Donnerstag, 27. Juni 2019

Sucht ist Siechtum - für alle Beteiligten


Zeichung: A.Wende

Sucht bedeutet Leid. Sucht erschöpft. Sucht zerstört.
Nicht nur die Süchtigen, sondern auch die, die ihnen nahe stehen. Wer mit einem Süchtigen gelebt hat oder lebt, weiß: Sucht ist ein Leben in der Hölle der Ohnmacht, des Schmerzes und der Verzweiflung. Für alle Beteiligten.

Was ist Sucht?
"Unter Sucht versteht man eine psychische Störung, die sich durch das unbezwingbare  Verlangen nach dem Suchtmittel und über den zumindest periodischen Verlust der Selbstkontrolle kennzeichnet, welche eigentlich eine positive Veränderung des psychischen und körperlichen Befindens herbeiführen soll, aber so massiv auftreten, dass die betreffende Person in ihren sozialen, psychischen oder körperlichen Funktionen erheblich beeinträchtig ist und andere Personen dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden."
So definiert der Psychotherapeut und Leiter der Salus Kliniken in Friedrichsdorf, Ralf Schneider Sucht in seinem vierhundertfünfzig Seiten umfassenden Werk „Die Suchtfibel - Wie Abhängigkeit entsteht und wie man sich daraus befreit."

Sprachlich kommt Sucht nicht wie viele Menschen glauben, von „suchen“, sondern von „siech“, sichen, Siechtum. Siechtum bedeutet wiederum: Lange dauernde Zeit schwerer Krankheit, großer Schwäche, Hinfälligkeit ohne Aussicht auf Besserung.
Sucht ist eine Krankheit des Körpers und der Seele, die Leiden schafft und unbehandelt auf längere Sicht zum Tode führt. Wer suchtkrank ist, ist sicher auch sehnsüchtig wie jeder andere Mensch, aber er ist, im Gegensatz zur „normalen“ Sehnsucht der anderen, seiner Sehnsucht hilflos ausgeliefert. Er hat keine Kontrolle mehr über sein Verhalten – vielmehr erfährt er den totalen Kontrollverlust. Die zwanghafte Gier nach der dem Suchtmittel wächst dabei ins Unermessliche. Er ist von seinem Suchtmittel abhängig und zwar auf allen Ebenen menschlichen Seins: Körper, Geist und Seele. Ein Davonlassen oder gar ein Entzug ist aus eigener Willenskraft kaum zu schaffen. Das süchtige Streben nach dem Suchtmittel nimmt im Verlauf der Krankheit einen immer größeren Raum ein, bis schließlich alle anderen Bedürfnisse an Bedeutung verlieren und andere Möglichkeiten der Bedürnisbefriedigung neben dem Suchtverhalten an Reiz verlieren.  

Der Süchtige ist ein Sklave seiner Sucht. Er hat seine persönliche Freiheit an die Droge verloren.
Damit ähnelt die Suchtkrankheit psychologisch betrachtet der Zwangserkrankung. Der Unterschied zwischen Zwängen und Sucht besteht jedoch darin, dass der Konsum des Suchtmittels das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert und ein gutes Gefühl macht, während Zwänge primär dazu dienen Ängste, destruktive Gedanken und Gefühle abzuwehren und den Zwangskranken extrem belasten.

Sucht schränkt die Freiheit des Süchtigen massiv ein. Er verliert, je tiefer er in die Sucht gleitet, seine menschliche Würde. Sein Leben, seine Lebensenergie, seine Beziehungen – alles löst sich im Verlauf der Krankheit auf.
Süchtige befinden sich in einem Strudel, der nur noch abwärts geht, ziehen sie nicht irgendwann die Reißleine und holen sich professionelle Hilfe. Diese gibt es in Hülle und Fülle, wenn der Betroffene die Einsicht, die Bereitschaft und den Willen hat sein Siechtum zu beenden.

Was aber ist mit den Menschen, die mit einem Süchtigen in Beziehung sind?
Sie sind Co-abhängig.  
Das wesentliche Kennzeichen von Co-abhängigkeit ist, dass die Betroffenen ihre eigenen Bedürfnisse völlig aus den Augen verlieren. Sie sind darauf gepolt die Signale des Süchtigen für so wichtig zu nehmen und sich derart darauf auszurichten, dass die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle völlig in den Hintergrund geraten.
Partner und Kinder von Suchtkranken befinden sich in einer extrem belastenden, kräftezehrenden, aussichtslos erscheinenden Situation. Ihr Leben ist im wahrsten Sinne des Wortes vergiftet wie der Süchtige selbst. Die unermüdlichen Versuche ihn zur Einsicht zu bringen, helfen zu wollen, seine Probleme zu verstehen, ihn aufzufangen und seine Probleme zu lösen, bringen Menschen an den Rand ihrer mentalen, emotionalen und körperlichen Kräfte.   


Negative Auswirkungen von Suchterkrankungen auf die Gesundheit von Angehörigen wurden in verschiedenen Studien konsistent belegt.
Bei Angehörigen Suchtkranker wurden gegenüber Menschen mit vergleichbaren Lebenslagen ohne suchtkranke Angehörige erhöhte Raten an Viktimisierung, Verletzungen, affektiven und Angststörungen, ein reduzierter allgemeiner Gesundheitszustand, deutlich erhöhte medizinische Behandlungskosten und Produktivitätsverluste nachgewiesen (Dawson, Grant, Chou, & Stinson, 2007; Orford, Velleman, Natera, Templeton, & Copello, 2013; Salize, Jacke, & Kief, 2014).
 
Im Zusammenleben mit einem Süchtigen verschieben sich die Rollen, die gesunde Beziehungen ausmachen und tragfähig machen.
Die Angehörigen eines Süchtigen sind Opfer seiner Affekte, seiner Stimmungen, seiner Launen und seiner Unberechenbarkeit sowohl im Rausch und auch wenn er nüchtern ist. Sie sind willkommene Helfer, wenn es ihm schlecht geht und Prellbock für seine Emotionen und Aggressionen wenn er im Rausch ist. Im schlimmsten Falle verkommen Angehörige zur Pflegekraft eines unheilbar Kranken.

Die eigenen Bedürfnisse werden nicht erfüllt, es dreht sich alles um den Süchtigen und sein zwanghaftes Bedürfnis seiner Sucht zu frönen.
Angehörige sind mit ihren Wünschen, ihren Sorgen und Nöten allein. Sie leben in einer tiefen inneren Einsamkeit als Zuschauer und Mitwirkende in einem Drama, das in den meisten Fällen keine Katharsis hat. Sucht ist eine chronische Krankheit, die nicht geheilt, sondern nur zum Stoppen gebracht werden kann. Ein Süchtiger ist ein Leben lang süchtig, egal ob "nass" oder "trocken". 
Die Situation wird, je fortschreitender die Krankheit ist, häufig so belastend, dass sie Angehörige seelisch und in der Folge sogar körperlich krank macht.
Gefühle von Enttäuschung, Verzweiflung,  Angst, Wut, Trauer, Verachtung, Ekel und Ohnmacht machen sich breit und beherrschen das emptionale Erleben. Diese destruktiven Gefühle beeinträchtigen auf Dauer die psychische und  körperliche Gesundheit und können zu psychosomatischen und körperlichen Erkrankungen führen.  

Schuld und Scham
Nicht nur der Süchtige schämt sich und hat Schuldgefühle sobald der Rausch vorbei ist.
Auch die Angehörigen erleben permanent Schuld-und Schamgefühle. Sie schämen sich,  dass der Partner trinkt oder Drogen nimmt. Sie schämen sich, weil sie das mitmachen. Sie haben Schuldgefühle, weil sie nicht helfen können und empfinden sich selbst als Versager oder sogar als Mitschuldige, auch weil der Süchtige ihnen das immer wieder suggeriert. Sie schämen sich, weil sie es nicht fassen können, dass sie sich nicht aus dem kranken Beziehungskonstrukt lösen können. Sie schämen sich, dass ihnen so etwas überhaupt passiert. Sie haben Schuldgefühle, weil sie es nicht schaffen, die Situation zu ändern oder endlich zu gehen und damit gut zu sich selbst zu sein.

Sie schämen sich weil sie irgendwann begreifen, dass sie durch das Leben mit einem Süchtigen zu Co-abhängigen seiner Sucht geworden sind. Und damit auch süchtig. Man spricht daher auch von Co-Sucht.
Viele Co-abhängige ziehen sich zunehmend aus dem sozialen Leben zurück. Freundschaften und Beziehungen zu anderen Menschen werden nicht mehr gepflegt, eben weil sie sich schämen oder weil sie einfach zu erschöpft sind von den Erlebnissen mit dem Suchtkranken und den Gedanken, die sie sich den ganzen Tag um ihn machen. Sie stecken fest in einem trostlosen und kräftezehrenden Leben, indem es kaum noch Freude gibt, sondern überwiegend Leid. Ihre eigenen Wünsche und  Bedürfnisse geraten mehr und mehr in den Hintergrund, sie können sie oft nicht einmal mehr spüren, weil sie innerlich abstumpfen. Eine chronische Erschöpfung, die bis hin zur Depression gehen kann, macht sich breit. Es ist als würde die Sucht des anderen sie mit in den Sumpf des Siechtums ziehen. So ist es auch, schaffen sie es nicht, sich zu distanzieren.

Warum gelingt so vielen Co-Abhängigen die Distanz nicht?
Wie bereits erwähnt, entwickeln sich mit der Zeit Gefühle der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Ausweglosigkeit, der Vergeblichkeit, der Wertlosigkeit, der Schuld, der Scham, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht.
Diese durchweg negativen Gefühle führen dazu, dass der Selbstwert und die Selbstachtung, das Selbstmitgefühl, ganz zu schweigen von der Selbstliebe, verloren gehen. Auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit geht durch das ständige Erleben der Ohnmacht des Helfers verloren.
Der Co-abhängige fühlt sich so wertlos, dass er glaubt nichts Besseres verdient zu haben oder nichts Besseres zu finden. An diesem Punkt angelangt haben Co-abhängige die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. Teil der Sucht geworden, können sie nicht mehr und brauchen Abstand. Da dieser aber praktisch nicht gelingt, sie eine Trennung nicht vollziehen können, reagieren sie mit dem Versuch, sich emotional vom Suchtkranken zu distanzieren. Gefühle wie Verachtung, Ekel und Entwertung des Süchtigen, schaffen aber nur scheinbar Distanz. Die prozesshafte Verstrickung in die Suchtdynamik sorgt dafür, dass die Schuld- und Schamgefühle wachsen.  

Darf man einen kranken zu einem kranken Menschen angreifen, beschimpfen, verurteilen, nein zu ihm sagen, ihn seinem Schicksal überlassen? Darf man ihn verlassen? Und was dann? 
Was verliert man? 
Einen Menschen, den man liebt, dem man so lange zur Seite gestanden ist, dem man so viel Zuwendung, Kraft und Energie geschenkt hat?
Etwas loszulassen wofür man so viel getan hat, einen Menschen loszulassen für den man so viel geopfert hat? Das schafft die Seele nicht ohne Weiteres. Denn das, sagt sie sich, kann nicht sein. 
Es ist das totale Scheitern. Sich das einzugestehen bedeutet den Fall in die Bodenlosigkeit einer Ohnmacht, die unaushaltbar und nicht überlebbar erscheint.

Der Kampf geht weiter. Den Süchtigen zu verstehen, ihn zu beschützen, zu rechtfertigen und zu entschuldigen, ihn anzuklagen, ihn zu hassen, all das zeigt keine Wirkung. Viele Co-abhängige beginnen in ihrer Verzweiflung zu kontrollieren. Sie versuchen beispielsweise das Trinkverhalten des Partners zu steuern oder entwickeln Strategien, um seine Sucht in den Griff zu bekommen. Was jedoch auch nichts hilft. Der Süchtige macht unbeeindruckt weiter.

Immer häufiger hängt die eigene Stimmung von derjenigen des süchtigen Partners  ab.  Die Fähigkeit zur Abgrenzung geht verloren.
Der Co-abhängige ist gefangen in einem intensiven Wechselbad der Gefühle von Hoffnung, Enttäuschung, Wut, Verzweiflung Frust und schließlich Hass. Er beginnt sein Leben und sich selbst ebenso zu hassen wie den Süchtigen. Die ganze seelische Energie ist ebenso wie die Beziehung vergiftet. Beide oder ganze Familien stecken fest im Sumpf des Siechtums.
Übrigens: Hass ist ein ebenso starkes Gefühl wie Liebe. Und er ist nicht das Ende der Liebe wie viele Menschen glauben. Hass bindet Menschen aneinander wie zäher Leim.

Was der Co-abhängige wirklich braucht um sich zu lösen, wäre außer der radikalen Einsicht, dass er selbst wenn er das weiter mitlebt vor die Hunde geht, Gleichgültigkeit gegenüber einem Menschen, der sich selbst zerstört und in Kauf nimmt andere mit zu zerstören. 
Der Verlust an Selbstbewusstsein schreitet weiter fort und die Selbstzweifel wachsen. Immer öfter machen sich der aufgestaute Ärger und die verzweifelte Wut bemerkbar.
Wird die Situation schließlich als untragbar erlebt und sind alle Versuche, dem Suchtkranken zu helfen, erfolglos geblieben, kommt es immer häufiger zu Vorwürfen, Streit und Anklagen.
Die eigene Überforderung wird dem Partner mitgeteilt, es werden Konsequenzen angedroht, die jedoch nicht vollzogen werden. Der Co-abhängige ist am Ende, während der Süchtige seiner Sucht, unbeeindruckt von dessen Leid, weiter folgt.

Was viele Co-abhängige erleben ist:  Sucht ist eine Krankheit, die den Betroffenen so selbstsüchtig macht, dass er blind und taub ist für die Verwüstung, die er anrichtet und die Menschen, die er zerstört.

Gibt es einen Weg aus dem Teufelskreis?
Ja, es gibt ihn.
Angehörige von Süchtigen müssen schließlich, so schmerzhaft und bitter es ist, einsehen und akzeptieren: Einem Süchtigen, der nicht bereit ist aufzuhören, kann man nicht helfen. Man kann nur sich selbst helfen, indem man ihn loslässt, bevor man selbst zugrunde geht.
Alleine und aus eigener Kraft schaffen das jedoch die Wenigsten. Sie brauchen professionelle Hilfe. Und damit müssen sie selbst genau das tun, was sie vom Suchtkranken erwarten -  sie müssen sich auf Entzug begeben.

Ich will nur wissen,
ob du mit dem Scheitern
meinem oder deinem leben kannst,
dass du den Vorwurf des Verrats erträgst
und deine eigene Seele nicht verrätst.



Oriah Mountain Dreamer











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