Foto: Pixybay
"Wir haben nur den Moment. Wir leben im Jetzt. Das Jetzt ist alles, was wir haben. Zeit ist eine Illusion. Ich bin das Jetzt."
Wir alle wissen das.
Die meistem von uns schaffen es nicht, bewusst in der Gegenwart zu leben. Körperlich sind wir zwar in dieser Zeitspanne präsent, geistig und emotional gelingt das allerdings nicht oder nur sehr wenigen.
Dabei wäre das Leben viel einfacher, wenn es gelänge.
Unsere Gedanken kreisen aber ständig zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Wir erinnern uns an Dinge die waren, wir denken an Dinge, die noch nicht sind und von denen wir nicht einmal wissen wie sie sein werden. Diese Gedanken haben mit dem was Jetzt, in diesem Moment in der Zeit ist, ist meistens nicht viel zu tun.
Während ich das schreibe, denke ich zum Beispiel an eine Klientin. Ihre Beziehung ist zu Ende. Sie hat großen Kummer. Sie leidet an dem Verlust ihrer Liebe. Andererseits weiß sie, dass die Trennung richtig war, denn die Beziehung war ein Desaster.
Worunter sie leidet sind die schönen Erinnerungen, die die hässlichen überdecken. Sie hat Sehnsucht nach dem Menschen, mit dem sie in der Vergangenheit so viele glückliche Momente hatte, obwohl dies nur für eine kurze Zeit so war. Zudem leidet sie darunter jetzt allein zu sein. Ohne Partner, ohne Liebe, ohne Berührung, ohne Dinge teilen zu können. Was ihr Leid schlimmer macht: Sie hat Angst für immer allein bleiben zu müssen, nie mehr einer neuen Liebe zu begegnen.
"Würde es Ihnen besser gehen, wenn Sie diese Angst nicht hätten?", habe ich sie gefragt.
"Ja", sagte sie, "dann könnte ich das Jetzt für mich besser gestalten, ich könnte ruhiger sein, angstlos und genießen was ich jetzt, trotz meinem Kummer, auch habe."
Wie hilfreich wäre es also für meine Klientin im Jetzt leben zu können. Präsent in der Gegenwart und jeden Moment achtsam zu erfahren, ohne die Gedanken, die sie belasten und ängstigen.
Es gelingt ihr aber nicht.
Und mir gelingt es auch nicht immer präsent im jetzigen Moment zu sein, denn sonst würde ich nicht über das vergangene Gespräch mit meine Klientin nachdenken. Ich würde in meinem Garten sitzen, meinen Körper und meinen Geist im Jetzt verankern, achtsam meinen Kaffee trinken, den Vögeln zuhören und nur wahrnehmen, was sich in diesem Moment abspielt.
Das könnte ich natürlich tun, mache ich später auch, aber würde ich das Jetzt leben, würde ich nichts schreiben. Und gäbe es das Gestern nicht, mit dem Problem meiner Klientin, gäbe es diesen Text nicht.
Es ist nicht möglich permanent mit der Aufmerksamkeit im Jetzt zu sein, wenn ich etwas schreiben will. Dazu brauche ich meine Erinnerung, die ich ins Jetzt hole. Es ist nicht möglich ständig im Jetzt zu sein, wenn ich etwas gestalten will. Es wäre auch nicht möglich mit meiner Klientin an ihrem Thema weiter zu arbeiten, wenn ich beim nächsten Termin gedanklich nur im Jetzt bleiben würde, denn ich brauche die Informationen, die ich gespeichert habe, um mit ihr weiter zu arbeiten.
Ich bin das jetzt und ich bin Vergangenheit und ich bin Erinnerung.
Wr brauchen Erinnerung. In unserer Erinnerung ist ein reiches Wissen und ein reiches Erleben enthalten, das wir benötigen um im Jetzt überhaupt etwas tun zu können. Wüssten wir nicht wie Autofahren geht, weil wir es erinnern, wäre das z.B. auch höchst ungut. Wüsste ich nicht wie ich Worte schreibe, gäbe es meine Texte nicht.
Erinnerung ist in unserem Hirn gespeichert. Und sie ist immer präsent, auch wenn es Dinge gibt, an die wir uns sehr gerne nicht erinnern würden. Leider funktioniert unser Denkapparat aber nicht wie wir es wollen. Er speichert alles, auch den ganzen unseligen Kram unserer Vergangenheit. Er unterscheidet und wählt nicht nach hilfreich und nicht hilfreich, schön oder unschön und das Meiste an Erinnerung spult er automatisch ab. Gedanken und Gefühle übrigens.
Die Hirnforschung hat hinlänglich bewiesen, dass alles, was wir fühlen, denken und tun, von Gehirnprozessen vorbereitet, gestaltet und bewertet wird. Das Meiste davon ist unbewusst. "Wir sind nicht Herr im eigenen Haus", wie schon Sigmund Freud wusste, ohne den Blick ins Innere des Gehirns zu werfen. Denken, Handeln und Fühlen haben ihre physiologischen Entsprechungen, Gehirn, Psyche und Körper stehen in Verbindung und zwar wechselseitig.
Sich selbst zu befehlen, jetzt doch mal die Vergangenheit mitsamt den belastenden Erinnerungen sein zu lassen zu sein oder auszublenden, geschweige denn zu vergessen, funktioniert nicht. Und daher funktioniert es nicht mit unserem Bewusstsein immer präsent im Jetzt zu sein. Das Unbewusste lässt sich nicht ausknipsen. Es kann gelingen, immer wieder für Momente, aber eben nicht immer. Immer wieder innerlich kurz einen Schritt zurückzutreten, in Ruhe zu atmen und uns im Jetzt zu verankern, mehr geht nicht für den normalen Menschen.
Wir schweben ständig zwischen gestern und morgen.
Im Jetzt leben ohne an die Zukunft zu denken?
Auch das ist so gut wie nicht möglich.
Von Kindheit an werden wir konditioniert nach vorn zu schauen, auf das, was über den Ist-Zustand hinausgeht. Wir lernen, wir machen eine Ausbildung, um später einen Beruf zu haben und und und … Der gedankliche Verweis auf die Zukunft ist unabdingbar um im Jetzt das zu tun, was notwendig ist um Zukunft überhaupt zu gestalten.
Auch wenn wir in der Gegenwart leben, wird diese Jetztzeit durch einen Zukunfts – und Vergangenheitsfilter erfahren. Dazu gehören auch Ängste vor der ungewissen Zukunft, wie bei meiner Klientin. Wir sind eben auch im Jetzt unsere Geschichte, die wir weiterschreiben. Wir sind auch im Jetzt unsere Erinnerung und wir denken auch im Jetzt an unsere Zukunft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander und daraus ergibt sich ein Konzentrat dieser Zeitebenen im Jetzt.
Zu meinen, wir müssten immer Jetzt sein, hört sich richtig gut an, aber es kann eben nicht dauerhaft gelingen. Wer das versucht, setzt sich massiv unter Druck. Wir Menschen sind so nicht konstruiert. Was auch durchaus Sinn macht, wie ich finde.
Was nicht heißt, dass wir um uns selbst zu beruhigen und unser Gedankenkarussel zum Stillstand zu bringen, immer wieder Momente herbeiführen können, wo wir vollkommen präsent im Jetzt sind. In der Meditation zum Beispiel und mittels anderer Achtsamkeitstechniken. Das gelingt immer öfter wenn wir kontinuierlich üben, indem wir immer wieder Pausen machen und uns bewusst ins Jetzt holen. Das gelingt wenn wir das, was wir gerade tun, achtsam tun, indem wir unser Gewahrsein bewusst nur auf das richten, was wir gerade tun.
Übrigens, das Jetzt ist auch nicht immer so schön, dass ich ständig darin verweilen möchte. Ich bin sehr dankbar, mich in den Zeitebenen hin und her bewegen zu können.
„Die Zeit ist ein Zusammentreffen von Wirklichkeit und Erinnerung.“
– Milan Kundera
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