Mittwoch, 14. Juli 2021

Aus der Praxis – Erwartungen

 

                                                                          Foto: www

 

Erwartungen sind eine imaginierte Vorwegnahme von Ereignissen, Reaktionen und Handlungen, die erwartet, gewollt, gewünscht, erhofft oder vermutet werden, und die in der Zukunft liegen.

 

Je gereifter, stabiler, selbstabhängiger, ausgeglichener und zufriedener ein Mensch ist, desto geringer sind seine Erwartungen an andere.

Je mehr wir von anderen erwarten, desto unsicher sind wir uns unserer selbst. Und je unsicherer wir uns unserer selbst sind, desto abhängiger sind wir von den Aktionen, Reaktionen und dem Handeln anderer.

Wir sind unsicher an uns selbst gebunden und in der Folge damit auch unsicher an andere gebunden. Daher ist es uns dann so wichtig, dass andere, indem sie unsere Erwartungen erfüllen, uns die Sicherheit vermitteln, die wir in uns selbst nicht finden können. Erfüllt das Gegenüber das Erwartete nicht, kommen wir nicht damit klar. Wir sind enttäuscht, frustriert, gekränkt und vielleicht sogar wütend auf den anderen. Er ist schuld, dass es uns nicht gut geht, weil er nicht erfüllt hat, was wir von ihm erwartet haben.  

 

Aus unseren emotionalen Reaktionen auf unerfüllte Erwartungen können wir viel über uns selbst lernen.

Meist ist es das Innere Kind, dem wir bei achtsamer Selbstreflexion begegnen, das etwas haben will und nicht bekommt, was es braucht. Es ist dieses verletzte, unsichere Kind, das glaubt, es sei es nicht wert, dass man ihm gibt, was es erwartet. Es fühlt sich zurückgewiesen, nicht gesehen, nicht anerkannt, nicht geliebt, verlassen. Seine Bedürfnisse werden nicht erfüllt und dementsprechend reagiert es mit den unterschiedlichsten Gefühlen – meist unheilsamen. 

 

Was wir jetzt brauchen ist ein klarer Innerer Erwachsener, der dieses Kind besänftigt. Ein Erwachsener, der ihm wie eine hinreichend gute Mutter klar macht, dass sein Wohlbefinden nicht abhängig ist von der Erfüllung seiner Bedürfnisse durch andere, sondern, dass wir für es da sind, seine Gefühle verstehen und mit ihm mitfühlen. Und dann holen wir es aus seiner Trance und erklären ihm, dass es dazu lernen darf, um nicht weiter in der Opferrolle stecken zu bleiben und weiter zu leiden. Es darf erwachsen werden. 

 

Wenn wir das nicht tun, uns also nicht bewusst machen, dass Erwartungshaltungen uns in eine Opferrolle drängen, weil das Erwartete nicht unseren Vorstellungen gemäß geliefert wurde, bleiben wir im Klammergriff alter Verletzungen und reagieren auf jede unerfüllte Erwartung aus dem verzerrten Weltbild des Inneren Kindes.  

 

Eine Besonderheit sind Erwartungen an Menschen, die uns helfen.

Eine freiwillige und von Herzen gegebene Hilfeleistung ist etwas Gutes. Mit einer Erwartung oder gar der Einforderung der gegebenen Hilfe nehmen wir dem Helfer die Freiheit, so zu handeln, wie er es aus freien Stücken tun würde. Setzen wir ihn mit unseren Erwartungen unter Druck, vermitteln wir ihm das Gefühl, dass er allein dafür verantwortlich ist, wie wir uns fühlen. Damit spürt der Helfende nun eine Verpflichtung. Aus dem freiwilligem Helfen-wollen wird so ein eingefordertes Helfen-müssen. Die Beziehung wird empfindlich gestört.  

 

Erwartungen machen eng und sie engen ein. 

Zu hohe Erwartungen machen uns hilflos, klein und letztlich sogar einsam. Vor allem aber – sie machen uns abhängig, je größer und fordernder sie sind, und sie überladen unsere Beziehungen zu anderen. Unter dem Druck von Erwartungen brechen sie irgendwann zusammen.

 

Was dürfen wir lernen?

Wir dürfen lernen, dass wir Erwartungen haben dürfen, denn das ist menschlich, aber wir dürfen auch begreifen, dass eine Erwartungserfüllung eine freiwillige Gabe ist, die sich nicht einfordern lässt.

Wir dürfen lernen, dass wir selbst die Macht haben zu entscheiden, wie wir mit unerfüllten Erwartungen umgehen und sie überprüfen, ob sie angemessen sind oder überzogen. 

Wir dürfen lernen, dass wir selbst verantwortlich für unsere Gefühle sind, die unerfüllte Erwartungen in uns auslösen.  Damit übernehmen wir Eigenverantwortung. 

Wir dürfen begreifen, je fixierter die eigenen Erwartungen sind, desto höher ist der Erwartungsdruck an uns selbst und an andere und desto häufiger wird sich Enttäuschung einstellen.

Je mehr wir uns fixieren und uns von den eigenen Erwartungen abhängig machen, desto enger wird unser Erleben. Wir sind nicht offen für Situationen und damit verhindern wir den Fluss des Lebens sowie unsere Fähigkeit dem Leben spontan zu antworten, wenn es uns Aufgaben stellt.

Je abhängiger wir von der Erfüllung unserer Erwartungen sind, desto mehr entsteht Abhängigkeit. Wir ertragen es nicht, dass der andere sein eigener Mensch ist und sein eigenes Leben lebt. Wir sind in unheilsamer Weise an andere gebunden und binden andere in unheilsamer Weise an uns. 

Zu hohe Erwartungen in Beziehungen verhindern die tiefe, wertschätzende, freie Begegnung von Ich und Du. Echte Begegnung findet nur da statt, wo keine Erwartung, keine Forderung und kein Druck herrschen.

Erwartungen gehören zum Menschsein.

Es ist jedoch heilsam uns immer wieder bewusst zu machen, ob unsere Erwartungen angemessen sind und  was  sie mit uns selbst und mit den Menschen machen, an die wir sie richten. 

 

 

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