Viele Menschen verbringen ihr Leben in einem Nebel von Selbsttäuschung. Aber der Mut sein Wesen verstehen zu wollen und die Täuschung zu entlarven, gehören zu einem gelingenden Leben. Deshalb ist Selbsterkenntnis so wichtig.
Wer sich selbst einigermaßen kennt, bei dem klaffen Erleben, Selbstbild und Fremdbild nicht auseinander. Selbsterkenntnis ist nicht nur als Quelle innerer Freiheit, sondern auch im Zusammenleben mit Anderen von Bedeutung. Den Anderen zu achten und zu verstehen setzt voraus, dass wir uns selbst verstehen und achten mit allem, was uns ausmacht und nicht nur mit unserer Schokoladenseite.
Je unbewusster ein Mensch sich seiner selbst ist, desto blinder ist er für sich selbst und umso stärker sind die Projektionen, denen er unterliegt. Mit solchen Menschen lebt es sich schwer, sie sind selbstgerecht und ignorant allem gegenüber was ihnen nicht in den Kram passt. Unfähig die eigenen Schattenanteile bei sich zu lassen stülpen sie sie anderen über und attackieren und verurteilen andere genau für das, was sie in sich selbst an Dunklem nicht sehen können.
Herman Hesse, der bei Josef Bernhard Lang, einem Schüler C.G. Jungs, wegen seiner Depression eine Analyse machte, fasst es in seinem Buch "Demian", in einem Satz zusammen: „Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bilde etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“
Alles was uns bei anderen aufregt, verrät uns viel über unseren Schatten. Je stärker die eigene emotionale Betroffenheit, je stärker die Abwehr, je massiver de Verurteilung oder Schuldzuweisungen, desto sicherer handelt es sich um ein inneres unbewusstes Thema, das nach Außen projiziert wird, desto sicherer ist: Das hat etwas mit uns zu tun.
Solange wir das nicht begreifen, werden wir alles, wofür wir die Verantwortung nicht übernehmen wollen, auf andere projizieren und dort bekämpfen. Wir erleben das gerade in einem erschreckenden kollektiven Ausmaß.
Jedes Mal wenn wir die Hand erheben und mit dem Finger auf andere zeigen, zeigen wir mit drei Fingern auf uns selbst und auf ein ungelöstes Schattenthema. Die Psyche tritt mit nichts in Resonanz, mit dem sie kein Thema hat, das nicht in ihr selbst liegt. Jedes Mal wenn wir uns über das Verhalten eines anderen Menschen aufregen, könnten wir tief durchatmen und unsere Gefühle ehrlich anschauen um herauszufinden, was wir da im Spiegel des Gegenübers präsentiert bekommen, das uns auf uns selbst zurückwirft und zwar auf das, was wir nicht entwickelt haben oder auf das, was wir beharrlich verdrängen und an uns selbst nicht akzeptieren wollen oder können oder auf das, was uns Angst macht.
Zugegeben, das ist nicht einfach, denn wenn wir uns entscheiden mit dieser Achtsamkeit und Bereitschaft zur Introspektion durchs Leben zu gehen, werden wir auch dem Schmerz begegnen, der in unserem Schatten verborgen sind. Wir werden unsere Angst spüren, unsere Wut, unsere Trauer, unsere Sehnsüchte und unsere Wünsche und Triebe, die verrotten und uns innerlich vergiften, wenn wir sie nicht aus dem dunklen Keller der Seele befreien.
Verdrängtes bleibt solange im Schatten, wie wir es dort festhalten, aus Angst nicht der zu sein, der wir gerne wären, in den eigenen Augen und in den Augen der anderen.
Aber das Leben interessiert all diese Abwehr nicht. Es hat seine eigenen Gesetze, die sich dem Hochmut der Menschen verweigern. Es will sich immer vervollständigen.
Deshalb all die Lektionen, bis wir sie annehmen und endlich bereit sind daraus zu lernen. Tun wir das nicht, kommen sie als „History repeating“ von Lebenserfahrungen, Situationen, Zuständen und Begegnungen ähnlicher Stärke und Qualität wieder. Individuell und kollektiv.
Dann stöhnen wir: „Puh, das hatte ich doch schon mal.“
Es hört dann auf wiederzukehren, wenn wir uns den Lektionen bewusst stellen und erkennen was da zu lernen ist und dann unser Verhalten und unsere Handlungsweisen verändern - zum Besseren hin. Wenn es uns gelingt uns unseren Schatten zu stellen und auch das Ungute in uns selbst anzuschauen und es vor uns selbst zuzulassen, werden wir dazu fähig, alle in uns aufkommenden dunklen Gefühle anzunehmen. Und dann hören wir auf wir sie anderen vor die Füße zu werfen, die sie uns angeblich machen. Immer trifft ein Schatten auf einen anderen Schatten. Auch in Beziehungen ist das so. Deshalb gilt auch hier: Wenn du ein guter Partner sein willst, dann schau erst in dich selbst hinein, bevor du dem anderen das Ungute vorwirfst und ihm die Verantwortung zuschiebst, dass es nicht gut läuft.
Erst wenn wir uns die eigene Fehlbarkeit, die eigene Hilflosigkeit, unsere Schwäche, unsere Ängste und unsere dunklen Anteile vor uns selbst eingestehen, entkommt das Ich der Verblendung, dem Hochmut, der Verurteilung und der Selbsttäuschung. Wir gelangen zu einer demütigen Haltung, in der wir uns dem öffnen, was wir als Mensch auch sind – nämlich nicht so, wie wir gerne wären, sondern eben auch wie wir nicht gerne sind, nämlich unvollkommen. Und erst dann sind wir fähig dem Anderen sein Anderssein zu erlauben.
C. G. Jung nennt das den Individuationsprozess, die Selbstwerdung. Nach Jung hört dieser Prozess niemals auf. Aber auch wenn es kein endgültiges Ziel gibt, das Einlassen auf diesen Prozess schenkt uns, so unbequem er auch bisweilen sein mag, Selbsterkenntnis und damit Lebenssinn, Lebensfülle und innere Freiheit. Solange wir aber unsere Schatten verdrängen, leben wir in der Rüstung der Projektion, bereit das Schwert zu ziehen, wenn andere scheinbar gegen uns sind. Solange wir in dieser Rüstung stecken, leben wir im Kampf mit uns selbst und der Welt, und die Welt wird sich gegen uns wenden und nichts wird besser.
" Es besteht nicht die geringste Chance, bedingungsloses Wohlwollen anderen gegenüber zu entwickeln, solange wir uns nicht um unsere eigenen Dämonen gekümmert haben", sagt die buddhistische Nonne Pema Chödrön.
Sie hat Recht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen