Sonntag, 9. März 2014

Fang jetzt an!



das meiste ist gelebt, sagte er zu mir, mit einem wissenden blick in den ruhigen augen.
er ist siebzig jahre alt, er weiß wovon er spricht.
ich weiß, antwortete ich. sicher weiß ich es, jetzt weiß ich es und schon früher wusste ich es. schon als kind wusste ich, dass mein leben endlich ist. ich erinnere mich an die große angst, die mich überflutete in manchen nächten wenn ich in einem bett lag und über das sterben und den tod nachdachte. es war das unfassbare, das unvorstellbare, das nicht greifbare ungewisse dieses endlichen, das allem ein ende setzen würde und dieses antwortlose - was dann?, das mich nicht los lies, als ich beim tod meiner großmutter zum ersten mal begriff, dass ein mensch aus meinem leben geht und nie mehr wiederkommt.

seltsamerweise gingen meine gedanken niemals über das was nicht mehr sein würde hinaus. was mich  beschäftigte war, dass ich nicht mehr aufstehen würde am morgen, mir nicht mehr die zähne putzen würde, nicht mehr mein pausebrot in den schulranzen packen würde und nicht mehr die strumpfhosen tauschen würde, sobald die erste wärme des frühling kam und ich heimlich die kniestrümpfe anzog, die ich in meiner jackentasche versteckt und mitgenommen hatte. ich erstarrte fast bei dem gedanken, dass ich nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, nichts mehr hören, nichts mehr riechen und nichts mehr fühlen würde. wobei letzteres mich ein kleines bisschen beruhigte, ich würde nichts mehr fühlen, also würde mir auch nichts mehr wehtun. aus, alles aus, hämmerte sich die angst aus der dunkelheit meines zimmers  in meinen kleinen kopf und ich weinte wie ein schlosshund in mein kissen um irgendwann erschöpft in den schlaf zu fallen.

vielleicht ist es mit dem tod wie mit den schlafen, dachte ich am morgen nach einer solchen nacht. du wirst nur einfach nicht mehr wach. dieses sterben beschäftigte mich immer wieder und nie ließ es mich los. ja, ich weiß es, ich bin mir jeden einzelnen tag darüber bewusst, dass es kommen wird, dass es mich überraschen wird, egal wann und wie es kommt und in welcher gestalt, und dass ich nichts, aber auch nichts dagegen tun kann, nicht gegen mein sterben und nichts gegen das sterben und den tod der menschen, die ich liebe.

wie kommt jemand an einem so schönen frühlingsmorgen auf einen solchen gedanken, hat die nichts schöneres im sinn oder besseres zu tun, jetzt wo draußen alles aufblüht und zu neuem leben erwacht. gerade deshalb kommt sie auf einen solchen gedanken, weil sie nicht weiß, wie viele dieser frühlingstage sie noch erleben darf, wie viele tage ihr noch bleiben, weil das meiste gelebt ist, und weil sie sich fragt, was sie mit der verbleibenden zeit anfangen soll, weil sie sich fragt: was ist wirklich wichtig und was will ich noch tun, bis ich nichts mehr tun kann.

das meiste ist gelebt, seine worte klingen nach, bis in meinem morgen, bringen gelebtes in erinnerung und noch ungelebtes in mein bewusstsein. was habe ich all die jahre getan, bin ich glücklich, bin ich zufrieden, habe ich meine träume gelebt, kann ich sagen, ich liebe mein leben? habe ich genug geliebt, bin ich genug geliebt worden, habe ich etwas sinnvolles getan, das über mich selbst hinausgeht, habe ich etwas geschaffen was bleiben wird und welche fehler waren so folgenschwer, dass sie mich bis in mein jetzt nicht loslassen. lege ich mein gelebtes leben auf die waage und nach welchen kriterien wäge ich ab?

an diesem morgen holt mich die vergangenheit ein und was ich sehe, in allem sehe, wenn ich darauf blicke ist fülle. ein volles leben liegt in diesem halben jahrhundert, mit unendlich viel von all dem, was ein mensch erleben und erfahren kann. ja, so fühlt es sich an, mein leben und nein, ich werde nicht abwägen, nicht nachprüfen, wie viel an gutem und wie viel an ungutem darin ist.

aber, ich werde nachdenken über das, was nach dem meisten noch kommen soll und sehr achtsam entscheiden, was ich noch zu tun habe und tun will, um am ende im frieden mit mir selbst und meinem leben, gehen zu können. es ist viel ungelebtes was da noch ist, denke ich an diesem morgen, und ich habe angst wie ich sie als kind hatte, nur dass sie mich nicht mehr überflutet, denn jetzt bin ich groß und kann mit ihr umgehen. wir sind auf augenhöhe, denn heute weiß ich, meine angst hat auch ihr gutes,  sie sagt mir: tu was du liebst, was dich erfüllt und was sich für dich gut und richtig anfühlt - und vor allem - fang jetzt an!


4 Kommentare:

  1. Liebe Angelika,
    ja, der Tod lebt mit uns, neben uns, in uns. Niemand weiß, wann er uns holt.
    Hierbei ist die Frage des Warum komischer Weise schon vorab geklärt.
    Meine Lebensmaxime ist auch: Lebe jeden Tag so, damit du ihn nicht bereust
    und sagen kannst, du hast ihn heute wieder gelebt.
    Der Tod fragt nicht. Und weißt du, was ich immer denke, wenn junge Menschen sterben? Sie leben länger in der Ewigkeit. Vielleicht gar kein so schlechter Trost. Zumindest für mich.

    LG, Edith

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  2. liebe edith,

    wie gern möchten das viele von uns, nichts bereuen, wie edith piaf es in ihrem lied singt, aber menschlich ist, wir bereuen so manches, oder?

    was den tod angeht: heaven can wait :-)

    herzlich, angelika

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  3. Weil alles menschlich ist. Deshalb. Der Mensch macht Fehler. Selbst, wenn er keine Fehler macht, quält ihn oft Reue, weil er die Reaktion seines Gegenüber nicht versteht. Weil sein Gegenüber ihn nicht verstanden hat.
    Auch Reue ist menschlich, Reue gehört zu unseren Gefühlen. Und damit können wir doch gut leben, oder? Es zeigt doch, dass wir fähig sind, zu empfinden. Was es auch immer sei...

    Danke du Liebe, ich mag den Austausch mit dir sehr.

    herzlichst, Edith

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