Samstag, 8. September 2012

Ein starkes Gefühl



die mutter sei nicht depressiv gewesen, nein. 

vielleicht die großmutter, wenn er genau nachdachte. ja, die großmutter, er erinnere sich. schwer depressiv sogar, aber damals nannte man das nicht so, na ja die eltern seien einfache leute gewesen, die von so was nichts wussten. es war etwas dumpfes, das über der großmutter lag.

immer wenn er sie besuchen musste, weil die mutter das so wollte, habe er schon vorher diesen kloß im hals gespürt. am liebsten hätte er die mutter angelogen, er sei da gewesen und vielleicht hätte sie ihm das geglaubt. er wisse es nicht. er sei also hingegangen, meistens am wochendene, nach der kirche am sonntag. erst die kirche mit der langweiligen predigt des pfarrers und danach die großmutter, die völlig apatisch im bett lag in ihrem vergilbten nachthemd und ihn anstarrte als sei er ein fremder. er sei sich nie sicher gewesen, ob sie ihn erkannte. ich bin der joseph, so habe er sich der großmutter vorgestellt in den sauberen sonntagskleidern und der kleinen flasche klosterfrau melissengeist, die er von der mutter mitbekommen hatte, für die großmutter. die habe er ihr auf den nachtisch gestellt, ganz vorsichtig um kein geräusch zu machen, weil es so still war bei der großmutter. 

was haben sie gefühlt?, fragte ich ihn. 

er sah mich an, dachte nach. ich dachte, ich will schnell wieder heim. 

das ist kein gefühl, antwortete ich. sie wollten weg, nach hause, das ist ein gedanke, ein erinnerter gedanke. 

wissen sie, bei uns gab es keine gefühle. man redete nicht über gefühle. ich weiß nicht, was soll ich denn gefühlt haben? ich mochte die großmutter nicht. 

aber, was war das gefühl, wenn sie dachten, ich will schnell wieder heim? 

na, is doch klar, dass ein kleiner junge keine lust hat, seinen vormittag mit einer stummen alten frau zu verbringen. 

aber das ist kein gefühl, das ist ein gedanke, sagte ich.

raus, nichts wie weg. ich wollte die flucht antreten. das könnte man so sagen. er nickte, ja, flüchten wollte ich. ging aber nicht, schließlich war es meine großmutter und meine mutter erwartete eben, dass ich sie besuche. sie hätte es dem vater gesagt und der hätte mir eine tracht prügel verpasst.

das sind gedanken, erwiderte ich.

mein gott, was wollen sie denn hören, verdammt noch mal! 

aha, sie sind jetzt wütend.

na da muss man doch ärgerlich werden, wenn sie einem so die würmer aus der nase ziehen. gefühlt, was habe ich gefühlt? ich fühle nichts, wenn ich daran denke.

ja, weil sie daran denken.
jetzt fühlen sie doch auch was.

ja, ich fühle mich in die enge gedrängt.

und was macht das mit ihnen?

ich bin wütend.
stimmt. und was ist wut?

na ein in gefühl, das wollen sie doch hören!

gut, sie fühlen also etwas.

ja, sie haben recht, aber es fühlt sich nicht gut an.

und was haben sie gefühlt, damals im schlafzimmer der großmutter?

verdammt, ich war wütend, weil ich mit der alten stummen frau im bett zusammen sein musste, die mich nicht mal erkannte, die nicht mal wusste, wer da vor ihr steht, ich war schließlich ihr enkel. die anderen jungs hatten auch großmütter. die waren anders, komplett anders, die haben kuchen gebacken und geschichten erzählt. nur meine, die war depressiv. krank war die, und meine mutter wusste das und hat mich da hin geschickt. ich finde das fruchtbar, wie kann man das einem kleinen jungen zumuten?

er hatte tränen in den augen. 

wie kann man das einem kleinen jungen zumuten? in dem zimmer hauste der lebendige tod. ich hatte angst.

ja, das ist ein gefühl, sagte ich. angst ist ein starkes gefühl.








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