Sonntag, 10. April 2022

Corona-Lockerungen: Warum manche Menschen damit Probleme haben

 



Das Blatt hat sich gewendet. Nach über zwei Jahren Ausnahmezustand  ist das „normale" Leben wieder möglich. Fast alle Maßnahmen sind aufgehoben und die Welt da draußen steht allen Menschen wieder offen, unabhängig vom Impfstatus.

Das erlebt aber nicht jeder so.

Die Corona-Pandemie hat bei manchen Menschen das Sozialverhalten nachhaltig verändert. Das betrifft jene unter uns, die alle Kontakte heruntergefahren oder vermieden haben. Das führt zu einem Gewöhnungsprozess, der nicht so schnell umkehrbar ist. Vielleicht ist auch bei manchen von uns das Bedürfnis nicht mehr da, wieder so zu leben wie vorher, aber ohne zu wissen, wie ein anderes Leben aussehen kann.

 

Manche Menschen haben sich in all der Zeit an den Zustand der Isolierung und daran niemanden real zu sehen gewöhnt. Die Reize wurden heruntergefahren. Wenn sie wieder ins Leben hinausgehen, kann das zu einer Reizüberflutung und in der Folge zu Anpassungsschwierigkeiten führen.

Reizüberflutung ist etwas, das hochsensible Menschen gut kennen und sich davor zu schützen wissen, indem sie sich immer wieder ins Eigene zurückziehen um zur Ruhe zu finden. Was für Hochsensible normal ist, ist es für andere jedoch nicht. Für manche Menschen aber war dieser Rückzug neu und ungewohnt. Mit der Zeit aber haben sie sich o daran gewöhnt, dass das Rausgehen zu einer emotionalen Belastungsprobe wird. 

 

Auch wenn die Omikronvariante des Virus wesentlich ansteckender ist, aber weniger schwer krank machen soll, und zudem die Masken fallen und alle Maßnahmen aufgehoben wurden, haben einige Menschen Angst, sich zu infizieren. So wählen sie weiter den schützenden Rückzug und schotten sich gegenüber realen Kontakten ab.

Sie können nicht mehr umschalten. So gaben in einer Studie der American Psychological Association gaben 48% der Befragten an, sie hätten trotz Impfung Angst vor sozialen Kontakten. Bei 46% löste der Gedanke, wieder einen Lebensstil wie davor zu führen , ein "unbehagliches Gefühl" aus.

 

Andere fühlen sich nach Monaten der Ausgrenzung als Ungeimpfte in der Welt seltsam fremd und nicht mehr dazugehörig. Ihr Menschenbild hat sich aufgrund dieser Erfahrung verändert.  

Sie mussten erleben wie sie diskriminiert, diffamiert, ausgegrenzt und zum Sündenbock gemacht wurden. Man hat ihnen Grundrechte entzogen, sie in Politik und Medien mit spalterischer Rethorik als asoziale Subjekte beschimpft, ihnen sogar den Erstickungstod gewünscht. Freunde, Familie und Bekannte haben sich von ihnen abgewandt und manche haben ihre Arbeit verloren. 

Das macht etwas mit der Psyche. Das bedeutet Zurückweisung und Stigmatisierung, das bedeutet Abwertung und Kränkung. Das weckt Gefühle von Ohnmacht, Wut, Trauer und Schmerz. Emotional kann sich wiederholte Demütigung in Depressionen, Angststörungen oder sozialer Phobie niederschlagen.


Bei einigen der Betroffenen wurden alte Traumata getriggert. 

„Du bist nicht okay, du bist ein Fehler, du bist nicht gut genug, krank, sozial inkompatibel, nicht liebenswert, wertlos, an allem schuld “ ... etc.  

Wer unter solchen destruktiven inneren Überzeugungen aus der Kindheit leidet, bei dem wurden alte Wunden aufgerissen und eine Menge Salz hineingestreut. 

Die Folge: Das von jeher fragile Vertrauen in die Mitmenschen und die soziale Gruppe ist massiv erschüttert. Dazu kommt möglicherweise, dass Werte, Ethik-und Moralvorstellungen, Gerechtigkeitssinn und der Glaube an das Gute, Wahre und Schöne in Frage gestellt wurden und nicht mehr tragen. Die Welt ist aus den Fugen geraten, sie hat sich aggressiv und feindlich gezeigt. 

Wie so wieder Vertrauen fassen und in wen, vor allem dann, wenn vormals Vertraute zu erbitterten Gegnern wurden?

 

Alles ungut.

Aber jetzt könnte doch alles wieder gut sein oder es zumindest werden, mag man denken, der Spuk ist erst mal vorbei. 

Aber so ist es nicht. Nicht für jeden.

 

Was ist, ist, dass einige Menschen durch ihre persönlichen Erfahrungen während über zwei Jahren Corona-Krise den Boden unter den Füßen verloren haben. Sie haben das Vertrauen in andere und die Welt, wie sie zuvor wahrgenommen und erlebt wurde, verloren. 

Was ihnen als selbstverständlich erschien ist zerstört. Was sozialen Halt und gefühlt Sicherheit gab, ist zerbröselt. Ihr ganzes System von Denken, Fühlen und Handeln ist erschüttert oder in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Betroffene fühlen sich auf sich selbst zurückgeworfen und manche von ihnen sind vollkommen auf sich alleine gestellt, in einer Welt, die kein sicherer Ort ist und in der sie, im worst case, nicht mehr wissen wo ihr Platz ist. Was Betroffene über Monate verinnerlich haben ist: Das Außen ist bedrohlich, und/oder: Ich gehöre nicht mehr dazu.

 

Manche von uns wollen auch nicht mehr dazugehören.

Aber wo gehören wir denn jetzt hin?

Diese Frage kann zu einem Sinnverlust führen, der schwerwiegende seelische und existentielle Folgen hat, wenn keine Lösung gefunden wird.

Eine dieser Folgen ist soziale Angst, die sich aufgrund der einschneidenden Erfahrungen von Rückzug, Isolation und/oder Ausgrenzung  entwickeln kann, besonders dann, wenn eine psychische Disposition vorliegt.

Soziale Angst ähnelt den Auswirkungen der Agoraphobie: der Angst das Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen und auf öffentlichen Plätzen zu sein, oder alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen sowie die Furcht vor der Betrachtung durch andere Menschen. All das führt zur Vermeidung der phobischen Situationen. Der Lebensradius wird immer enger.  Nur der Rückzug in die eigenen vier Wände fühlt sich noch sicher an.

 

In den beschriebenen Fällen, die ich in den vergangenen Monaten und Wochen in der Praxis erlebt habe, ist das alte Leben der Betroffenen unwiederbringlich vorbei und ein neues nicht in Sicht oder nicht vorstellbar.

Wie auch soll ein neues Leben Gestalt annehmen in dem Vertrauen, Halt und Orientierung verloren sind und wenn dann noch Angst herrscht?

Kein leichtes Unterfangen, denn eine Realität, die erschüttert wurde, führt immer zu einem Trauerprozess. Dieser hat vier verschiedene Phasen:

  1. Phase: Schock, Leugnen, Nicht-Wahrhaben-Wollen. 
  2. Phase: Aufbrechende Emotionen.
  3. Phase: Suchen und Sich-Trennen.
  4. Phase: Neuer Selbst- und Weltbezug.

 

Der Prozess der Verarbeitung eines existentiell bedeutenden Verlustes wird von jedem Menschen anders durchlebt und dauert bei jedem unterschiedlich lang.  Am Ende aber führt er in den meisten Fällen, vorausgesetzt, die Trauer wird nicht pathologisch, zur Akzeptanz: Der Mensch kehrt ins Leben zurück und beginnt es neu zu gestalten.

Wo aber Angst und Trauma zu Verlust und Trauer verstärkend hinzukommen, ist es wichtig, die Ängste und traumatischen Erlebnisse zu konkretisieren, sie zu benennen und zu hinterfragen und sich gegebenenfalls professionelle psychologische Hilfe zu suchen, wenn man sie nicht alleine bewältigen kann, was nach meiner Erfahrung selten gelingt. In jedem Falle gilt: Das Alte muss verarbeitet und losgelassen werden, bevor ein neuer Lebensentwurf überhaupt angedacht werden kann.

 

 

Wenn Du Unterstützung brauchst, bin ich für Dich da.

Kontakt: aw@wende-praxis.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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