Mittwoch, 3. Juli 2019

Das Leiden an der Verlassenheit




Foto: A. Wende

„Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis“, schreibt Friedrich Nietzsche in Zarathustra.
Eure schlechte Liebe zu Euch selbst. Besser könnte man es nicht formulieren.
Nichts führt uns mehr in das Gefängnis der inneren Einsamkeit als die Blockierung der Selbstliebe. Diese Blockade führt in die innere und äußere Verlassenheit. Sie führt in die gleiche Verlassenheit, die wir schon als Kind erfahren und gespürt haben. Aber was wir nicht erkennen: Diese Verlassenheit liegt heute nicht mehr im Verlassensein durch andere – sie liegt in der Verlassenheit, die durch die Abspaltung unseres eigenen Wesens entsteht.

Ständig suchen wir nach Füllung von Außen, wir suchen äußere, fremde Quellen, weil wir keinen Zugang zu unserer eigenen Quelle finden, oder nur sehr schwer. Wir halten es mit uns selbst nicht aus. Wir verfallen in Unruhe, in Angst, in Lähmung, in Trauer und Schmerz, wenn wir lange mit uns allein sind. Wir versuchen alles um das Alleinsein zu vermeiden, als sei es eine Krankheit, die uns ans Leben will. Wir fühlen uns gefangen ohne es tatsächlich zu sein – gefangen in der Lieblosigkeit uns selbst gegenüber.
Wie will ich mich gut mit mir selbst fühlen, wenn ich mir selbst nicht gut bin?
Wie will ich glauben oder auch nur im Ansatz fühlen, dass es mir gut mit mir geht, wenn ich glaube nicht gut und nicht liebenswert zu sein, weil ich ungeliebt bin von mir selbst?

Also versuchen wir mit allen Mitteln dem Gefängnis der Lieblosigkeit zu entkommen. Wir suchen etwas oder einen, der den Schlüssel hat, ihn in die Hand nimmt und unser Gefängnis für uns aufschließt. Wir wenden uns an Freunde, wenn wir Freunde haben, an den Geliebten, wenn wir einen Geliebte haben, an Heiler, an Therapeuten, in der Hoffnung, dass sich die Gefängnistür endlich öffnet, in der Hoffnung, uns selbst zu spüren und endlich lieben zu können.

Manchmal gelingt uns das durch andere. In der Verbundenheit mit dem Du, spüren wir es, dieses warme Gefühl liebenswert zu sein, weil uns Liebe geschenkt wird, oder Aufmerksamkeit, wenn schon keine Liebe. So soll es sein, so soll es bleiben, denken wir. Aber mit der Zeit fühlen wir uns wieder genauso verlassen und innerlich einsam.
Freunde, Familie und Geliebte ersetzen uns nicht was in uns selbst nicht lebendig ist. Das spüren wir spätestens dann, wenn die Aufmerksamkeit, das Begehren oder die Fürsorge des anderen nachlässt, wenn wir wieder verlassen wurden oder verlassen haben oder wenn die anderen keine Zeit und kein Verständnis für uns haben, dann wenn wir es am Nötigsten brauchen.

Das Leiden an der Verlassenheit gärt weiter in unserer Seele, solange wir Widerstand leisten. Solange wir den Blick nach dem, was uns erlösen soll ins Außen richten, bleiben wir verlassen. Wir lassen uns im Stich.
Solange wir im Widerstand gegen dieses existentielle Gefühl der Verlassenheit sind haben wir es nicht verstanden. Wir haben nicht verstanden, was es uns sagen will und wohin es uns führen will. 

Das Gefühl verlassen zu sein ist zutiefst menschlich. Es ist Teil der Ablösephasen des Kindes und des Heranwachsenden. Bedingungslos betreut, geliebt und bemuttert zu werden ist ein frühkindliches Bedürfnis, das uns im besten Falle befriedigt wird und das sich dann im Laufe des Erwachsenwerdens auflösen muss – nämlich damit wir zu einem autonomen Individuum heranreifen können, zu einem selbstständigen Selbst, das für sich selbst sorgen kann, emotional und im alltäglichen Leben. Wird dieses Bedürfnis in der frühen Kindheit nicht erfüllt bleiben wir ein Leben lang Abhängige vom Außen. Wir bleiben an der Nabelschnur der Mutter hängen und verhungern emotional, denn sie spendet keine Nahrung mehr. Sie hat ihren natürlichen Auftrag erfüllt.
Die Durchtrennung der Nabelschnur entlässt uns in die Welt.
Die Verbindung mit der Mutter ist gekappt. Sie muss gekappt werden, damit wir Verbindung mit der Welt aufnehmen. Im idealen Fall an der liebenden Hand der Mutter und es Vaters, die uns den Weg zeigen, bis wir selbstständig gehen können.

Zu früh verlassene Kinder, zu früh aus dem natürlichen Ablöseprozess des Lebens Herausgeworfene, erleben die Welt als bedrohlich und fremd. 
Im Angesicht des Fremden erleben sie sich selbst als klein und hilflos. Überwältigt von diesem Ohnmachtsgefühl spüren sie sich selbst nicht. Was sie stattdessen spüren ist die Verlassenheit und den unbeschreiblichen Schmerz, den diese macht – den Schmerz der Trennung von der Welt – getrennt sein und damit allein sein.
Sie sitzen im bodenlosen Abgrund der Isolation und der Lieblosigkeit.
Wie auch sollen sie Liebe spüren, die ihnen nicht gegeben wurde?
Unmöglich sie von sich selbst zu erwarten?

Tun wir es. Konzentrieren wir uns endlich auf den Schmerz. Lassen wir uns in ihn hineinfallen, zeigt er uns den Weg.  
Wenn wir ihn zulassen und ihn anerkennen anstatt ihn mit allen Mitteln vermeiden zu wollen, zeigt er uns die Sehnsucht nach Liebe. Auch wenn wir keine Vorstellung davon haben was sie ist, so spüren wir doch – in der Sehnsucht nach Liebe sind wir mit ihr verbunden.

Sehnsucht nach Liebe ist Liebe. Und siehe, du bist schon gerettet, wenn du versuchst, der Liebe entgegenzuwandern“., schreibt Antoine de Saint-Exupéry.

Diese Sehnsucht berührt uns dort, wo es weh tut. Sie legt sich über den Schmerz und zeigt uns was wir brauchen um dem Gefängnis unserer kindlichen Verlassenheit zu entkommen. Wir brauchen Berührung und Zuwendung. Berührung mit uns selbst und Zuwendung zu uns selbst.
Sobald wir das erkennen und auf uns zugehen, mit Selbstmitgefühl für das verlassene Kind in uns, spüren wir uns selbst und die Liebe, die in uns lebt seit wir in die Welt geworfen wurden, die Liebe, die schon immer da ist, die nur nicht erweckt wurde, weil sie nicht beantwortet wurde, von denen, die uns hätten antworten können, hätten sie es denn gekonnt.

Indem wir mit uns selbst fühlen, berühren wir uns. Mitfühlend berühren wir mit unserer Liebe, den Menschen der wir sind.  
Wir wehren die Verlassenheit nicht mehr ab, wir empfinden sie nicht mehr als Strafe oder Leiden – wir nehmen sie in uns hinein als Teil unseres Menschseins und freunden uns mit ihr an - um ganz zu werden. Wir wachsen ins uns selbst hinein. Darin besteht Wachstum: Ganz werden und nicht abspalten, nicht abwehren. 
Wachstum geschieht durch die Integration all unserer inneren Anteile und dies geschieht durch Akzeptanz, auch dessen, was wir so nicht wollen wie es ist, eben auch den Schmerz.
Haben wir uns mit uns selbst verbunden geschieht ein kleines Wunder: Wir verbinden uns mit der Welt, wir heben die Trennung auf – wir beginnen zu lieben, oder wie Antoine de Saint-Exupéry schreibt: Wir wandern der Liebe entgegen. Wir haben unser Gefängnis verlassen.




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