Dienstag, 26. März 2019

Autophobie, die Angst vorm Alleinsein


Foto: A.W.

Ich halte es mit mir allein nicht aus. Es macht mir Angst allein zu sein. Aus dieser Angst heraus bleibe ich in Beziehungen, die mir nicht gut tun, die mir sogar schaden. Ich habe solche Angst davor allein zu sein, dass ich mich immer wieder auf faule Kompromisse einlasse und leide. Ich will das nicht mehr. Ich kann so nicht mehr leben. Ich gebe mich völlig auf, ich mache Dinge, die ich nicht will, ich verrate mich selbst und ich mag mich selbst nicht mehr, weil ich das tue. Ich tue das, ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich es tue und kann nicht damit aufhören. 

Die Klientin, die das sagt, ist am Ende ihrer Kraft.
Sie ist innerlich zerrissen. Sie befindet sich in einer Phase der Lähmung die sie davon abhält zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Sie findet es unmöglich sich zu positionieren, weder klar für ein Ja noch für ein Nein. Die Angst vor der Entscheidung, die sie zu treffen hat, nämlich die Trennung von ihrem Partner, nimmt sie vollkommen ein. Also trifft sie lieber keine, als eine in ihren Augen schlechte Entscheidung. Sie glaubt nur wählen zu können zwischen Pest und Cholera. Verlässt sie die ungesunde Beziehung ist sie allein, was sie nicht auszuhalten vermag, bleibt sie in der Beziehung, verleugnet sie sich weiter selbst und wird seelisch und/oder im Zweifel sogar körperlich krank. 

Ich bitte sie mir zu sagen, was ihr zu dem Begriff Alleinsein einfällt.

Alleinsein, das ist das Gefühl du gehörst nicht dazu, weil du nicht okay bist. Alleinsein, das fühlt sich an wie Zurückweisung. Du bist aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Du gehörst nicht dazu. Das macht mir Todesangst. Alleinsein macht mir Todesangst.


Aber sie wissen, dass sie am Alleinsein nicht sterben, sage ich. 


Ja, ich weiß das, antwortet sie. Ich war oft genug allein in meinem Leben, aber immer wenn ich allein bin bekomme ich Panikattacken. Ich werde hypochondrisch. Ich denke beim kleinsten Bisschen ich werde unheilbar krank. Das ist wie ein Karussell in meinen Kopf, das sich ständig um die Angst vor Krankheit und Tod dreht. 


Beschreiben Sie mir bitte das Gefühl, sage ich. 


Ich habe das Gefühl unterzugehen, mich zu verlieren. Das ist ein körperlicher Schmerz, so als würde ich innerlich zerreißen. Da ist das Gefühl in einem unendlich großen ungeschützten Raum zu sein, wo keiner mehr ist außer mir. Nichts was mir Halt gibt. Ich sinke. Ich trudele im Leeren. Der Raum hat keinen Anfang und kein Ende. Keinen Fixpunkt. Ich muss sterben. Genauso fühlt sich das an.
 

Die Klientin empfindet Alleinsein als existentielle Bedrohung. Im Verlauf unserer Sitzungen kamen wir der Angst meiner Klientin auf die Spur. Sie leidet an Autophobie.

Die Angst vor dem Alleinsein wird in der Psychologie als Autophobie bezeichnet.  

Der Begriff beschreibt die Angststörung allerdings nur sehr ungenau. Denn gekoppelt an die Angst vor dem Alleinsein ist auch die Angst vor Ablehnung, Trennung und Verlust. Und zwar immer dann besonders, wenn Betroffene in einer Partnerschaft leben und eine zu enge emotionale Bindung an den anderen haben. 
Mit dieser emotionalen Abhängigkeit einher gehen Verlustangst und die Angst davor keine Liebe und keine Aufmerksamkeit mehr zu bekommen. Das starke Bedürfnis nach Halt und Zuneigung läuft ins Leere. Für einen Autophobiker bedeutet das: Ich bin verloren, wenn ich nicht gesehen und nicht geliebt werde. 

Wir alle haben das Bedürfnis zu einem anderen zu gehören, den Wunsch nach Liebe und Zuneigung. Menschen, die all das nie oder nicht ausreichend bekommen haben, brauchen es umso mehr. Daran ist nichts Schlimmes. Es macht auch keinen Sinn sich dafür zu verurteilen oder zu schämen. Bedürfnisse wollen anerkannt werden. Bei meiner Klientin jedoch wirkt die Nichterfüllung ihrer Bedürfnisse wie ein kalter Entzug.
 

Für Menschen, die die Angst vorm Alleinsein nicht kennen ist dies absolut nicht nachvollziehbar. Und für Menschen, die diese Angst haben, ist es schambesetzt mit anderen darüber zu reden. Daher sind sie mit ihrem inneren Drama oft sehr allein. Was die Angst verstärkt. Sie leiden unvorstellbar.

Von einer Autophobie spricht man dann, wenn die Angst vor dem Alleinsein mit Leid verbunden ist.   

Betroffene erleben das Alleinsein als Bedrohung. Mit sich selbst allein fühlen sie sich ausgeschlossen aus dem sozialen Gefüge und absolut hilflos. Die Angst wird dann sogar körperlich spürbar. Sie sucht sich Ausdruck in Panikattacken. Herzrasen, Schmerzen oder Druck auf der Brust, permanent erhöhter Puls, Herzrhythmusstörungen, Gobusgefühl und schnelle Atmung sind nur einige körperliche Symptome. Auf der emotionalen Ebene kommt dann die Angst vor Auflösung hinzu oder das Gefühl ins Bodenlose zu fallen.

Viele Menschen die unter Autophobie leiden haben in der Kindheit emotionale Ausgrenzung, verbale und körperliche Demütigung, Missbrauch, Vernachlässigung, Verlassen werden von einer wichtigen Bezugsperson oder Verlust durch den Tod einer nahen Bezugsperson erfahren.  Andere haben eine zu symbiotische Beziehung zu einem Elternteil. Sie wurden überverwöhnt und haben nicht gelernt mit ihren eigenen Gefühlen umzugehen. Ihnen fehlt die Erfahrung der Selbstregulation und der Selbsteberuhigungskompetenz.


Beide haben eins gemeinsam: Mit ihren Gefühlen waren sie sich selbst überlassen.  Es gab niemanden, der ihnen half diese Gefühle anzuschauen und zu verarbeiten. Es gab keinen menschlichen Bezugspunkt an dem sie sich orientieren konnten. Sie mussten mit dem was ist selbst fertig werden, was sie als Kind natürlich nicht konnten. Sie waren geistig und emotional komplett überfordert. In der Folge versuchen Menschen, die diese existentiell bedrohliche Erfahrung machen mussten, ihr späteres Leben entsprechend so zu organisieren, dass sie das Alleinsein meiden indem sie dafür sorgen immer in einer intimen Beziehung zu sein. Wobei das nicht bedeutet, dass sie nie allein sein können. Sie können durchaus Zeit gut mit sich alleine verbringen, vorausgesetzt sie befinden sich in einer Beziehung. Sie brauchen immer mindestens eine nahe Bezugspersonen als seelischen Halt. 

Nicht selten geraten diese Menschen daher in eine emotionale Abhängigkeit. 
Aber je abhängiger sie werden, desto größer wird die Verlustangst. 
Sie klammern sich an den anderen als ginge es um ihr Leben.  
Jede Zurückweisung, jede Ablehnung von Seiten des anderen fördert die negativen Gefühle bis hin zur ausgeprägten Panik. Der unselige Kreislauf beginnt: Je mehr sie sich an den anderen klammern, desto mehr verlieren sie an Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit. Sie passen sich den Bedürfnissen und Erwartungen des anderen an, nur um nicht allein sein zu müssen. Sie verlieren sich selbst im anderen. Sie geben sich auf, weil sie unbewusst glauben allein unterzugehen. Sie nehmen Dinge in Kauf, die alles andere als heilsam sind ud ihnen schaden, nur um nicht allein sein zu müssen.
Das Fatale ist: Die Betroffenen spüren und wissen meist wie unangemessen ihre Gefühle und ihr Verhalten sind, aber die alte Angst des Inneren Kindes vor Verlust und Einsamkeit ist mächtiger als jedes Wissen und gesunde Selbstfürsorge. 

Negative Erfahrungen und unverarbeitete Erlebnisse aus der Kindheit sind Auslöser der Autophobie.  Diese Erfahrungen wurden tief im limbischen System des Gehirns abgespeichert. Aufgrund dessen sind diese Gefühle weiterhin vorhanden und nehmen Einfluss auf das Leben.

Die Erinnerungen an die längst vergangenen und eigentlich abgeschlossenen Erfahrungen kommen immer wieder hoch sobald eine ähnliche Situation wie damals eintritt. Die alte Angst wird zur Panik im Jetzt. Genau wie es meine Klientin erlebt und beschreibt. Fehlt der emotionale Anker, fällt sie in eine existentiell bedrohliches Loch.

Wie helfen? 
Meine Klientin, die kein Urvertrauen mitbekommen hat, muss lernen sich selbst zu vertrauen. Sie muss lernen Stärke und Halt in sich selbst zu finden. Sie lernt, dass ihre Angst alt ist. Sie lernt, dass sie heute erwachsen ist und nicht mehr das verlassene hilflose Kind, das sie einst war Sie lernt, sich ihrem inneren Kind zuzuwenden, seine Gefühle ernst zu nehmen und mit der Zeit, wenn dieses Kind Vertrauen gefunden hat, wird es spüren, dass es nicht allein ist, niemals, denn die Erwachsene ist eine hinreichend gute Mutter, die es halten kann. Zudem sind auch Achtsamkeitsübungen und Meditation sehr hilfreich, denn sie sind elementare Methoden zur Selbstberuhigung.
Das ist ein langer Weg.
Es reicht bei weitem nicht aus zu wissen, woher die Angst vor dem Alleinsein kommt. Sicher ist es in den meisten Fällen sinnvoll, ursachenorientiert vorzugehen und die traumatischen Erfahrungen zu bearbeiten und zu verarbeiten. Dies ist ein wichtiger erster Schritt um bewusst Distanz zu den Angstgefühlen einnehmen zu können, aber entscheidend ist: Es geht für meine Klientin darum fühlen zu lernen, dass sie alleine nicht untergeht.  
Ich gebe Ihr Hausaufgaben.
Ich zeige ihr Übungen um mit der Angst umgehen zu lernen. Sie lernt, dass sie nicht ihre Angst ist, sondern Angst hat. Und dasss sie sie aushalten kann, ohne sich von ihr überfluten zu lassen.

Ich schlage ihr vor,  sich selbst wenn die Angst kommt zu fragen: Wie groß ist gerade meine Angst vor dem Alleinsein und welche Reaktionen (körperlich, emotional, Handlung) folgen darauf? Es ist hilfreich die Antworten auf diese Fragen in einem Angsttagebuch festzuhalten und dieses solange zu führen, bis eine Besserung  verspürt wird. Je öfter und je länger sie die Zeit des Alleinseins aushält und sich der Angst stellt, mit ihr arbeitet und erkennt, dass keine reale Gefahr droht, desto mehr lässt die Angst nach. 

Um mit dem Alleinsein besser leben zu können ist es notwendig Bindung nicht nur zu einem Menschen aufzubauen, sondern sich ein soziales Netz zu schaffen. Hilfreich ist jedoch vor allem  die Arbeit mit dem verletzten Inneren Kind, das nie gelernt hat, sich selbst zu vertrauen. Dieses Kind darf erfahren, dass es nicht allein ist, dass es gehalten wird und zwar von einem starken inneren Erwachsenen. Diesen gilt es zu stärken. Es ist möglich, auch wenn es Zeit, Übung und viel Geduld braucht.Und ja, diese Angst wird vielleicht neimals ganz weggehen, aber wir können lernen uns von ihr nicht mehr beherrschen zu lassen. Sie zu akzeptieren als einen Teil von uns, der eben da ist, aber nicht mehr diese immense Macht hat. Wir können lernen ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Und das ist viel.







  

4 Kommentare:

  1. Guten Tag Frau Wende,
    wieder ein Beitrag, in dem ich mich wiederfinde und der mir hilft.
    Eine Steigerung ist dann noch, wenn dies zu einem "Klammern" an den Partner/die Partnerin führt und diese(r) dadurch auf Abstand geht und so ein Teufelskreis in Gang kommt.
    Mir hat in solchen akuten (Angst-)Situationen die EFT-Klopftechnik geholfen, wenigstens den ganz akuten Zustand zu entschärfen und verlassen zu können. Vielleicht ja auch für andere LeserInnen eine Möglichkeit. Eine Anleitung findet sich unter https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/emotional-freedom-technique-klopf-akupressur-100.html

    Danke für den Artikel und Gruß
    Diana

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  2. Ja das kenne ich, immer wenn mir solche Gedanken kommen versuche ich mich sofort abzulenken indem ich produktives mache.Beim letzten Mal habe ich zum Beispiel unseren Sonnenschirm neu bespannen lassen .Klammern hilf aber niemanden!Liebe Grüße Ona

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  3. Liebe Frau Wende, ich mag Ihre Blogartikel sehr und lasse Ihnen einfach mal ein "Danke" da für die Mühe, die Sie sich machen. :-) Herzliche Grüße!

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