Heute Morgen stand ich mit einer Mischung aus Zweifeln und Neugier
vor den letzten ungeöffneten Umzugskartons, prall voll mit einer Unzahl an Tagebüchern, in meiner neuen Behausung.
Ich habe lange überlegt, ob ich die Kartons samt Inhalt einfach in
die Tonne werfen soll. Ich bin im Reduzierungsmodus und das, dachte ich, ist
doch eine gute Gelegenheit mich von Ballast zu befreien, der
mir Platz nimmt für das Neue, das in mein Leben treten soll. Reduzieren heißt nichts anderes, als Platz
schaffen, für die Dinge, die wir wirklich brauchen. Also, habe ich mich gefragt:
Hand aufs Herz, brauchst du die alten Tagebücher wirklich?
Die Neugier war stärker als der Wunsch nach Reduktion. Also habe ich einen Karton geöffnet, eins meiner alten Tagebücher herausgenommen, mich in den Sessel in meinem Arbeitsraum gekuschelt und die erste
Seite aufgeschlagen. Eine Stunde später hatte ich es ausgelesen. Es war
erstaunlich zu erfahren wie ich vor noch nicht allzu langer Zeit gefühlt und gedacht
habe, über die Dinge wie sie sind und wie sie nicht sind und ich stellte fest, es hat sich eine Menge verändert in meinem Denken und Fühlen seit damals. Ich
war zufrieden mit dieser Erkenntnis und dachte: „Wow, du hast eine erstaunliche
Entwicklung gemacht.“ Zur Belohnung gab es einen zweiten Milchkaffee und ein „Danke!“
ans Universum.
Schreiben ist autobiografische Selbstreflexion. Das kann jeder
bestätigen, der Tagebuch führt. Wenn wir unsere Erlebnisse und Erfahrungen schreibend aufgreifen und
niederschreiben tun wir Zweierlei: Wir gestalten, Wort für Wort, in geschriebener
Sprache, und damit sind wir schöpferisch tätig. Tagebuch schreiben ist viel mehr
als uns Worte gefügig zu machen um unser Innerstes auf weiße Seiten zu
bannen, es ist ein Tauchgang in die eigene Tiefe.
Wenn wir über das schreiben, was uns bewegt, halten wir nicht nur
fest, was uns im Leben begegnet, wir holen quasi absichtslos unser Unbewusstes
nach oben, wir entdecken unsere unbewussten Neigungen und Wünsche. Der kontinuierliche
Schreibprozess führt uns immer wieder zu ähnlichen Themen, die in unserem Leben
eine wichtige Rolle spielen. Wir erkennen zum Beispiel, was uns fehlt und was
wir wirklich wollen.
Tagebuch schreiben erweitert und öffnet die Sicht auf die Anteile unseres Wesens, die im Alltagstrott untergehen. Es ist nicht
neu, dass sich dieses Phänomen therapeutisch nutzen lässt. Ähnlich wie das
Gespräch in der Therapiestunde ist Schreiben eine Form des Selbstausdrucks. Wir drücken aus was sich im Laufe des Tages in uns eindrückt und durch den Akt des Niederschreibens entlasten wir uns von Bedrückendem. Wir kommen ins Handeln, indem wir aufschreiben was in uns vorgeht, und das
Wunderbare ist – wir fühlen und sehen das Ergebnis unseres Handelns unmittelbar.
Wir geben unserer Kreativität Raum während die Hand mit dem Stift über das
Papier gleitet und wir verwandeln uns gleichzeitig in den Beobachter unserer
eigenen kleinen Welt, innen wie außen, wir bekommen nicht nur Einsichten in das
Beobachtete, wir kommen uns selbst näher – unseren wahren Gefühlen und Gedanken,
unseren Hoffnungen und Wünschen, unseren Freuden und unseren Ängsten
und auch den Dingen, von denen wir mehr machen und jenen, die wir lassen
sollten.
Einem guten Freund hat das Schreiben sogar zu einem Wunder
verholfen. Er hat es geschafft mit Hilfe des Tagebuchschreibens sein Alkoholproblem
in den Griff zu bekommen, weil er es nicht mehr ertragen konnte, dass er jeden
Morgen nach einem versoffenen Abend hineinschrieb wie mies er sich nach dem
Aufwachen fühlt und wie ungut das Gift für seinen Körper, seine Seele und seine
Beziehungen ist. Bis heute ist er trocken.
Das Wunder beim Schreiben ist – wir sind ehrlich zu uns selbst, wir
müssen uns nicht verstellen, nichts verschweigen, was nicht sein darf oder von
anderen nicht gehört werden darf, wir kommen zu unserer eigenen Wahrheit und sie liegt vor uns, schwarz auf weiß. So klar,
dass wir die Augen nicht mehr davor verschließen können und irgendwann ändern,
was zu ändern ist und tun, was zu tun ist.
Worte sind eine Form des Handelns und sie sind fähig Veränderungen
zu bewirken.
Das Tagebuchschreiben ist eine Kraftquelle und zugleich eine wirksame Methode
unsere Kreativität zu pflegen oder wenn sie blockiert ist, wiederzuerwecken.
Ich schreibe Tagebuch seit ich denken kann und ich schlage jedem meiner
Klienten vor es zu tun. Es ist ungeheuer befreiend all das Zeug niederzuschreiben,
das zwischen uns und unserem Leben steht, dem Leben, das wir uns wünschen und
das wir verdient haben, weil wir wertvoll sind. All das Wertlose ist das kleinliche, sinnlose, ärgerliche, Wut und Frust machende Zeug, das wir
zulassen, weil wir es im täglichen Hamsterrad gar nicht mehr bewusst wahrnehmen.
Tagebuchschreiben fördert die Wahrnehmung und zwar auf das Unwesentliche und auf das Wesentliche.
Tagebuchschreiben fördert die Wahrnehmung und zwar auf das Unwesentliche und auf das Wesentliche.
Nun meint so mancher: "Ich kann nicht schreiben, ich habe es nicht
mit den Worten, oder: "Das muss doch gut klingen, was ich da rein schreibe und
außerdem, für so was habe ich keine Zeit."
Ist das wirklich wahr?
Nein.
1. Jeder kann schreiben. Es ist das Erste, das wir lernen, wenn
wir in die Schule gehen.
2. Wir alle haben es mit den Worten, sie sind das Mittel, das wir
jeden Tag benutzen um in dieser Welt zu kommunizieren, meist mit anderen. Also warum nicht mit dem wichtigsten Menschen in unserem Leben
kommunizieren?
3. Wir haben Zeit! Ziehen wir die Zeit ab, die wir an Unwesentliches
verschwenden, haben wir unendlich viel Zeit und damit auch Zeit für uns
selbst.
Tagebuchschreiben ist Nahrung für die Seele, allein dadurch, dass
wir sie hören und dadurch, dass sie gehört werden darf, endlich und zwar mit Allem was sie beschäftigt, im Guten wie im Unguten. Das Tagebuch ist kein Zensor, es ist ein geschützter Raum in dem
alles, aber auch alles, seinen Platz haben darf, es ist ein Ort, an dem wir unser
reizüberflutetes Gehirn entmüllen dürfen und zwar ohne Wertung von Außen und
von Innen, sprich – durch uns selbst. Es geht nicht darum uns wieder einen Platz zu suchen,
an dem wir uns selbst beurteilen oder verurteilen für das, was nicht ist und
was wir nicht sind, oder für das, wie wir es gern hätten und wie wir gerne
wären – es geht darum einen sicheren inneren Ort zu besitzen, der uns als der
Mensch aufnimmt, der wir zu diesem Zeitpunkt, an dem wir schreiben, sind.
Das Tagebuch ist ein Ort, an dem wir mit uns selbst in Verbindung treten.
Das Tagebuch ist ein Ort, an dem wir mit uns selbst in Verbindung treten.
Aus all diesen Gründen ist das Führen eines Tagebuchs eine der hilfreichsten
Methoden um Ordnung in unser Innenleben zu bringen. Indem wir schreibend über
uns selbst nachdenken gegen wir einen kreativen Weg der uns hilft unsere
eigene Identität fassbar zu machen. Und das Beste an allem: Schreiben hat etwas zutiefst Meditatives
und führt zur Stressreduzierung.
Ach, fast hätte ich es beim Schreiben vergessen – ich habe die
Kartons in aller Muße ausgeräumt und mein in Worte gefasstes bisheriges Leben
mit Achtung und Dankbarkeit behutsam ins Bücherregal gelegt.
Ich schreibe auch Tagebuch, d. h. Tagebücher. Meins schreibe ich noch täglich. Die meiner Mädels habe ich geführt bis zu deren 18. Lebensjahr.
AntwortenLöschenEs war stets eine Menge *Arbeit*, eine Zeitfrage oft. Doch keinen Tag habe ich ausgelassen. Dann, zu den 18. Geburtstagen, habe ich die Tagebücher zum Geschenk gemacht. Noch heut sprechen meine Mädels vom besten Geschenk des Universums, lächel. So wissen sie das erste Lächeln, das Zahnen, den ersten Töpfchengang usw... Erinnerungen, die sie nicht bewusst erlebten und jetzt so gut nachvollziehen können....
LG, Edith
... das beste geschenk des universums :-)
AntwortenLöschenlg angelika