Freitag, 8. April 2011

Elsa

Elsa schiebt die schweren Vorhänge zur Seite. Sie macht das Fenster auf. Ein blasser Sonnenstreifen legt sich auf die Fensterbank. Sie sieht ihm dabei zu, wie er eine weiße Linie über den abgetretenen braunen Teppichboden zieht. Nach Tagen scheint endlich wieder die Sonne. Über eine Woche hat es in Strömen geregnet. Wenn es regnet verlässt Elsa die Wohnung nicht mehr.
 
Ihr Blick fällt auf den Kalender. Dienstag. Dienstag ist Markttag. Um die Zeit, wenn Elsa zum Park geht räumen die Marktleute ihre Stände weg, packen die übrig gebliebene Ware in die Lieferwägen. Elsa hebt auf, was noch essbar ist. 

Wenn es nicht regnet geht sie jeden Tag in den Park. Elsa frühstückt räumt auf was aufzuräumen ist. Die Wohnung ist klein. Sie braucht trotzdem lang. Alles fällt schwerer in letzter Zeit, auch das bisschen aufräumen. Gegen Mittag zieht sie den Mantel über und legt das kleine karierte Kissen in die Einkaufstasche. 

Vor der Haustür bleibt sie stehen und atmet die feuchte Luft ein. Sie riecht klar und sauber. Elsa geht am Teich vorbei zum Spielplatz. Sie legt das Kissen auf die Bank, die gegenüber dem Sandkasten steht, setzt sich. Sie sieht den Kindern beim Spielen zu. Mit ihren bunten Schaufeln schütten sie Sand in bunte Formen, beim Umdrehen und kippen kleine Sandkuchen auf die Umrandung. Es dauert nicht lange und sie hauen sie mit der Schaufel kaputt. Elisa will auch etwas kaputt hauen. Sie weiß nicht was.

Zwei Jungen graben Tunnel in den Sand, ziehen schmale Strassen und fahren mit ihren Baggern und Lastwägen aus Plastik darauf herum. Brumm, brumm und wieder von vorn, brumm, brumm.

Der Spielplatz ihr Elsas zweites Zuhause. Hier ist es gut. Sie ist allein ist, Fühlt sich nicht allein, weil da die Kinder sind. Sie hat ihren Sohn allein groß gezogen. Der Vater ging fort, bevor Martin geboren wurde. Als ihr Bauch immer dicker wurde hat er sich eine andere gesucht. Er hat gesagt, dass ihm der Bauch Angst macht und dass er das nicht kann, ein Vater werden oder einer zu sein. Er sprach von seiner Freiheit. Sie ließ ihn frei. 

Als Martin auf der Welt war, war alles gut. Martin war nie schwierig, als hätte er gespürt, dass es alles nur verkompliziert hätte. Sie verbrachte jede freie Minute mit ihm. Das war so, bis er seinen Hauptschulabschluss machte. In der Lehre war er dann schnell selbstständig geworden. Elsa vertraute ihm und ließ ihn seine eigenen Entscheidungen treffen. Martin hat sie nie enttäuscht.

Mit neunzehn hat er Maja getroffen. Zwei Jahre später ist er mit ihr und den beiden Kindern nach Australien gezogen. Es geht ihnen gut. Elsa war nie in Australien. Man hat die Kinder nur geliehen. Das hatte sie einmal in einem Buch gelesen und es sich zu Herzen genommen.

Im Sandkasten streiten sich die beiden Jungen um einen Bagger. Der eine hält mit verkrampften Händen die Räder fest, der andere zieht am Führerhaus. Sie kreischen und heulen. Eine Mutter schreit, sie sollen sofort aufhören, sonst sei Schluss mit Spielen. Der kleinere Junge lässt los, rennt zu seiner Mutter und klettert auf ihren Schoß. Die Mutter wischt ihm mit einen Tuch über das verheulte Gesicht und drückt ihm eine Brezel in die Hand. Elsa hat Martin immer getröstet, wenn er traurig war oder sich wehgetan hatte. Sie hat ihn in die Arme genommen und ihn gehalten bis er sich beruhigt hat. Sie findet es schade, dass sie sich nicht um ihre Enkel kümmern kann. Sie ist froh, dass es allen gut geht und dass sie gesund sind. Gesundheit ist das Wichtigste. Das Schlimmste ist Krankheit. 

Der Arzt sagt, der Tumor in ihrem Kopf wird sie umbringen, das sie noch mehr Schmerzen bekommen wird, am Ende blind wird. Sie hat das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen. Sie will die Zeit, die ihr noch bleibt, zu Hause sein. Gegen die Schmerzen nimmt sie Tabletten. Der Gedanke an das Sterben macht ihr keine Angst, nur im Krankenhaus will sie nicht sterben.

Elsa weiß nicht, wie sie es Martin sagen soll. Sie muss es ihm sagen. Es nicht sagen geht nicht. Er wird sich wundern wenn die Briefe ausbleiben und die Päckchen mit den Geschenken für die Kinder. Sie hat alles geregelt. Ihr Testament liegt beim Notar, das Grab auf dem Friedhof ist bezahlt. 

Elsa fröstelt. Der Spielplatz ist fast leer. Ein kleines Mädchen sitzt noch auf der Schaukel. Ein kräftiger Junge stößt es lustlos an. Der Himmel hat sich zugezogen. Es wird wieder regnen. Elsa sieht auf ihre Armbanduhr. Zeit nach Hause zu gehen und das Abendessen zuzubereiten. Sie isst an dem kleinen Tisch, der vor dem Sofa steht und sieht dabei fern. 

Elsa spürt die Müdigkeit als sie durch die Straßen geht. Eine bleischwere Müdigkeit, die bleibt, auch nach dem Schlaf. Die Straßenlaternen tauchten die Häuser in ein diffuses Licht. Elsa mag die Dämmerung nicht. Heute hat sie die Dämmerung überrascht. Sonst geht sie heim, wenn es noch hell ist. Dämmerung hat etwas von Abschied. Wieder ein Tag der geht. Elsa mag keine Abschiede. Das ist so seit sie ein Kind war, nur dass sie damals noch keinen Namen für das Gefühl hatte, das sich in ihr ausbreitete wie ein dunkles Loch. 

Als Martin neun Jahre alt war hat sie den Mann kennen gelernt. Er war Maler und jünger als sie. Einmal hat er sie malen wollen. Elsa wollte keine Momentaufnahme ihres Gesichts. Er hat sie überredet es doch zu wollen. Das Bild hängt im Wohnzimmer über dem Sofa. Elsa jung und schön. Fremde Elsa. Fremd und schön wie der Mann, der sie verlassen hat, weil Martin ihn nicht mochte. Martin hasste den Mann und dann hasste der Mann Martin und dann hasste er Elsa, weil sie daran nichts ändern konnte. Sie hat den Mann nicht vergessen. Vielleicht weil sie immer nachdem sie miteinander geschlafen hatten weinen musste. Der Mann hatte sie gefragt, warum sie nach so etwas Schönem weint. Es sei wegen der Vergänglichkeit, hatte sie geantwortet.

Nachdem er fort war gab es keinen Mann mehr. Ihre Freundin Thea warf ihr einmal vor, dass sie eine Trotzhaltung der Liebe gegenüber eingenommen habe und dass das ungesund sei. Thea ist tot. Es gibt niemand mehr, der Elsa etwas vorwerfen kann. 

Seitdem schreibt sie in ein Tagebuch. Es gefällt ihr, wenn die schwarze Tinte aus dem Füllfederhalter Buchstabe für Buchstabe auf das weiße Blatt malt. Es fühlt sich an, als ob ihr jemand beim Leben zuschaut.

Elsa holt den Schlüssel aus der Handtasche. Im Hausflur riecht es nach Bohnerwachs. Schwerfällig schleppt sie sich die drei Treppen zur Wohnung hoch, schließt die Tür auf und schaltet das Flurlicht an. Sie zieht die Stiefel aus und stellt sie auf die kleine Fußmatte mit der Sonnenblume in der Mitte. Elsa mag Sonnenblumen. Der Mann hat ihr Sonnenblumen geschenkt, all die Sommer, die er da war. Langsam öffnet sie die Knöpfe des grauen Wollmantels und hängt ihn an die Garderobe. In der Küche dreht sie den Thermostat der Heizung hoch. Tagsüber dreht Elsa die Heizung runter um Geld zu sparen.

Auf dem Herd steht die Hühnersuppe vom Vortag. Sie schaltet den Herd an, holt Brot aus dem Kasten und schneidet eine Scheibe ab. Sie nimmt einen Teller aus dem Küchenschrank und einen Löffel aus der Schublade. Der Druck in ihrem Kopf tut weh. Später wird sie die Tabletten nehmen. Sie setzt sich an den Küchentisch und wartet, dass die Suppe heiß wird. 

Auf dem Küchenregal steht das Foto von Martin. Elsa steht auf, nimmt es herunter, küsst es mitten auf den strahlenden Mund. Das Telefon klingelt. Elsa geht in den Flur und hebt den Hörer ab. Die Stimme ist leise, sie kann erst gar nicht verstehen, wer am anderen Ende der Leitung ist. Hallo? Mama? Mama, geht es Dir gut? Aber ja, ja es geht mir gut, Martin. Sie spricht ganz laut, damit er sie hören kann. Australien ist weit. Wie geht es Dir, Junge? Uns geht es gut. Mama. Ich habe letzte Nacht von Dir geträumt, es war kein guter Traum. Geht es Dir wirklich gut? Aber sicher, mach Dir keine Sorgen, Junge. 

Es ist der Moment wo sie es ihm sagen könnte. Sie kann es nicht, kann nicht sagen, dass sie sich wünscht, ihn zu sehen, bevor. Dann ist es gut Mama. Ich habe mir Sorgen gemacht, es war so ein seltsames Gefühl, Du weißt schon, so eine Ahnung. Du hast Dich geirrt, es ist alles in Ordnung. Es ist gut. Dann bin ich beruhigt, Mama. Ich soll Dich von Maja grüßen und von den Kindern. Ja, grüß sie auch schön von mir und passt auf Euch auf! 

Eine Weile ist es still. Mama, ich liebe Dich. Ich liebe Dich auch, mein Junge. Elsa legt den Hörer auf und geht in die Küche. Sie schaltet den Herd ab und legt die Brotscheibe zurück in den Brotkasten. Sie geht ins Schlafzimmer und holt den Koffer vom Schrank. Mit einem Schwung wirft sie ihn aufs Bett. Die Staubflocken fliegen herum wie kleine Vögel und tanzen. Elsa lächelt und beginnt zu packen. Morgen früh wird sie zur Bank gehen und ihr Erspartes abheben, sie wird in ein Reisebüro gehen und sich ein Ticket kaufen. One way. Dann tut es im Kopf einen Schlag.