Dienstag, 3. Mai 2022

"Schon die Sehnsucht nach Liebe ist Liebe."

 

                                                                 Zeichnung: A. Wende
 
 
Es gibt Menschen, die behaupten, dass du dich erst selbst lieben musst, bevor du jemand anderen lieben kannst oder bevor dich jemand anderes lieben kann. Wer sich also selbst nicht liebt hat schlechte Aussichten auf ein liebevolles Leben.
Jeden Tag posten Leute das große Wort Selbstliebe in den sozialen Medien. Und wie wichtig sie doch sei um ein gutes Leben zu leben, um Frieden in sich selbst zu finden und um zu lieben und geliebt zu werden. Das klingt wie eine Forderung: Liebe dich selbst, sonst bis du nicht liebenswert und bekommst vom Leben nichts Gutes zurück und Frieden wirst du auch nicht finden. Welch eine unheilsame Prophezeihung für sensible Gemüter.
Was für ein Bullshit!
 
In all den Jahren meiner Arbeit mit Menschen ist mir noch kein Einziger unter Hunderten begegnet, der von sich sagen konnte, dass er sich so richtig selbst liebt.  
Nun könnte man sagen, dass sie ja genau darum zu mir kommen um das zu lernen. Ich behaupte, die wenigsten Menschen auf dieser Erde lieben sich selbst. Natürlich ist eine hinreichend gute Beziehung zu uns selbst wichtig. Und je besser diese Beziehung ist, desto zufriedener sind wir. Aber das heißt noch lange nicht, dass ein Mensch sich selbst über alles lieben muss, um Liebe zu geben oder zu empfangen oder um ein friedliches Leben mit sich selbst und anderen zu führen.
Behauptungen wie: „Nur wer sich selbst liebt, kann auch andere lieben“ oder „Wer sich selbst nicht liebt, kann nicht geliebt werden“, halte ich für mehr als kritisch. Selbstliebe als Bedingung für ein liebevolles, friedliches Leben, führt allein dazu, dass wir unser Seelenheil an eine Bedingung knüpfen, die auf einem Konzept basiert, das sich bis heute jeder Beweisführung entzieht und an der Realität zerplatzt. 
 
Die meisten Menschen haben Schwieriggkeiten sich selbst zu lieben, denn die meisten von uns haben nicht gelernt wie das geht. Viele von uns haben lieblose oder traumatsiche Erlebnisse in der Kindheit erfahren und die meisten von uns haben unheilsame Überzeugungen und Glaubensmuster über sich selbst, die zwischen ihnen und der Gabe steht sich selbst bedingungslos selbst zu lieben. Die meisten von uns sehnen sich nach Liebe um die Wunde des ungeliebten Kindes in sich selbst zu heilen.
Die meisten von uns haben nicht die Liebe bekommen, die sie als Kind gebraucht hätten, aber sie lieben ihre Eltern, ihre Familie, ihre Kinder, ihren Partner so wie sie lieben können.
Definiere mir doch mal Selbstliebe – was genau ist das?
Wenn ich gut für mich selbst sorge, dann liebe ich mich, könnte eine Antwort lauten. Ja, aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn ich kann auch gut für mich selbst sorgen, weil mein Verstand weiß, dass Selbstfürsorge heilsam für mich ist, für meinen Geist, meinen Körper und meine Seele. Dazu muss ich mich nicht aus ganzem Herzen selbst lieben. Ich behandle mich gut, mit liebevoller Güte mir selbst gegenüber. Das ist möglich, auch wenn ich tief in meinem Inneren nicht bedingungslose Liebe zu mir selbst spüre. 
 
Der hohe Anspruch, sich selbst lieben zu müssen, führt zu immensem Druck und Druck hat mit Liebe absolut nichts zu tun.
Das Streben nach Selbstliebe kann Menschen komplett überfordern und nach hinten losgehen. Weil sie sich nicht lieben können, fühlen sie sich schlecht, klein, schuldig, wertlos, nicht gut genug, schämen sie sich sogar. Das schüttet nur mehr Salz in die Wunden einer lieblosen Kindheit. Boah, der oder die kriegt das mit der Selbstliebe hin, nur ich nicht. Und zack fühlt man ich noch mieser und unfähiger als man sich eh schon fühlt.
Manche versuchen es dann mit Selbstliebe-Affirmationen. Sie stellen sich vor den Spiegel und reden sich ein, wie lieb sie sich haben und wie liebenswert sie sind. Aber Selbstliebe lässt sich nicht einreden. Sie lässt sich nicht mal von dem einreden, der uns lieb hat, obwohl wir uns selbst nicht lieb genug haben und auch kein Therapeut kann sie seinem Klienten einreden. Übrigens haben Studien gezeigt, dass Selbstliebe-Affirmationen nur bei jenen funktionieren, die ein gesundes Selbstvertrauen und ein starkes Selbstwertgefühl haben. Also bei Menschen, die sie eigentlich gar nicht brauchen. Andererseits ist es laut dieser Studien sogar so, dass Affirmationen bei Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl negative Effekte haben. Wenn du magst, mach mal den Test, stell dich vor den Spiegel und sage zu dir, dass du dich selbst liebst. Beobachte achtsam was passiert. Ziemlich schnell wird sich bei den meisten von uns eine innere Stimme melden die sagt: Nein, das ist doch nicht wahr, du belügst dich gerade selbst. 
 
Sich selbst lieben ist ein tief im Menschen verwurzeltes Gefühl, das sehr viel mit Urvertrauen zu tun hat und mit der eigenen Biografie. 
Unsere Selbstliebe basiert unter anderem wie gesagt auf unseren Glaubenssätzen und unseren frühkindlichen Erfahrungen. Eben deshalb ist sie nichts, was man affimieren oder von heute auf morgen lernen kann. Die Liebe zu uns selbst ist ein Gefühl, das man erfahren kann, wenn die Seele so weit ist. Da hilft kein Zerren und kein Druck machen. Zur Selbstliebe finden, ist sie nicht in uns angelegt, ist eine innerseelische Entwicklung, die mitunter ein Leben lang fortschreitet und vielleicht auch nie zum hohen Ziel bedingungsloser Selbstliebe führt.
Der Weg ist das Ziel. 
 
Wie sagte Antoine de Saint-Exupéry einmal: "Schon die Sehnsucht nach Liebe ist Liebe.“
Und dafür liebe ich ihn. Das sind Worte der liebevollen Güte, das ist eine tiefe menschliche Wahrheit, die mein Herz berührt. Das Herz, der Ort wo die Liebe wohnt – und zwar in allen Menschen, auch in denen, die sich mit der Selbstliebe schwer tun. Das Herz ist berührbar, weil es im Tiefsten lieben kann, auch wenn der Verstand es nicht erkennt. Wie sonst könnte es in Resonanz mit der Liebe gehen, wäre sie nicht schon da? 
 
Hören wir auf uns Druck zumachen und beginnen dort wo der Weg anfängt, nämlich bei der Selbstakzeptanz. Anstatt uns Druck zu machen, wir müssten uns selbst lieben, ist es heilsamer uns selbst zu akzeptierten, mit all unseren Schwächen, Traumata und Schattenseiten, die uns als ganzer Mensch ausmachen. Das ist Selbstmitgefühl. Mit diesem Mitfühlen mit uns selbst beginnen wir uns mit uns selbst anzufreunden. Das genügt. Selbstfreundschaft ist der Beginn einer liebevollen Beziehung zu uns selbst.

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