Sonntag, 20. November 2011

DER BLICK


Er schaltete das Flurlicht an. Es war vier Uhr nachmittags. Seit fünfzehn Jahren lebt er in dem dreistöckigen Reihenhaus am Rande von Wien. Das Haus war dunkel. Anna hatte es gesagt und dass die Dunkelheit sie bedrücke. Das war im letzen Sommer, als sie das erste Mal zu Besuch kam. Da hat er es auch bemerkt, das Dunkle.

Er war tagsüber oft zuhause, es hätte ihm auffallen müssen. Sechs Stunden arbeitete er in der Versicherungsagentur. Wirklich zu tun hat er nichts. Wenn er um sechs aufstand war er um sieben Uhr in der Firma. Er konnte dann am frühen Nachmittag wieder gehen. Im Sommer legte er sich auf die Dachterrasse. Stundenlang lag er dort mit geschlossenen Augen, vor sich hindösend ließ er sich die Sonne auf die alternde Haut scheinen. Sie verbrannte, wurde noch älter. Am Abend klappte er den Liegestuhl zusammen, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er legte sich auf das Sofa und sah fern. Wenn er Hunger hatte aß er Wurst und ein Stück Brot. Es war ihm egal, was er aß. 

Anna kochte gern. Es gefiel ihm, wenn sie in der Küche am Herd stand und er den Duft des warmen Essens roch.Sie war schön. In einem Buch hatte er gelesen, dass Frauen nicht nach schönen Männern suchen, sondern nach Männern, die schöne Frauen besessen haben. Warum das so war, wusste er nicht. Er war glücklich, dass er sie bekommen hatte. Seit es sie gab floss sein Atem freier durch die Brust. Er hatte sie im Internet kennen gelernt. Monatelang hatte er ihr geschrieben. Jedes Wort hatte er sich überlegt, bevor er es in die Tastatur tippte. Sie war anspruchsvoll. Er wollte ihrem Anspruch genügen. Anna lebte in einer Welt, die ihm fremd war. Sie war Schauspielerin und lebte von der Hand in den Mund. Im Gegensatz zu ihm war sie arm, fand er. Er dachte ihr Armsein könne es ihm leichter machen sie zu erobern. Es war keine Berechnung, er war kein berechnender Mensch. 
 
Er besaß etwas Geld, das er auf die Seite gelegt hatte und Aktien. Das Haus am Wiener Stadtrand war abbezahlt, er fuhr den einen neuen Wagen und hatte sich die kleine Finca auf Ibiza gekauft. Seit Jahren verbrachte er eine Woche im Frühling und eine Woche im Herbst auf der Insel. Sieben Tage lang fuhr er das immer gleiche Programm. In der Sonne liegen, fünf, sechs Bier trinken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Mehr brauchte er nicht. Ab und zu eine Frau, wenn es sich ergab. Unverbindlicher Sex, eine gemeinsam verbrachte Nacht ohne Folgen.

Mit Anna war es anders. Vom ersten Moment an, als er sie gesehen hatte, als er in ihre Augen gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er ohne sie nicht mehr sein wollte.
Die Art und Weise wie sie ihren Blick auf ihn legte, der in ihn hinein ging, dieser Blick, der ihn erfasste und über ihn hinaus alles andere. Dieser Blick klebte ihn an sie, wie zäher Leim, der Fäden zog, wenn sie nicht bei ihm war.

Sie war pure Energie. Er selbst hatte bei allem und jedem nur an der Oberfläche gekratzt. Intensiv eingetaucht war er in nichts und niemanden. Anna lebte intensiv, ließ sich treiben ohne über Konsequenzen nachzudenken. Rein, raus ins Leben, fallen und aufstehen. Eine Achterbahnfahrt, manchmal ein Ausflug in die Geisterbahn, intensiv eben. Wenn er mit ihr schlief spürte er es. Es war als versinke er in ihrem ganzen Sein, ihre Vergangenheit und Gegenwart in sich hineinsaugend. Anna, durch den Schwanz in sein Herz. Da blieb sie, egal wo er war, egal wo sie war.

Mit der Dunkelheit im Haus hatte es angefangen. Seit er sie kannte sah er die Dinge anders. Er betrachtete sie anders, auch sich selbst. Manchmal schmerzte es, er konnte nicht sagen, weshalb und wo.

Es war ein Gefühl, fremd und zugleich seltsam vertraut, so als habe es dieses Gefühl vorher schon gegeben, wie ein stummes Fordern, dem er nicht nachzugeben bereit gewesen war. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er fernsah und nicht wusste, was er gesehen hatte. Er dachte nach über dieses und jenes, das war neu. Anna dachte immerzu, sprach aus, was sie dachte. Ein Gedanke ergab ein Nächstes und wieder ein Nächstes – ein tosendes Unwetter in ihrem schönen Kopf, das sie anstrengte. Er spürte es. Dann legte er seine Hand auf ihr weiches dunkles Haar, ließ sie dort liegen, bis sie ruhiger wurde.

Er war es nicht gewohnt viel nachzudenken. Seine Gewohnheiten waren die Dinge, die er tat, alltägliche Dinge über die man nicht nachdenken musste. Er sei ein Konsument, hatte sie ihm vorgeworfen, fixiert auf äußere Reize und Informationen, da sei nichts, was aus ihm selbst komme und dass er nur reagiere auf das, was ihm begegnete. 

Was ihm begegnete war wenig, das immer Gleiche. Eine wabernde Monotonie. Schrecklich, hatte sie gestöhnt und ihn gefragt, wie er so leben konnte. Er hatte er nie darüber nachgedacht. Er tat es einfach. Es war einfacher die Dinge zu tun, wenn man sie einfach nur tat. Ohne zu hinterfragen gibt es keine Fragen, hatte er gesagt. Und keine Antworten, hatte sie geantwortet. Er hatte nie nach Antworten gesucht. Er hatte keine Fragen, glaubte sich fraglos zufrieden.

Vielleicht wäre er immer so geblieben, fraglos zufrieden, bis ans Ende seiner Tage. Viele Menschen leben so, er hatte es als normal empfunden, normales Leben eben. Jetzt wusste er nicht mehr was besser oder schlechter war, das Normale oder das Andere. Anna war das Andere. Ein Teil des Anderen war, dass sie unberechenbar war wie ein Segel im Wind. Am Anfang hatte er geglaubt, er habe die Kraft, das Steuer in die Hand zu nehmen. Manchmal gelang es ihm für Stunden, aber dann riss sie sich los, plötzlich und unerwartet.

Irgendwann hatte er die Angst gefühlt. Angst sie zu verlieren, mit leeren Händen dazustehen in dem dunklen Haus. Die Angst wurde groß, so groß, dass er ihr nachts in seinen Träumen begegnete. Er saß alleine in einem Boot, das ziellos im Meer trieb, hin und her gepeitscht vom Sturm, der hohen Wellen schlug. Sie schwappten ins Boot, es sank. In Schweiß gebadet, von seinen eigenen Schreien geweckt, rief er ihren Namen im Sinken. Wenn sie neben im lag beruhigte er sich schnell. Er legte die Decke fester über ihren Körper, betrachtete ihr Gesicht und lauschte ihrem Atem, bis er darüber einschlief. Wenn sie nicht da war lag er wach und dachte nach, über die Zeit, die vor Anna gewesen war. Er blickte er in eine graue Leere und fand keine Erinnerung in Farbe, die ihn in den Schlaf hinüber rettete.

Es hatte andere Frauen gegeben. Sie hatten in sein Leben gepasst wie ein Teil eines Puzzles, der am Ganzen nichts verändert. Er war ein Mann, der den Frauen gefiel, er war charmant, nicht von der plumpen Schwerfälligkeit, die als männlich galt. Er war kein Verführer, eher ein Beantworter des Zufalls, der ihm die Frauen zugespielt hatte. Nach kurzer Zeit hatte er sie betrogen, weil ihn ein neuer fremder Körper gereizt hatte. Sie hatten es herausgefunden und ihn verlassen. Tiefe Spuren hinterlassen hatte keine. Ein Mal wäre er beinahe Vater geworden. Manchmal dachte er noch an die Frau und das Kind, das es nicht hatte geben sollen. Eine verlorene Möglichkeit, nichts weiter.

Bevor Anna kam war er lange Zeit allein gewesen. Nach der ersten Nacht mit Anna hatte er sie gebeten zu bleiben. Sie hatte ihn mit ihren traurigen braunen Augen angesehen und gesagt,dass alles vergänglich sei und jeder Anfang schon das Ende in sich trägt und dass die Liebe zwischen Mann und Frau keinen anhaltenden Effekt habe, anderes zu denken sei ein Phantasma zwischen Frauen und Männern, das an einer jahrtausendelangen Gegenteilsbeweißführung zerplatze. Er fragte sie, wie es mit ihm und ihr sei. Sie sagte, sie wisse es nicht und wolle es nicht wissen.

Sie blieb. Er genoss die Nächte mit ihr. Manchmal weinte sie. Er verstand es nicht. Es sei dieser kleine Tod des Ichs, das Versinken im anderen, wo man nicht mehr eins ist, sondern eins und zwei, ein Ganzes für den Moment. Sie sagte, sie wünschte sich, es in sich selbst zu fühlen, das Ganzsein. Es machte ihn traurig sie so reden zu hören. Manchmal kam es ihm vor, als mache seine Anwesenheit ihre Melancholie größer. Sein Dasein, eine stets angezweifelte Sache, die sie umso tiefer in ihre Eiswüste zurückwarf. Er wollte sie glücklich sehen, ihr die Freude schenken, die er fühlte, einfach weil er lebte. Manchmal teilte sie sie, aber sie konnte das Gefühl nicht festhalten.

Sie glaubte nicht an Dauerhaftes. Alles sind Momente der Einzigartigkeit, nicht zu halten und nicht wiederholbar, sagte sie oft, und dass alles in einer Beziehung unterschiedliche Stadien einer Auseinanderentwicklung seien, unzählige Szenen zwischen dominieren und dominiert werden, zwischen Aufeinander zugehen und voneinander weggehen, ein immerzu variierender Rhythmus in den unterschiedlichsten Tönungen, an deren Anfang der erste Kuss stehe und am Ende unausweichlich der Schluss. 

Es half nichts, dass er mit seiner Idee von der Ausnahme kam, der Zuversicht, des Vertrauens und dem Glauben an das Veränderbare. Sie wollte wissen, woran sich sein Glaube festmache, er selbst habe noch keine Liebe halten können. Er habe sie alle betrogen. Er verstummte. Sein Inneres kämpfte den Kampf weiter.

Er beobachtete ihr Kommen und Gehen und hielt an der Zuversicht fest. Manchmal blieb sie für eine Weile. Er zeigte ihr Wien, er führte sie zum Essen aus, sie tranken Wein und hörten Musik, sie liebten sich, in den Nächten hielt er sie in seinen Armen. Sie schrieb Geschichten, die sie ihm am Abend vorlas. Er schlug ihr vor zu ihm zu ziehen, sie habe nichts zu verlieren. Sie sagte, sie habe ihre Freiheit zu verlieren.

Wenn sie fort war, war das Haus still, so still dass es ihm körperlich wehtat. Er rief sie an, jeden Tag am Morgen und am Abend. Die Gespräche ließen ihn unsicher zurück. Es war als sei sie unendlich weit weg von ihm, ein Wegsein, dass mehr als räumliche Trennung war. Es fühlte sich an, als habe sie ihn von sich abgeschnitten und all das was sie miteinander geteilt hatten. Wenn er den Hörer auflegte fühlte er nichts als Leere.

Während er auf Annas Wiederkommen wartete ging er ins Internet. Aus Langeweile, um sich abzulenken sah er sich die Fotos der Frauen an. Die, die ihm gefielen schrieb er an. Eines Tages fand er eine Einladung zu einem Treffen unter den Antworten in seinem Nachrichtenpostfach. Die Frau war aus Wien. Sie tat geheimnisvoll. Sie hatte kein Foto in ihrem Profil, aber was er las gefiel ihm, es hatte etwas Leichtes, Unbeschwertes. Warum nicht, dachte er. 

Anna hatte damit nichts zu tun, sie war die, die er liebte, auf die er wartete, die wiederkommen würde. Bis dahin musste er der Leere in seinem dunklen Haus entkommen. Ein Abend, der nicht vor dem Fernsehgerät endete, eine kleine Ablenkung, nichts weiter.
Er nahm die Einladung an. Die Frau schlug ein Restaurant in der Nähe der Hofburg vor. Am Samstagabend, ob ihm das Recht sei? Er schrieb zurück, dass er sich freue und da sein würde. Sie würde ihn an den langen schwarzen Haaren und an dem schwarzen Mantel erkennen.

Es war eines der vielen Wochenenden, an dem Anna nicht kommen würde. Gegen sechs ging er unter die Dusche. Er genoss das warme Wasser, das über seinen Körper floss, rasierte sich sorgfältig und cremte sich ein. Er zog seine Lieblingsjeans und ein schwarzes Hemd an. Als Duft wählte er das Eau de Toilette aus Ibiza, das Anna so gern mochte.
Mit einem Glas Whisky setzte er sich an den Schreibtisch und wählte ihre Nummer. Sie nahm nicht ab. Er trank den Whisky und probierte es noch einmal. Dann wählte er ihre Handynummer. Es war ausgeschaltet. Er war enttäuscht, er hätte gerne ihre Stimme gehört, bevor er das Haus verlies. Sie war manchmal tagelang nicht erreichbar. Er hatte sie ein paar Mal gebeten, das Handy nicht auszuschalten, aber sie hatte gesagt, sie brauche diesen Schutzraum ohne Kommunikation mit dem Aussen um Ruhe zu finden.


Deprimiert verließ er das Haus, lief er zum Parkplatz, setze sich ins Auto und machte den Motor an. Es war bereits dunkel. Es war November und eiskalt. Auf der Fahrt in die Stadt dachte er an den Winter, der bald kommen würde und wie froh er war in diesem Jahr Weihnachten nicht alleine verbringen zu müssen. Sie würden es gemeinsam feiern hatte sie gesagt und die ganze Zeit im Bett bleiben, wenn ihnen danach war. Er fühlte wie das Begehren in ihm hochstieg. Es gab keine andere, es gab kein Ende, für ihn nicht und für sie nicht, es ging um mehr als einen Moment in der Zeit. Er würde ihr beweisen, dass Liebe etwas anderes sein konnte, als die abgemessene Strecke zwischen einem Anfang und einem Ende, zwischen Kuss und Schluss. Seine Stimmung besserte sich.

In der Nähe des Restaurants fand er einen Parkplatz. Sein Blick in den Rückspiegel. Die Liebe zu Anna machte ihn attraktiver, die Konturen seines Gesichts wirkten schärfer. Zufrieden zog er den Schlüssel aus dem Zündschloss, öffnete die Wagentür und stieg aus. Leichtfüßig ging er die wenigen Schritte zur Hofburg. 

Als er das Lokal betrat sah er sie sofort. Sie saß gegenüber dem Eingang und rauchte. Seine Augen verhakten sich in ihrem Blick. Der Blick, dieser Blick, der ihn erfasste und über ihn hinaus alles andere. 

EPILOG
Er steht auf der Strasse. Kotzt in den Rinnstein. Kotzt sich selbst an. Hose versaut. Leben versaut. Herz kalt. Steigt in sein Auto, dreht den Zündschlüssel um. Schaltet den Motor an, gibt Gas, mehr Gas, tritt das Gaspedal durch. Anna im Kopf. Druck innen, Druck zum zerplatzen. Platzt nicht. Man platzt nicht wenn es weh tut. Warum eigentlich nicht. Er fragt sich das. Findet keine Antwort. Auch egal. Gas geben und fahren. Immer geradeaus. Auf die Landstrasse. Herz kalt. Eiskalt. Mehr Gas geben. Steuer loslassen. Loslassen. Druck von außen. Viel Druck. Tut weh. Dann nicht mehr.