Freitag, 15. Januar 2021

Aus der Praxis – Der Notfallkoffer, erste Hilfe bei emotionaler Überflutung

 

                                                                     Foto: www
 
In extremen Krisensituationen wie wir sie alle gerade erleben, kommt es bei manchen von uns zu hochstressigen Momenten, die kaum zu bewältigen scheinen und uns völlig überfordern. Wir verlieren den Kopf. Wir ticken aus. Wir sind überflutet von destruktiven Gefühlen, die wir nicht mehr regulieren können und geraten vielleicht sogar in Panik. Das ist in solchen Situationen vollkommen normal und wir brauchen uns dafür nicht zu schämen. Wir sind fühlende Wesen, die nur ein gewisses Maß an seelischer und geistiger Belastung ertragen können.
Wie viel ein Mensch aushalten kann ist individuell verschieden. Der eine hält viel aus, der andere weniger. Das hat unter anderem mit der eigenen Resilienz zu tun, aber auch mit den individuellen Lebensumständen. Besonders Menschen, die seelisch instabil sind oder denen es sowieso nicht gut geht, geraten jetzt öfter an ihre Grenzen. Auch das ist normal und kein Grund sich dafür zu verurteilen. 
Es ist okay!
 
In diesen hochstressigen Momenten wie sie vor allem Borderline-, Trauma-, Zwangs- oder Angstbetroffene sehr oft erleben, stecken wir in einem Gefühl derart fest, dass die Regionen für logisches Denken im Gehirn kurzfristig blockiert sind. Ab einer extrem hohen emotionalen Anspannung können daher für den ersten Moment nur Skills helfen, die starke sensorische Reize auslösen. Diese sogenannten Stresstoleranz-Skills sind kurzfristig wirksame Hilfsmittel, um die hohe Anspannung möglichst schnell zu beenden um uns in den Moment zurückzuholen und uns wieder zu erden.
In der dialektisch Behavioralen Therapie (DBT) dient die Anwendung von Stresstoleranz-Skills dem Erlernen von Alternativen, die nicht selbstschädigend sind und die auch unterwegs in einem sogenannten Notfallkoffer jederzeit griffbereit sind. Als solche Skills eignen sich beispielsweise Chilischoten oder Ammoniak Ampullen. 
 
Aber was soll denn daran beruhigend wirken, auf eine Chilischote zu beißen oder an einer stinkenden Ampulle zu riechen?
Ja, das mag erst mal befremdlich wirken. Es hat aber durchaus Wirkung. Ziel ist es nämlich einen starken körperlichen Reiz auszuüben, um uns von der starken inneren Anspannung abzulenken und das Stresslevel zu senken.
Sobald wir spüren, dass die innere Anspannung zu steigen beginnt und sich einem nicht mehr aushaltbaren Maß nähern wird, können wir mit den verschiedenen Tools aus dem Notfallkoffer gegensteuern.
 
Was ist in diesem Notfallkoffer drin?
Der Notfallkoffer beinhaltet zum einen ablenkende und zum anderen beruhigende Tools.
Zu den ablenkenden Tools gehören Reize für die Geruchsnerven wie Parfüm, Zimt oder Vanille oder auch ein stechender Geruch wie Ammoniak.
Reize für die Geschmacksnerven sind eine scharfe Chili, Brause, oder eine Zitrone.
Reize für die körperliche Empfindung sind z.B. ein Gummiband am Handgelenk, welches gegen das Handgelenk geschnippt wird, eine harte Bürste mit der man über den Arm reibt, eine Wäscheklammer, in die man den Finger klemmt oder ein Igelball.
Alle diese ablenkenden Reize besitzen die notwendige Intensität um innere Anspannung schnell zu reduzieren.
 
Zu den Tools für die geistige Ablenkung und emotionale Beruhigung gehört alles, was schnell positive Emotionen in uns weckt.
Zum Beispiel:
Ein Stofftier, Fotos von geliebten Menschen, eine Mail oder ein Brief, der gute Gefühle weckt, das Hören der Lieblingsmusik, eine Liste mit Dingen auf die man stolz ist, eine Liste mit positiven Affirmationen oder schöne Kinder- und Märchenfilme für das Innere Kind.
Sinnvoll ist auch ein Krisenplan mit Telefonnummern von Freunden, des Therapeuten, falls man einen hat, die Nummer der Telefonseelsorge und der Krisenambulanz sowie eine selbstverfasste Liste mit positiven Gedanken die man negativen Gedanken entgegensetzt.
 
Kreativität
Hilfreich ist auch kreativ zu werden um sich emotional zu beruhigen.
Dazu gehört alles was Spaß macht und angenehme Emotionen hervorzuruft um die Anspannung zu senken und den Kopf im positiven Sinne beschäftigt.
Malen, Zeichnen, Stricken, Häkeln, überhaupt etwas mit den Händen formen, Mandalas ausmalen, Puzzlen, das Lösen von Kreuzworträtseln, Bewegung wie Tanzen oder ein Spaziergang an der frischen Luft, Achtsamkeitsübungen und Mediation. 
 
So ausgerüstet sind wir gewappnet, wenn es wieder einmal nicht auszuhalten ist. Allein das gibt schon ein beruhigendes Gefühl, wir wissen: Wir sind dem emotionalen Notfall nicht hilflos ausgeliefert.

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