Freitag, 10. Dezember 2021

Aus der Praxis - Verzweiflung und Möglichkeiten des Entkommens


                                                                             Malerei: A. Wende

Verzweiflung ist der schlimmste Affekt. Sie ist ein Phänomen von eminent existentieller Bedeutung und existentieller Bedrohung. In diesen dunklen Zeiten gibt es viele verzweifelte Menschen. Manche von uns sind sich dessen bewusst und sprechen es aus. Andere verdrängen ihre Verzweiflung. Aber sie lässt sich nur schwer und nicht ewig verdrängen. Jedes Mal, wenn ich einen Anruf oder eine Mail auf meinem Praxisaccount bekomme, weiß ich, dass da jemand ist, der mich um Hilfe bitten möchte. Darin liegt meine Aufgabe, diese Menschen zu unterstützen, die Angst, die Ohnmacht, die Einsamkeit, die Verzweiflung, mit ihnen gemeinsam aufzulösen. Das ist eine Herausforderung in dieser Zeit, denn vieles an Möglichkeiten und Werkzeugen, die uns als Berater früher zur Verfügung standen um Leiden zu lindern, gibt es nicht mehr. Die soziale Kälte, die Maßnahmen, die zunehmende Isolation, die ganz normalen selbstverständlichen Dinge, die das Leben erleichtern und mit Freude erfüllt haben, fehlen. Die Orte an denen wir Möglichkeiten hatten in Kontakt zu gehen sind für viele Menschen angstbesetzt und für manche sogar verschlossen. 

Wir befinden uns in einer immer engeren und isolierteren Welt, in der wir, in einem bisher nie gekannten Ausmaße, auf uns selbst zurückgeworfen und auf uns selbst reduziert sind. Wer keinen Halt in der Geborgenheit der Familie oder in der Beziehung findet, hat es schwer und ist der Verzweiflung oft am Nächsten.

Wir Menschen sind Bindungswesen. An diesen Bindungsmöglichkeiten fehlt es an allen Ecken und Enden. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, erkannte Martin Buber. Dieses Du, fehlt vielen. Und wir merken, je länger die Isolation andauert, auch soziale Netzwerke können das Du nicht ersetzen. Die virtuelle Welt ist eine Illusion, die das Bedürfnis nach Bindung nicht erfüllen kann, denn wir brauchen dazu ein fühlbares, sichtbares direktes Gegenüber.

Die Angst und die Unsicherheit wachsen. Die Hoffnung ist eine fragile Größe geworden. Die Zuversicht ein täglicher Kraftakt. Wann hat das ein Ende? Werde ich da lebend rauskommen? Das fragen sich viele von uns. Daran kann man verzweifeln.

Wir wissen es nicht, man kann es nicht vorhersehen und nicht absehen, im Gegenteil, alles wird immer bedrohlicher. Jeden neuen Tag übergießen uns die Meldungen der nächsten Katastrophe mit einem eiskalten Schauer. Daran gewöhnt man sich nicht. Wo Angst,  Ohnmacht und Leiden kein absehbares Ende haben, kommt Resignation, kommt Lebensmüdigkeit, kommt Verzweiflung. Damit habe ich es zu tun, Tag für Tag in meiner Praxis. 

Wir leben in einer verwirrenden, verwirrten Welt und das seit nahezu zwei Jahren. Um uns nicht in diese Verwirrung hineinziehen zu lassen bleibt uns nur ein: Klarheit und Ruhe bewahren.

Aber das sagt sich so leicht. Das sagt sich einem Menschen, der verzweifelt ist, erst einmal gar nicht, weil er genau das nicht mehr aufrecht erhalten kann: Klarheit und Ruhe. Meine Aufgabe ist es diesen Menschen wieder aufzurichten. Ihm potenzielle Türen zu öffnen, durch die der Zutritt zu einer „anderen Welt“ ermöglicht wird, die jeder Klient ins sich trägt, auch wenn er es in den meisten Fällen nicht einmal ahnt. Diese andere Welt sichtbar zu machen, sie aus ihrem Versteck zu holen, ist die gemeinsame Herausforderung. Dafür stehen mir bloß drei Werkzeuge zur Verfügung: der Mensch, der zu mir kommt, ich selbst und die Worte.

Was ein Verzweifelter braucht ist das Gefühl von Bindung und ein neuer Focus. 

Diese Bindung ist es, die trägt, im Leben, wie in der Beziehung zwischen Klient und Berater. Sie muss gelingen um helfen zu können. Gelingt sie nicht, vermögen Worte nichts. Dann bleiben sie leer und haben keine Wirkung. Haben sie Wirkung, gelingt es den Verzweifelten aus seinem tiefen Tal herauszuholen.

Aber wer ist dieser verzweifelte Mensch überhaupt?

Der verzweifelte Mensch ist einer, der in Situationen oder Lebensumstände hereingezwungen wurde, die jegliche realen Alternativen ausschließen. Das bedeutet nicht nur den Verlust von Handlungsfreiheit, sondern in Folge den Rückzug in die Innerlichkeit, die am Ende zu Selbsthass, Einsamkeit, Isolation, Unproduktivität und Lähmung führt. 

Der dänische Philosoph Soeren Kierkegaard wagte um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Behauptung, kein Mensch lebe oder habe gelebt, ohne dass er verzweifelt gewesen sei. Demnach hat man es bei der Verzweiflung mit einem Grundphänomen menschlicher Existenz zu tun, so der Philosoph. Hier können wir beginnen: Die Verzweiflung erkennen, als das, was sie ist – Teil unseres Menschseins und sie, so schwer es fällt, radikal akzeptieren. Erst von diesem Punkt aus können wir weitergehen in die Welt des Klienten, in seine zu erreichende innere Wahrheit, in die Welt jenseits der äußeren Bedingungen, die nicht veränderbar sind, hin zu dem was veränderbar ist, indem wir den Focus nach Innen legen, wo andere Regeln gelten, wo wir trotz allem Leiden etwas finden können, was von Innen hält, beispielsweise die "paradoxe" Gelassenheit, zu der man gelangen kann.

„Ich will beweisen, dass der Mensch auch noch in der Hölle Mensch bleiben kann.“ 

Das war der innere Antrieb des Psychiaters Viktor Frankl das Konzentrationslager zu überleben. In dieser Beweisführung verdichtet sich die Existenzanalyse des großen Humanisten Frankl. An den grauenvollen Orten der Unmenschlichkeit, begründete er seine Philosophie der Menschlichkeit. „Jeder Mensch behält bis zum letzten Augenblick seines Lebens die Freiheit, über seine Haltung zu der tragischen Situation zu entscheiden.“ Dieses Potenzial des Menschen, über sich selbst hinauszuwachsen, nannte er „Die Trotzmacht des Geistes“ In dieser inneren psychischen Widerstandskraft lag für ihn die letzte Freiheit des Menschen im Angesicht eines unabänderlichen Schicksals. 

Es ist die innere Einstellung dem Leiden gegenüber, die darüber entscheidet, ob ein Mensch dieses Leid bewältigt oder daran verzweifelt. Daran glaube ich ganz fest. An dieser inneren Einstellung können wir als Du und Ich arbeiten - der Mensch, der sich mir anvertraut, in der Hoffnung, dass ich aus dem, was er mitbringt, mit ihm gemeinsam, das Bestmögliche mache.

1 Kommentar:

  1. Genau im richtigen Moment findet mich ihr wie immer so direkt nachvollziehbarer, weil perfekt in Worte gefasster, Beitrag eines Zustands, der mit dem Gefühl von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit einhergeht.

    Schon beim Lesen Ihrer Worte erschließt sich dann, dass es eben auch in diesen finsteren Momenten den Lichtblick der "Trotzmacht des Geistes" gibt, wie Sie Viktor Frankl zitieren (und dessen Satz mir noch nicht bekannt war und eben jetzt genau zur rechten Zeit kommt). Das Wesentliche für mich angesichts dessen lautet daher: Schon immer gab es auch Menschen, die in ähnliche Lagen geraten sind und auch jetzt in solchen und noch schlimmeren Lagen sind. Wie man aus dieser blossen Tatsache Trost oder Kraft schöpfen kann, wie es manche immer erwarten, also "der Vergleich nach unten", wie mir unlängst jemand erschütternderweise mitgeteilt hat, wie also so ein eigentlich zynischer Vergleich trösten soll, hat sich mir nie erschlossen. Die Bewahrung von Menschlichkeit und Humanismus auch angesichts erlebter Hölle - und anders wird man die Konzentrationslager als Häftling dort auch nicht erlebt haben können –, das ist ein Gedanke, der Trost spenden kann. Und dann in der Konsequenz sogar zu dieser paradoxen Gelassenheit zu führen vermag im Sinne von: Es ist auch anderen schon gelungen angesichts sich als aussichtslos darstellender äußerer Umstände eben den Funken ihres Menschseins, ihres Seins zu bewahren. Allem zum Trotz.

    Danke.

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