Samstag, 31. August 2024

Es ist vorbei!

 

                                                                   Foto: Pixybay

 

Solange wir an unser Trauma gebunden sind, erzählen wir die immer gleiche Geschichte. 

Wir erzählen sie zwanghaft und voller Emotionen. Wir sind überwältigt, jedes Mal, wenn wir sie erzählen. Wir sind im Sog der Vergangenheit gefangen. Wir sind Opfer unserer Vergangenheit und darin sind wir stecken geblieben. 

Wir stecken fest im Morast dessen, was uns hat leiden machen. Jede krampfhafte Bemühung herauszukommen endet damit, dass wir weiter in den Sumpf gleiten. Der Sumpf ist längst der Ort an dem wir zuhause sind. Wir waten darin, baden darin. Wir sinken tiefer und tiefer. Wir hassen es wie es ist, aber wir schaffen es nicht – wir können uns nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. 

Und wieder erzählen wir unsere Geschichte und wieder sinken wir tiefer und bleiben, was wir sind, Verlorene, verletzte Wesen, die sich an den letzten Stohhalm der Hoffnung klammern um nicht endgültig im Schlamm zu versinken. Wir wollen doch nur leben, ohne den Schmerz der Vergangenheit. Aber es wird nicht anders -  wir sinken, tiefer und tiefer.

 

Vielleicht geht es so: Wir erzählen die Geschichte anders.

Wir nehmen Distanz ein zu unserer Vergangenheit, wir lassen uns nicht mehr in ihren Sog ziehen, wir begeben uns an einen anderen, einen besseren Ort.

Erst in Gedanken, dann mit dem Körper, dann mit dem Gefühl. 

Und irgendwann sind wir raus aus dem Sumpf, auf festem Boden. 

Das geschieht, wenn wir mit vollem Bewusstsein in der Gegenwart ankommen und begreifen: Es ist vorbei!

Möge es so sein.

 

 

Donnerstag, 29. August 2024

Wie du mit dir selbst sprichst, macht etwas mit dir

 

                                                                Foto: Pixybay

 
Worte sind mächtig.
Worte können Menschen beschädigen und aufrichten.
Wie wir miteinander sprechen, macht etwas mit uns.
Wie du mit dir selbst sprichst, macht etwas mit dir.
 
Viele Menschen neigen dazu nicht sonderlich gütig mit sich selbst zu sprechen. Viele von uns kennen negative Selbstgespräche gut. Wir wissen, sie tun uns nicht gut.
Ganz einfach deshalb, weil aus etwas Ungutem nichts Gutes entsteht.
 
Negative Selbstgespräche entspringen unseren Gedanken und sind keine Fakten. 
Negative Gedanken sind oft unheilsame Glaubenssätze, die wir schon früh verinnerlicht haben. Wie das Wort schon sagt: Wir glauben diese Sätze, je öfter wir sie wiederholen, umso mehr. Manche sitzen so tief in uns, dass sie sehr hartnäckig sind. Glaubenssätze gehören zu inneren Anteilen, die sich meist sehr früh herausgebildet haben. Es ist nicht leicht diese Anteile zu erkennen, aber es lohnt sich, sie zu erforschen um ihre Intention zu verstehen, warum sie wie mit uns sprechen. 
 
Negative Selbstgespräche werden zu Gewohnheiten.
Unser Hirn liebt Gewohnheiten und spult sie automatisch ab.
Aber: Gewohnheiten, auch gedankliche, lassen sich ändern. Unser Gehirn hat die Fähigkeit bis ins hohe Alter umzulernen. Umlernen beginnt mit achtsamer Wahrnehmung, heißt: Wir beginnen bewusst darauf zu achten, was wir so den Tag über zu uns selbst sagen. Wer sich die Mühe machen will, kann das mal aufschreiben. 
 
Achtsame Wahrnehmung unserer negativen Selbstgespräche gelingt mit Übung
Und ja, es macht ein bisschen Arbeit. Es lohnt sich aber, denn wie gesagt: Gedanken und Glaubenssätze sind veränderbar. Hier sind zwei kleine Übungen um gütiger mit dir zu sprechen:
Immer wenn du merkst, dass du dich selbst gerade wieder beschimpfst, demotivierst, kritisierst oder so richtig runtermachst, könntest du versuchen zunächst einmal zu relativieren.
Anstatt: „Du schaffst das niemals!“
„Du schaffst es gerade noch nicht.“
Oder ...
Du stellst dem Glaubenssatz eine Frage:
„Du schaffst das niemals!“
„Woher willst du das wissen?“
 
Hilfreich ist es auch, der inneren Stimme, die einem inneren Teil entspringt, einen Namen oder ein Gesicht zu geben.
Wenn sie wieder laut wird, kannst du z.B. sagen: „Aha, Madame Meckerliese meckert wieder.“ Oder: „Interessant, der kleine Drache spukt wieder Feuer.“
Schon diese kleinen Interventionen können helfen um Distanz zu einem inneren Teil einzunehmen, heißt: Du identifizierst dich nicht mehr vollkommen mit ihm und dem, was er plappert.
Hab bitte Geduld, Respekt und Mitgefühl mit dir selbst, auch wenn es dauert gütiger mit dir selbst zu sprechen. Veränderung ist ein Prozess: Dieser braucht Zeit und vor allem Kontinuität. 
Also üben, üben, üben …
Was wir üben und wiederholen lernt unser Gehirn.
 
“Unsere Anteile können manchmal störend oder schädlich sein, aber sobald sie entlastet sind, kehren sie zu ihrer wesentlichen Güte zurück. Wenn wir lernen, alle unsere Teile zu lieben, können wir lernen, alle Menschen zu lieben – und das wird zur Heilung der Welt beitragen.” 
 
Richard C. Schwartz
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Mittwoch, 28. August 2024

Aus der Praxis: Entgiften

                                                                    

                                                            Zeichnung: A.Wende

 

 
Beziehungen enden. 
Gute Beziehungen enden meist im Guten, toxische Beziehungen enden immer toxisch.
Fatalerweise ist neben dem Liebeskummer nach dem Ende der toxischen Beziehung das Gift nicht sofort aus unserer Seele und unserem Körper verschwunden. Es ist wie beim Alkoholiker, der nichts mehr trinkt, aber immer noch Saufdruck hat. Die Sucht ist gestoppt, aber das Verlangen nicht. Der Süchtige ist zwar trocken, aber seine Gedanken drehen sich noch immer um den Alkohol, jetzt, weil er ihn nicht mehr trinken kann. Die Sehnsucht nach dem Glücksgefühl des Rausches beherrscht sein Denken und sein Fühlen. Der Verzicht ist ein Ritt durch die Hölle.
Der Körper schreit nach dem Hormoncocktail, den ihm die toxische Beziehung mit dem Alkohol durch ihre Ups und Downs verschafft hat. Adrenalin, Cortisol, Noradrenalin im steten Wechsel mit Dopamin und all den anderen herrlichen Glückshormonen woran sich der gesamte Organismus gewöhnt hat, bleiben aus. Besonders das Dopamin fehlt. Welch eine quälende Sehnsucht, die keine Heimat findet in sich selbst. 
 
Wie der Alkoholiker fallen wir nach dem Ende einer toxischen in das Abstinenzloch. Wir sind auf kaltem Entzug. Der Suchtdruck ist immens hoch und lässt sich mit nichts kompensieren. Wir denken ständig an unser Suchtmittel – in dem Fall an den oder die BeziehungspartnerIn.
Wir sind nicht clean.
Und es dauert lange bis wir es wieder werden – körperlich und seelisch. Wir müssen entgiften.
Die Seele trudelt im leeren Raum. Sie hat ihren Fixpunkt verloren. Das Universum Beziehung, das der Mittelpunkt der Welt war, hat sich aufgelöst. Wir fühlen uns, als hätte man uns ins weite All torpediert und da treiben wir vor uns hin, haltlos, voller Schmerz, Trauer, Verzweiflung und Angst. Ein richtig mieses Gefühl ist das. Und das ist noch milde formuliert.
Es wird nicht besser, egal was wir machen, egal mit wem oder womit wie wir uns ablenken, wir kommen nirgendwo an, vor allem – wir kommen nicht mehr bei uns selbst an. Wir haben uns selbst komplett in der Beziehung verloren und nach ihrem Ende gibt es nichts mehr, was uns von dieser gefühlten Erkenntnis ablenkt.
Das ist brutal und hart. Das wünscht sich niemand.
Das braucht niemand.
 
Oder doch?
Geben wir dem Drama einen Sinn, hat es den Sinn, dass es genau darum geht: Um ein falsches Selbst, das sich verloren hat und jetzt finden darf. Ein Selbst, das sich nur in Beziehung als wertvoll, gesehen, anerkannt, geborgen, geliebt fühlt, das in der inneren Überzeugung lebt, alleine nichts zu sein und emotional nicht überleben zu können. Ein falsches Selbst, das den anderen braucht wie eine Droge um sich seiner Existenz zu vergewissern, weil es nichts hat, was es von Innen hält, das emotional abhängig ist wie ein Kind von seinen Bindungspersonen und in Angst und Panik gerät, sobald sie aus seinem Blickfeld verschwinden.
Trennungsschmerz und Liebeskummer, besonders nach toxischen Beziehungen, zieht uns wie ein Sog zurück in die Kindheit. Dorthin wo sichere und liebevolle Bindung nicht gelungen ist. Er reißt alte Wunden und Traumata auf oder macht sie uns erst bewusst. Er zeigt uns das Ungelöste, Verdrängte, nicht Verwundene unserer frühen Wunden. Er zeigt uns unsere Überlebensstrategien, die wir vielleicht erst durch diesen Schmerz erkennen, obwohl wir sie ein halbes Leben lang unbewusst angewendet haben, weil wir es nicht besser machen konnten, für uns selbst um das Unerträgliche erträglich zu machen. Er zeigt uns, was wir über Liebe gelernt haben, was wir für Liebe halten und was Liebe nicht ist. Er zeigt uns, was wir verdrängt oder abgespalten haben und was in uns, uns immer wieder in toxische Beziehungen zieht. Beziehungen, die genauso instabil, unsicher gebunden, schmerzhaft und traumatisch sind wir die Beziehungserfahrung unserer Kindheit. All das dürfen wir jetzt erkennen, betrauern, bedauern und verarbeiten, um endlich das zu erlangen, was uns all die Zeit nicht gelungen ist – Selbstermächtigung, was nichts anderes bedeutet, als die Formierung eines Selbst, das sich seiner bewusst ist, das sich selbst halten kann, sich selbst achtet und wertschätzt, das seine Werte, seine Grenzen und seine Standards kennen lernt, sie herausbildet und sich nicht mehr ans Brauchen und Gebrauchtwerden werden um jeden Preis klammert, um emotional zu überleben. Ein Selbst, das sich selbst nicht mehr so mies behandelt wie man es als Kind behandelt hat. Ein Selbst, das sich seiner Würde und seiner Größe bewusst ist.


Dienstag, 27. August 2024

Eile

 

                                                                                                            Malerei: A.Wende

 

Menschen sind immer so in Eile

Immer muss alles schnell wieder gut werden oder zumindest besser.
Immer muss, was verloren ist, schnell ersetzt werden.
Immer muss, was verletzt wurde, schnell wieder heilen.
Immer muss ein Sinn gefunden werden.

Manches wird nicht wieder gut.
Manches bleibt verloren.
Für immer.
Manches ist nicht zu ersetzen.
Manches heilt nicht.
Manches hat keinen Sinn.
Es ist okay.

Montag, 26. August 2024

Aus der Praxis: Was Trennungsschmerz mit einer beschädigten Kindheit zu tun hat

 

                                                                      Foto: Pixybay

 
„Es gibt keinen Sinn mehr. Das ist niemand mehr für den ich Bedeutung habe. Niemand, der mir beim Leben zusieht. Niemand, der liebend seine Augen auf mich legt, mit dem ich reden kann, der mich versteht, der die Dinge mit mir teilt, niemand, der mich hält, da ist nur ein menschenleerer Raum, immer nur ich. Ich bin mutterseelenallein.
Was soll ich hier noch? Den Rest meiner Tage in diesem Schmerz, dieser Trauer, dieser tiefen verlassenen Einsamkeit vor mich hinleben? Das ist kein Leben. Das ist ein Gefängnis. Da geht jeder Mensch irgendwann zugrunde. Ich will nicht mehr leben, aber werde mich nicht töten, dazu bin ich zu feige. Aber so kann ich nicht mehr leben. Ich bin so allein mit meinen Gedanken und Gefühlen. So allein ohne ihn. Ich gehe zugrunde. Es tötet mich. Langsam aber sicher.
Egal was ich versuche, egal wie oft ich rausgehe, egal was ich mache, ich bin einsam, auch unter Menschen. Ich gehe immer weniger raus, ziehe mich immer mehr in mich selbst zurück. Und den ganzen Tag ist da Angst, dass dieser Schmerz niemals aufhört. Meine Kraft ist aufgebraucht, meine Zuversicht ist aufgebraucht, meine Hoffnung auf ein besseres Leben ist aufgebraucht. Weil es schon so lange so ist. Ich will mich selbst nicht mehr. Ich will diese gebrochene Frau nicht mehr, die nur noch um sich selbst kreist und sich nicht findet.
Wer bin ich jetzt – allein in der Welt? Ein bedeutungsloses Nichts bin ich ohne ihn. Ich habe ihn geliebt und es hat mich zerbrochen.“ 
 
Meine Klientin ist verzweifelt. Ihre große Liebe hat sie nach langen gemeinsamen Jahren betrogen und verlassen. Sie kämpft seit Monaten mit dem Trauma des Betrugs und der verlorenen Liebe. Nichts hilft. Es wird nicht besser. Sie kann die Trennung nicht verarbeiten.
Liebeskummer tut weh. Trennung tut weh.
Das ist ein tiefer emotionaler Schmerz, den wir sogar körperlich spüren. Es ist, als sei etwas von uns abgerissen. Das Herz ist gebrochen, obwohl es noch schlägt. Es gibt keine Medizin, keinen Verband, der es schnell wieder heilen lässt und manchmal scheint es, als würde das gebrochene Herz nie mehr heilen. Der Liebeskummer nimmt kein Ende.
Die Schwere des Liebeskummers ist von Mensch zu Mensch verschieden. Bei meiner Klientin ist er übermäßig, alles beherrschend, er nimmt ihr ganzes Denken und Fühlen ein.
Sie findet in nichts Trost. 
 
Lena, so nenne ich sie hier, ist in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Der Vater war Choleriker, die Mutter emotional kalt. Liebe, Geborgenheit und Halt hat Lena seitens der Eltern nie erfahren. Im kalten Milieu der Familie gab es kein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. Die Eltern lagen ständig im Streit. Lena war schon früh sich selbst überlassen. Der Mann, der sie verlassen hat, gab ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl verstanden und geliebt zu sein. „Ich dachte, endlich bin ich zuhause angekommen“, sagt Lena. Und dann bricht dieses Zuhause zusammen. Er geht und Lena ist wieder auf sich selbst reduziert, wie damals als Kind. Dieses Kind fühlt: Ich werde niemals geliebt sein, ich werde niemals zuhause ankommen. Mit dem Verlust des geliebten Menschen stürzt Lenas ganze Welt ein. Nichts geht mehr. Der alte Schmerz der Kindheit legt sich zum neuen Schmerz und macht ihn unendlich groß. Die beschädigte Kindheit bekommt einen weiteren Schaden. Das verlassene Kind übernimmt die Macht über alle anderen inneren Teile. „Niemals“ wird es geliebt werden. Und wenn, kann es der Liebe nicht trauen, es wurde wieder ja verlassen. Es ist ja wieder ungeliebt. Es hat das Gefühl es muss sterben. 
 
Es ist allein und verlassen wie das Kind in Büchners Woyzeck:
Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an, und wie's endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz, und da ist es zur Sonn gangen, und wie's zur Sonn kam, war's ein verreckt Sonneblum, und wie's zu den Sterne kam, waren's klei golde Mück, die waren angesteckt wie der Nuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein.“ 
 
Herzzerreisende Worte. Worte die mir einfallen, während ich mit Lena arbeite. Worte, die die existenzielle Not beschreiben in der sie sich befindet, den durchdringenden Schmerz, die tiefe Verlassenheit aus Kindertagen und die damit einhergehende Angst, die die Trennung nach Oben bringt. Lena fühlt sich auf eine schreckliche, tiefe Weise verlassen. Weil das Gefühl so tief sitzt, weil es so alt ist wie sie selbst, hat es diese enorme Wucht.
Ich fühle die seelische Katastrophe in welche sie die Trennung gestürzt hat.
 
Die Schwere der Trennung reaktiviert ein altes Trauma: die Schwere der Kindheit mit all dem Unheilsamen, was sie ausmachte und Lenas in-der-Welt-sein prägte, steht aus der Vergangenheit wieder auf. Das macht die Verarbeitung der Trennung so schwer, schwerer als bei Menschen, die als Kind sicher gebunden waren, die Liebe und Geborgenheit erfahren haben und Urvertrauen besitzen.
Das Schwerste für uns Menschen ist es alleine zu sein, wenn wir von einem geliebten Menschen verlassen wurden. Lena ist allein. Sie hat niemanden, der ihr wirklich nah steht. Die Beziehung war alles für sie. Und jetzt ist da Nichts. Wieder ist da nichts. Ein leerer Raum wie damals, als das Kind die Ärmchen austreckte und es keiner auf den Schoß nahm.
Lena nützen keine Tipps und keine Ratgeber, wie man den Liebeskummer schneller überwindet und heilen lässt. Nichts davon ist für sie hilfreich. Sie braucht viel mehr als das, sie braucht psychologische Unterstützung. Sie braucht eine empathische, verlässliche, tragende Beziehung um von den Wunden der ersten Beziehung in ihrem Leben zu genesen um nach und nach ein stabiles Selbst zu entwickeln. Ihr Inneres Kind muss nach Hause finden. Dieses Zuhause liegt in Lena selbst. Sie weiß das, aber sie kann es (noch) nicht fühlen. Wir machen uns nichts vor: Es ist ein langer Weg nach Hause. 
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Samstag, 24. August 2024

Gefühle sind Wegweiser

 

                                                                    Foto: pixybay

 
Immer wieder höre ich von KlientInnen, sie möchten unangenehme Gefühle weghaben. Sie beklagen sich, dass ihre Gefühle zu viel Macht über sie haben. Sie machen sich Vorwürfe sich emotional nicht im Griff zu haben. Sie fühlen sich klein, ohnmächtig und haben das Gefühl zu versagen.
 
Gefühle sind zunächst einmal Gefühle.
Gefühle sind menschlich und dürfen sein.
Das größte Problem im Umgang mit Gefühlen ist, dass wir unsere Gefühle sofort bewerten. Kaum fühlen wir sie, drücken wir ihnen einen Stempel auf. Wir bilden Kategorien, teilen sie auf in gut oder schlecht. Besonders Schmerz, Wut, Traurigkeit , Hilflosigkeit, Schuld, Scham und Angst werden als schlecht empfunden. Und was schlecht ist, muss weg!
Damit beginnt der innere Kampf.
 
Gefühle bewerten heißt, dass sich der Kopf einschaltet und sie sofort bewältigen oder wegmachen will.
Gefühle fühlen führt dazu, dass wir sie einfach wahrnehmen, beobachten und da sein lassen.
Indem wir unangenehme Gefühle als negativ bewerten verstärken wir sie, wir geben ihnen Energie. Das trägt dazu bei, dass wir uns dieser Energie ausgeliefert fühlen. Wir blockieren uns durch die Bewertung selbst und nehmen uns damit die Fähigkeit angemessen mit ihnen umzugehen.
Je mehr wir Gefühle als negativ bewerten, desto mehr identifizieren wir uns mit ihnen, das gilt auch wenn wir über längere Zeit ein bestimmtes Gefühl, wie z.B.Traurigkeit empfinden – wir „sind“ dann unsere Gefühle, wir sind vollkommen damit identifiziert. Damit machen wir uns zum Opfer unserer Gefühle. Und wenn sie dann nicht wegzumachen sind, haben wir noch mehr das Gefühl ohnmächtig zu sein. Wir haben uns nicht im Griff. Wir haben es nicht unter Kontrolle und wir verurteilen uns dafür.
Dieses Denken ist wenig hilfreich und sehr anstrengend.
Es geht weniger anstrengend und hilfreicher.
Ein Beispiel:
Ich bin traurig .
Ich fühle Traurigkeit.
Schauen wir uns beide Aussagen an, merken wir den Unterschied.
Ich bin traurig – ist Identifikation.
Ich fühle Traurigkeit - ist Wahrnehmung.
 
Versuchen wir nicht zu bewerten, dann sind auch unangenehme Gefühle nur Gefühle. Sie gehören zum Leben und zum Menschsein.
Es ist okay zu fühlen.
Was wir fühlen darf sein, auch wenn es weh tut.
Jedes Gefühl ist gleichbedeutend und gleich wichtig.
Unangenehme Gefühle sind besonders wichtig.
Weil sie uns einen Hinweis geben auf das, was an Bedürfnissen verletzt wurde oder nicht erfüllt ist. Weil sie uns etwas darüber erzählen, was in unserem Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist, oder was in unserem Inneren gesehen und beachtet werden will. Sie erzählen uns die Wahrheit über uns selbst und das Leben, das wir leben. Sie erzählen uns viel über den Menschen, der wir sind, wenn wir die Maske absetzen.
 
Gefühle sind Wegweiser.
Würden wir Wegweiser negativ bewerten?
Weghaben wollen?
Wohl eher nein.
Wir würden ihnen folgen. 
 
 
Angelika Wende

Montag, 19. August 2024

Schatten im Licht



 

Plötzlich taucht ein Schatten auf

und wirft Licht auf nicht gelebtes Leben

Etwas

das du dir gewünscht hast

nicht getan hast

nicht erfahren hast

nicht zugelassen hast

projiziert hast

abgewehrt hast

kompensiert hast

verpasst hast

versäumt hast

nur geträumt hast

ausgelassen hast

ignoriert hast

verloren hast

vergrault hast

verschwiegen hast

vernachlässigt hast

verschoben hast

versteckt hast

verbannt hast

verkannt hast

verdrängt hast

Etwas

das gesehen werden will.

Wenn nicht jetzt

wann dann?

 

Mittwoch, 14. August 2024

Aus der Praxis: Wut hat zwei Pole

                                                            Malerei: A.Wende
 

Ich kenne Wut gut. Es gab Zeiten, da wusste ich vor lauter Wut nicht wohin mit mir. Ich spürte, das tut mir nicht gut. Ich spürte wie ich, immer wenn ich wütend bin, weit von mir selbst weg bin, weg von meiner inneren Mitte, in der ich geerdet bin, klar und ganz bei mir.

Wenn wir wütend sind ist das ein sehr inhaltsschwerer Ausdruck: Wir haben das Gefühl für unsere Kraft und unsere Macht verloren, wir erleben uns als klein, schwach und nichtig. Wir fühlen uns ohnmächtig. Um diese Ohnmacht nicht anerkennen und fühlen zu müssen werden wir wütend.
Um aus der Ohnmacht herauszufinden und handlungsfähig zu werden ist Wut also durchaus hilfreich.
Wut ist dann eine vorrübergehende Emotion. Heißt: Wenn Sie ihren Sinn erfüllt hat, darf sie gehen.
Nur meist geht sie nicht.
Wut hat die Eigenschaft sich wieder anzusammeln, wenn das unerfüllte Bedürfnis, das sie ausdrückt, nicht erfüllt wird oder Dinge, die uns verletzt haben, innerlich nicht gelöst werden können. Dann kann es zu einer dauerhaften inneren Wut kommen, und über diese Wut schrieb ich gestern.

Dauerhafte Wut reagiert unbewusst auf„feindselige” Reize, sprich sie ragiert auf jeden Trigger, der sie reizt. Die Klarheit geht flöten, Dinge und Umstände, Situationen, Worte, Inhalte und Fakten bis hin zur Realität des Moments, werden ausgeblendet. Etwas triggert die Wut und zack, wir springen drauf, meistens ohne das Bewusstsein worauf wir da gerade springen. Dazu lässt einen die Wut erst gar nicht kommen, sie schaltet den Denkapparat aus. Wir sind in der Emotion gefangen und blind für das, was eigentlich hinter der Wut liegt.

Die Wurzeln aller Wut sind Ohnmacht, Schmerz und Trauer.
Auch dauerhafte Frustration kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen. Wenn wir nicht bekommen was wir wollen, wenn wir uns ungerecht behandelt oder zurückgewiesen fühlen, wenn man uns verletzt hat, wenn wir uns selbst ablehnen – all das macht ohnmächtig. All das schmerzt. Und dann werden wir wütend.

Ohnmacht hat viele Gesichter. Alle sind unschön und bedrückend, also unterdrücken wir die Ohnmacht, sobald wir sie fühlen oder wir flüchten vor diesem schwer aushaltbaren Gefühl.  

Wir konsumieren vielleicht Dinge, die wir nicht brauchen, wir stopfen zu viel Essen in uns hinein, trinken zu viel Alkohol, kiffen, rauchen und all das wohl wissend, dass es unsere körperliche und seelische Gesundheit schädigt. Wir ruinieren unser Hirn, unser Herz und unsere Seele, um die unguten Gefühle, die hochkommen wollen, zu unterdrücken, um sie nicht fühlen zu müssen. Das gesamte Repertoire des Ausagierens unserer Abwehr in Form von suchtgleichen Handlungen steht unter dem unbewussten Motto: Bloß nicht wieder ohnmächtig sein!
Dann besser wütend.

Immer wenn wir uns ohnmächtig fühlen sind wir in Wahrheit „mächtig“ vor Wut. Und wir bleiben solange wütend, bis wir für uns selbst eintreten. Wenn das nicht anders gelingt, dann kann das auch mittels Wut geschehen.

Wut ist dann unheilsam wenn sie ein Dauerzustand wird. Traurigerweise kann man diesen wütenden Dauerzustand kollektiv gerade sehr spüren. Viele Menschen sind in einem permanenten aggressiven Erregungszustand. Sie deckeln andere unangenehme Gefühle mit ihrer Wut ab, anstatt sich mit der ganzen emotionalen Palette zu befassen, die zu diesem aggressiven Erregungszustand führt, der dann sobald der Trigger kommt, explodiert.

Wie oft kritisieren wir uns selbst für unsere Unfähigkeit Klartext zu reden, auszusprechen was wirklich ist, wie oft schämen wir uns vor uns selbst, dafür, dass wir nicht sagen, was wir wirklich denken, nicht tun, was wir wirklich wollen und ständig tun, was andere von uns wollen. Stattdessen kompensieren wir, lenken uns ab oder tun so, als sei alles in Ordnung.Wenn wir auf jemanden wütend sind, wenn wir auf eine Situation wütend sind, ist das ein Zeichen. Es zeigt auf uns selbst, es be"deutet": Wir lassen etwas zu, obwohl wir spüren - wir sollten uns wehren, wir sollten handeln und der eigenen Wahrheit eine kraftvolle Stimme geben. Wenn wir uns darüber aufregen, dass ein anderer uns nicht achtet, nicht ernst nimmt und uns verletzt, klagen wir im Grunde darüber, dass wir das selbst nicht tun, dass wir uns nicht genug achten, dass wir uns selbst nicht ernst nehmen, unsere Standards ignorieren und unsere Grenzen nicht schützen.

Wir alle haben als Kind auf mehr oder weniger massive Weise Ohnmacht erlebt und in vielen von uns steckt es noch, dieses Gefühl aus Kindertagen, in denen wir auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen ausgeliefert waren. Während der Entwicklung auf der emotionalen Ebene haben wir als Kind emotionale Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist groß, so groß, dass wir als Kind alles nehmen, was wir bekommen: Im besten Falle Liebe, Wärme und Geborgenheit, im schlimmsten Falle Unliebe, Kränkungen und Misshandlung. Letzteres sind traumtische Ohnmachtserfahrungen die uns ein Leben lang unbewusst beeinflussen. Ohnmacht, das ist der totale Kontrollverlust, die absolute Starre, die sich einbrennt in jeder Faser. Das greift tief und bleibt stecken, tief in der Seele, bis ins Erwachsenenleben. Wer massive Ohnmachtserfahrungen gemacht hat, will als Erwachsener in die Macht und er wird immer ein Thema mit Kontrolle haben. Je massiver der Kontrollverlust empfunden wurde, desto stärker ist die Angst die Kontrolle wieder zu verlieren, also kontrollieren wir - auch die Wut, die in der Ohnmacht steckt - und lassen sie nicht heraus. Wir kleben an einer alten unterdrückten Wut und die wabert mit bis wir Verantwortung für uns selbst und unsere Baustellen übernehmen um mit uns ins Reine zu kommen.

Es kann uns keiner wütend machen, wenn wir mit uns selbst im Reinen sind. Und dazu gehört eben auch die alten Ohnmachtserfahrungen und die Wut anzuschauen.
Solange wir uns selbst nicht die Wertschätzung, die Achtung und die Liebe geben, die wir so dringend brauchen, sind wir angreifbar. Wenn wir nicht selbst für uns handeln, handeln andere für uns. Wir werden zum Spielball, den andere hin und her werfen, anstatt den Ball selbst zu werfen. So wie als Kind. Wir erfahren im Außen das, was wir von uns selbst denken, denn so wie wir über uns denken, so werden wir uns fühlen, so verhalten wir uns. So wie wir über uns selbst denken, behandeln wir uns – und dann werden wir wütend, dass andere uns genauso behandeln.

Wenn wir unsagbar wütend sind, ist etwas „ungesagt".
Wir sagen nicht was wir denken, wir sagen nicht, was wir wollen und was wir fühlen. Wir ergreifen nicht die Macht der Worte um das Auszusprechen, was raus will. Wir erfahren keine Selbstwirksamkeit. Das macht wütend. Darum ist es heilsam unsere Wut zu erforschen, sie zu fühlen dürfen und sie auszudrücken, um an die wahren Gefühle und Bedürfnisse heranzukommen, die sich hinter der Wut verstecken. Nicht wenn die Wut wahllos ausagiert wird, sondern wenn die Wut gefühlt wird, nehmen wir uns selbst ernst und erst dann nehmen wahr, was wir versäumt haben für uns zu tun. Wir für uns, denn die, die uns ohnmächtig und wütend gemacht haben, werden nichts für uns tun, sei es, weil sie sich dessen nicht bewusst sind oder weil sie es einfach nicht können oder es nicht wollen. Und das macht oft noch wütender und noch ohnmächtiger. Der Wut einfach einmal freien Lauf zu lassen, kann sich für einen Augenblick richtig gut anfühlen, sie befreit vom Schmerz, als Dauerzustand tut sie nicht Gutes für uns.

Wut hat wie alles zwei Pole.
Wut ist eine starke Emotion, sie kann befreiend aber auch zerstörerisch sein.

Sie ist wichtig, wenn sie zum richtigen Moment rausgelassen wird, aber sie löst das Problem nicht. Sie setzt zum einen Energie frei und zum anderen bindet sie Energie. Wer ständig unterschwellig innerlich wütend ist, dessen Nervensystem ist im Daueralarm. Er ist eine tickende Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann. Er neigt zu passiv-aggressivem Verhalten, sich selbst und anderen gegenüber.

Dauerhafte innere Wut ist in hohem Maße unheilsam.
Sie schadet niemals dem oder denen, auf die wir wütend sind, sondern uns selbst. Sie wirkt wie eine Abwärtsspirale.

Dauerhafte Wut hat die Eigenschaft Menschen zu zerfressen. Sie macht seelisch und körperlich krank. Selbst kurze Phasen von hohem psychischem Stress in Form von Wutanfällen hat nachhaltige Folgen für die körperliche Gesundheit. Muskeln spannen sich an, Blutgefäße verengen sich. Durch den erhöhten Blutdruck schaltet das Gehirn Außenreizen ab, dauerhaft hoher Blutdruck, Herzprobleme, Herzinfarkte, Schlaganfälle – der Mensch implodiert im Zweifel, kann er seine innere Wut nicht erlösen.

Wie gesagt Wut hat zwei Pole.
Es geht um die gesunde Balance, um den angemessenen Umgang mit diesem Gefühl.
Wut will und darf gefühlt werden. Sie darf raus.

Solange wir die Wut verleugnen oder unterdrücken, anstatt sie anzunehmen und ja zu ihr zu sagen, ihr zuzuhören was sie uns wirklich sagen will, riskieren wir, dass wir in der Ohnmacht festsitzen - wir sind blockiert für das, was fließen will - Energie, unsere Lebensenergie. Wut will gefühlt werden wie alle unsere anderen Gefühle auch – sie ruft uns auf in unsere Kraft zu kommen von der wir oft nicht einmal wissen, dass wir sie haben. Die Ohnmacht bindet Kraft. Ebenso wie Wut, wenn diese anhält.

Wut ist dann hilfreich und gesund, wenn wir sie angemessen und situativ rauslassen. Wenn wir sie im Griff haben und nicht sie uns. Wut ist hilfreich, wenn wir sie in die richtigen Bahnen leiten, wenn sie z.B. dazu führt, dass wir Grenzen setzen, für uns einstehen und aus der Opferrolle aussteigen. Wir suchen nach einer Lösung für das, was verändert werden will, wir fragen uns:
Warum halte ich an der Wut fest?
Und: Was kann ich für mich tun, damit ich diese Wut nicht mehr brauche?

Ja, sie darf sein, die Wut. Sie ist nichts Schlechtes, wenn wir bewusst in sie hineingehen für uns, in uns, sie zulassen und sie sie wandeln in die Energie, die uns wieder selbstmächtig macht. Aber wie gesagt, innere Wut als Dauerzustand heilt nicht, im Gegenteil - sie macht nachweisbar krank.

Angelika Wende
www.wende-praxis.de

Freitag, 9. August 2024

Emotionale Stärke

 

                                                                    Foto: pixybay

 

Emotionale Stärke ist ein Konzept aus der Psychologie. Es bezieht sich auf die innere Stärke, die uns hilft unsere seelische Gesundheit und innere Stabilität bewahren können. Emotional starke Menschen können angemessen mit Stress umgehen und ihr seelisches Gleichgewicht auch dann bewahren, wenn sie vor großen Herausforderungen oder Hindernissen stehen. Auch in Krisenzeiten zeigen sie eine hohe Widerstandsfähigkeit, Bewältigungskapazität und Flexibilität. Sie sind in der Lage sich von Rückschlägen zu erholen und auch aus unguten Erfahrungen zu lernen. Emotionale Stärke ist nicht angeboren ist, sie wird in der Kindheit durch Erfahrung erlernt und entwickelt, wobei in diesem Prozess das soziale Umfeld eine zentrale Rolle spielt. Dennoch kann die Genetik Resilienz begünstigen oder benachteiligen.

 

Emotionale Stärke bedeutet nicht, dass wir Emotionen ignorieren, verleugnen, unterdrücken, abwehren, abschalten oder betäuben. 

Emotionale Stärke bedeutet, unsere Gefühle erkennen und sie benennen zu können, ihren Ursprung zu verstehen, sie anzuerkennen, uns ihnen zu stellen und angemessen damit umzugehen. Es bedeutet, die gesamte Bandbreite unserer Gefühle anzunehmen und konstruktiv damit umzugehen, Stichwort: Selbstregulation.

 

Emotionale Stärke ist die Fähigkeit, mit dem umzugehen, was wir fühlen, ohne, dass es uns überflutet, gepaart mit dem Wissen, dass es auf unsere Reaktion auf unsere Emotionen ankommt.

Gefühle gehören zum Menschsein. Alle Gefühle haben eine Berechtigung. Anstatt unangenehme Gefühle weghaben zu wollen oder uns dafür zu kritisieren, ist es gesund, uns selbst Verständnis und Mitgefühl entgegenbringen.

Emotionale Stärke liegt darin, wie wir auf unsere Gefühle reagieren und sie regulieren. Indem wir unsere Gefühle achten, mitfühlend und freundlich mit uns selbst umgehen und sprechen, nehmen wir ihnen die Wucht, die sie manchmal haben.

Wir lassen das Gefühl da sein, beobachten es und achten auf das Bedürfnis, das dahinter liegt. Jede emotionale Herausforderung ist ein Signal und eine Wachstumschance, wir lernen uns selbst besser und tiefer kennen, indem wir uns angemessen auf sie einlassen. Wir entwickeln emotionale Resilienz.

 

 

 

Mittwoch, 7. August 2024

Aus der Praxis: Die Sehnsucht des Opfers nach Gerechtigkeit

 

                                                                      Foto: pixybay


Im Trauma Zusammenhang sprechen wir von einem Täter, wenn ein Mensch einem anderen Menschen körperlichen oder seelischen Schaden zufügt. Der Mensch, dem der Schaden zugefügt wird, wird als Opfer bezeichnet. Ein Wort, das keiner mag und etwas, was keiner von uns sein will. Dennoch werden Menschen zu Opfern, es geschieht jeden Tag im Großen wie im Kleinen.
 
Opfer sein heißt: Wir erleben überwältigende Gefühle von Hilf- und Wehrlosigkeit, Machtlosigkeit, Demütigung und Ohnmacht aufgrund dessen, was der Täter uns zufügt. Wir erleben ein Gefühl des Unwürdigseins. Wir erleben, dass ein anderer Mensch Macht über uns hat, sie ausübt und wir nichts dagegensetzen können.
 
Viele Opfer haben das Gefühl versagt zu haben, sie verachten sich selbst für das, was ihnen widerfahren ist, für die Erniedrigung, die Schande, die sie erleben mussten, für das, was sie zugelassen haben. Sie fühlen sich mangelhaft und fallen in ein tiefes Loch von Scham und Wertlosigkeit. Es kommt zu einer Verachtung in ihnen selbst und nicht selten zu einer inneren Verurteilung. Es kommt zu einer Palette von unheilsamen Gefühlen und Affekten. Opfer zu sein verletzt das Selbstbild eines Menschen.
Was sich alle Opfer mit denen ich in all den Jahren meiner Arbeit gesprochen habe, wünschen ist Gerechtigkeit. Was bedeutet, dass der Täter die Verantwortung für seine Tat übernimmt.
In unserer kollektiven Gerechtigkeitsvorstellung wird der Gerechtigkeit dann Genüge getan, wenn ein Täter Einsicht und echte Reue zeigt, sich aufrichtig für seine Tat entschuldigt, den Schaden an seinem Opfer so weit als möglich kompensiert und sich bemüht, Wiedergutmachung zu leisten. Die Bestrafung des Täters spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Im Grunde geht es dabei um den sogenannten Täter-Opfer Ausgleich. Man weiß, dass Verantwortungsübernahme, eine Entschuldigung des Täters und der Versuch der Wiedergutmachung hilfreich für das Opfer bei der Bewältigung erfahrenen Unrechts ist. Auch das Verstehen des Täters, seiner Beweggründe und seiner Einstellung zu dem begangenen Unrecht, können Opfern helfen, aus der Tat resultierende Traumata und Ängste besser zu verarbeiten. 
 
Was aber, wenn der Täter keine Spur von Reue zeigt, die Verantwortung für seine Tat abstreitet oder sie sogar als gerechtfertigt empfindet, wenn er die Tat verharmlost oder wenn er Schuldumkehr betreibt und dem Opfer die Schuld an seinen Handlungen zuschreibt? Was wenn er zu keiner Entschuldigung bereit ist und es ihm an jeglichem Mitgefühl fehlt oder er das Opfer sogar verhöhnt?
Dann ist eine Versöhnung ausgeschlossen.
 
Das Unrecht und die tiefe Kränkung des Opfers bleibt bestehen. Das Opfer erfährt keine Gerechtigkeit. Es ist gezwungen, einen Umgang mit der Kränkung, dem Trauma mitsamt den physischen und/oder psychischen Verletzungen zu finden, die ihm zugefügt wurden.
Es muss die tiefe Erniedrigung, die es erfahren hat, das Gefühl schadhaft zu sein, mangelhaft, nicht achtungswürdig, nicht gut genug um als Mensch von Bedeutung zu sein, bewältigen um das fragmentierte, schwer beschädigte Selbst wieder zusammenzufügen. Es muss erkennen und letztlich akzeptieren, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Justitia ist blind.

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Sonntag, 4. August 2024

Es war einmal

 

                                                                Foto: A.Wende


Du kannst die Vergangenheit nicht ändern.
Du kannst den Blick auf die Vergangenheit ändern, damit ändert sich ihre Wirkung auf das Jetzt.
 
Was war, war, was geschehen ist, ist geschehen. Manches war gut, manches ungut und manches wünscht man sich, wäre besser nie geschehen, aber es ist geschehen und wir können nichts mehr daran ändern. Dennoch, wir sind auch unsere Vergangenheit und sie hat uns zu dem Menschen gemacht, der wir heute sind. Sie hat uns auf vielerlei Weise geprägt – unser Denken, unser Fühlen, unser Verhalten und unser Handeln.
Vieles vom Alten nehmen wir auf unserer Reise durch das Leben mit. All unsere Erfahrungen sind gespeichert, bewusst oder unbewusst. An die bewussten kommen wir ran, an die unbewussten nicht so leicht. Die bewussten Erfahrungen können wir anschauen, neu betrachten, durcharbeiten und anders bewerten, wir können ihnen einen Sinn verleihen, sie betrauern oder bedauern und dann irgendwann, wenn es gut läuft, emotional damit abschließen, damit sie uns nicht im Jetzt behindern. An die unbewussten kommen wir nicht so einfach ran, manches bleibt im Keller der Psyche verborgen und führt ein Eigenleben. Es braucht viel Arbeit an uns selbst um die Dinge bewusst zu machen und manchmal gelingt es dennoch nicht.
Es ist okay, nicht alles kann gelingen.
 
Wenn wir aber allzu sehr in der Vergangenheit leben, verpassen wir das Erleben im Jetzt. Unsere Gegenwart ist zumindest mit den belastenden oder traumatischen Erfahrungen eingefärbt und wir handeln aus alten Mustern und inneren Überzeugungen heraus. Damit verpassen wir vieles was uns glücklicher machen könnte und machen vieles kaputt, was gut sein könnte oder wir sehen das Gute erst gar nicht.
 
Es macht Sinn sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen um uns selbst besser zu verstehen, uns tiefer zu verstehen. Und dazu ist die Vergangenheit der Schlüssel. Wenn wir wissen wie unsere Überzeugungen und Muster, Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle entstanden sind, ändert sich unser Blick auf uns selbst und damit ändert sich die Wirkung der Vergangenheit auf das Jetzt. Wir begreifen, warum wir so oder so gehandelt haben, damals mit dem Wissen und der Erfahrung, die wir zu diesem Zeitpunkt hatten. Wir verzeihen uns Fehler, die zu Unheilsamen geführt haben, wir sehen und erkennen an, was wir gelernt und begriffen haben. Dieses Erkennen hilft uns, es in der Gegenwart anders zu machen. 
 
Nicht alles was uns an Unheilsamen widerfahren ist, ist zu verstehen und nicht alles ist zu verzeihen. Manches ist nicht zu verstehen und manches ist nicht zu verzeihen. Nicht alle Schmerzen sind heilbar. Manches wiegt so schwer, dass es uns ein Leben lang begleiten wird, auch das ist möglich und das gilt es zu integrieren, auch wenn es schmerzt. Tun wir das nicht leiden wir.
Es geht darum hinzuschauen und uns selbst Verständnis, Liebe und Mitgefühl zu schenken. Es geht um die Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit und um die Versöhnung mit uns selbst.
Es geht um das Verstehen eigenen Denkens, Fühlens und Verhaltens aus dem heutigen Abstand heraus, mit dem heutigen Wissen und der gewonnenen Reife. Das ändert zwar nicht die Vergangenheit, aber es kann unsere Haltung zu ihr wandeln.
 
Uns selbst aus unserer Geschichte heraus als der Mensch, der wir geworden sind, zu begreifen bedeutet auch: Wir entzerren das verzerrte Bild, das wir von uns selbst haben, wir korrigieren die Haltung, die wir uns selbst gegenüber haben, wir nehmen uns selbst in Besitz, unabhängig von anderen oder was andere über uns denken - wir werden selbstabhängig. Wir befreien uns von Selbstanklagen, Schuld, Scham und Selbstvorwürfen. Wir wählen Selbstermächtigung. Damit ergreifen wir bewusst unsere Verantwortung für die Gestaltung eines besseren Jetzt, mit dem Wissen, das wir jetzt haben, dank dessen, was einmal war. 
 
 
 
Angelika Wende