Montag, 12. Juli 2021

Gefühle sind zum Fühlen da

 
                                                                     Foto: A.Wende
 
 
In der Praxis habe ich es jeden Tag mit Menschen zu tun, denen es nicht gut geht. Viele haben Angst. Sie haben Sorgen und Probleme und sie leiden unter belastenden Gefühlen und Gedanken, die sie nicht haben wollen. Aber, und das vermittle ich immer zu Anfang: Das „nicht haben wollen“, ist Teil Ihres Problems.
Warum ist das so?
Zahlreiche Untersuchungen haben erwiesen, dass der Versuch, belastende Gedanken und Gefühle loszuwerden, zu noch mehr belastenden Gedanken und Gefühlen führt. Es ist also nicht möglich, unsere Gedanken und Gefühle an- und auszuschalten oder sie einfach verschwinden zu lassen.
Wenn wir versuchen, destruktive Gedanken, unangenehme körperliche Empfindungen oder belastende Gefühle zu unterdrücken, machen wir es nur noch schlimmer. Wir produzieren mehr vom selben.
Um das nicht mehr zu tun, dürfen wir uns zunächst mit der Tatsache anfreunden, dass Loswerden und Kontrolle nicht die Lösung sind, wenn es uns emotional nicht gut geht, sondern dass diese Versuche das Problem verstärken und weiter aufrechterhalten. 
 
Das hat damit zu tun, dass unser Gehirn und unser Nervensystem zusammenspielen. Wenn wir gegen einen Teil dieses Systems arbeiten, indem wir unterdrücken, vermeiden oder abwehren, was uns belastet, wehrt sich das System und sendet Signale an andere Teile des Systems.
Loswerden wollen, kontrollieren wollen, was wir nicht denken oder fühlen wollen, kostet enorm viel Kraft. Wir führen damit einen Kampf gegen uns selbst, den wir nicht gewinnen können. Gegen unsere Gedanken und Gefühle anzugehen, bedeutet, gegen uns selbst anzugehen, und das führt dazu, dass wir in unseren Gefühlen und Gedanken, unserer Trauer, unserer Wut und unserer Angst, stecken bleiben.
Die Energie der unterdrückten Gefühle steigt stetig an und entlädt sich irgendwann in Form von Erschöpfung, unangemessen starken Wutausbrüchen, Ängsten, Panikattacken, Depressionen oder auf der körperlichen Ebene mit Krankheit. Es ist wie mit einem Ball, den wir unter Wasser drücken: Lösen wir den Druck, ploppt er nach oben.
 
Unterdrücken, abwehren, kontrollieren – nichts davon tut uns gut.
Es ist wesentlich heilsamer unseren Gefühlen mit Aufmerksamkeit, Achtung und Mitgefühl zu begegnen, sie anzunehmen und da sein zu lassen. Wir dürfen uns erlauben: Was ich fühle, ist nicht angenehm, aber ich muss nicht davor weglaufen. Ich kann mich entscheiden, einfach still dazusitzen. Ich kann ruhig ein- und ausatmen und den Gedanken oder das Gefühl wahrnehmen als das, was es ist, und nicht als das, was mein Verstand daraus macht. Ich kann zulassenwas ist, ich kann spüren, was ist, und ich muss jetzt nichts tun, damit es weggeht. Ich erlaube diesem Gefühl, von selbst zu gehen. Ich kann es zulassen und als das erleben, was es ist: ein Gefühl.
Gefühle sind in Bewegung. Gefühle kommen und sie vergehen. Und damit sie das können, dürfen sie erst einmal da sein.

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