wollen und die Bereitschaft haben alles dafür zu tun. Genau das ist der Unterschied zwischen der Sucht und einer Krankheit: Krebs kann der Mensch nicht durch den eigenen Willen stoppen, er braucht ärztliche Hilfe, Sucht kann der Mensch stoppen, wenn er eigenen Willen aufbringt.

Nach Lewis ist Sucht eine Gewohnheit, die außer Kontrolle geraten ist. Bei Krankheiten verändern sich die Organe durch eine Krankheit. Bei Süchtigen verändern sich Strukturen im Gehirn durch die Gewöhnung an das Suchtmittel.

Der Neurowissenschaftler findet elementar wichtig diese Unterscheidung zu machen, denn - denkt ein Mensch er ist krank, nimmt ihm das die Verantwortung ab. Wer schwer krank wird ist nicht willensschwach, nicht selbstzerstörerisch oder was auch immer. Er ist krank und braucht sich deswegen nicht zu schämen und er muss deshalb keine Schuldgefühle hegen. Das ist eine bequeme Ausrede für Süchtige sich selbst immer wieder zu entschuldigen und zu verzeihen, dass sie ihren Körper, ihr Leben und alle, die sie lieben, mit in den Abgrund des eigenen Siechtums zu ziehen.  

 „Ich bin krank, ich kann nichts dafür. Du musst das verstehen.“

Das ist auch das, was man den Co-abhängigen immer wieder einredet: Sie müssen Verständnis haben für den armen Kranken, er kann ja nichts dafür. 

Müssen sie das?

Nein, sie müssen nicht. Denn genau das hält eine Co-abhängigkeit aufrecht: Das Verstehen und Entschuldigen, das Mitgefühl, das Bedauern, das ewige vergebliche Bemühen ihn zu retten, die ewigen Entschuldigungen, das Vergeben und Verzeihen von allem Unheilsamen, das Süchtige ihren Familien, Partnern, Kindern und ihren Nächsten mit ihrem zerstörerischen Verhalten antun, schuldlos - weil sie ja Opfer ihrer Krankheit sind.

Der Süchtige ist krank geworden durch sein Suchtverhalten, er ist es, der sich krank gemacht hat und weiter krank macht.

Das muss niemand verstehen und schon gar nicht entschuldigen, damit der andere ohne jegliche Verantwortung zu übernehmen die Zerstörung auf allen Ebenen weiter betreiben kann.

Glaubt man Lewis ist jede Sucht eine rein verhaltensbezogene und keine physiologische Krankheit wie etwa Krebs.

Als Erklärung führt er an: Auf der einen Seite gibt es die substanzgebundene Abhängigkeit und auf der anderen die verhaltensbezogene wie etwa Spiel-, Sex-Sucht, Kaufsucht. Wenn man Gehirnscans durchführt, erhält man bei allen Arten der Sucht das gleiche neurale Aktivierungsmuster. Allein das sollte schon reichen, so der Neurowissenschaftler, um das Modell: „Sucht ist eine Krankheit“ kritisch zu sehen und in Frage zu stellen. Würde es sich um eine Krankheit handeln, dann würden Betroffene, die täglich über Stunden Videospiele spielen, genauso stark leiden wie jene die alkoholabhängig sind. Auch die Behauptung es gebe eine genetische Ursache bei Alkoholismus widerlegt Lewis. Es existiert kein Gen oder Gen-Cluster, das eine Sucht verursacht. Stattdessen finden sich bei Alkoholikern Persönlichkeitszüge, die genetisch veranlagt sind. Zitat Lewis: „Es gibt generationsübergreifende Verbindungen, die real sind und mit den Genen zusammenhängen, aber ein bestimmtes Abhängigkeits-Gen ist nicht existent. Alkoholismus ist keine Krankheit, sondern vielmehr eine Störung der Willensentscheidung.“

These: Sucht ist ein Lern- und Entwicklungsmodell 

Was eine Entwicklung kennzeichnet ist der tiefgreifende Lernprozess, der mit jeder Entwicklung verbunden ist, inklusive der Annahmen und inneren Überzeugungen, die zu Denkmustern werden. Diese Denkmuster werden durch Wiederholung immer weiter verstärkt und führen dann zu den entsprechenden Verhaltens- und Handlungsmustern. Jeder Lernprozess beinhaltet Veränderungen in den Synapsen. Bestimmte Synapsen werden erschaffen oder verstärkt und andere Synapsen, verkümmern oder verschwinden ganz. So entsteht, laut Lewis, letztendlich Sucht. Betroffene erlernen eine Denkweise, sie sich dann automatisiert. Das hat mit einer Krankheit nichts zu tun, auch wenn Sucht, wird sie nicht willentlich gestoppt, krank macht und immer zu Siechtum und Tod führt.

 

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen