Dienstag, 17. August 2010

Harald interessiert sich nicht für Geschichten

"Es gibt viele Geschichten. Die meisten davon interessieren mich nicht." Er grinste ihr ins Gesicht. Sie verachtete ihn, wie er da saß, selbstgefällig und von sich überzeugt, überzeugt davon, dass er sie beeindruckte. Sie hatten sich im Zug auf der Fahrt von Berlin nach Frankfurt kennen gelernt. Er hatte sie angesprochen. Sie hatten sich unterhalten bis der Zug in Frankfurt einfuhr. Normalerweise redete sie mit niemandem, sie las lieber oder sah aus dem Fenster. Jana sah gerne aus dem Fenster. Sie mochte die Bewegung der vorrüber ziehenden Außenwelt. Sie gab ihr Augenblicksgewissheit.

Ausnahmsweise war sie offen gewesen für das, was von außen kam, sonst hätte sie ihn abblitzen lassen. Er war charmant, aber nicht ihr Typ. Er war klein, das sah man schon wenn er saß, und schmal. Aber er hatte schöne Augen und schöne Hände. Sie erinnerten sie an die Hände eines Jungen. Sie mochte Männer, die etwas Jungenhaftes an sich hatten. Es erinnerte sie an Tom. Das mit Tom war vorbei. Sie hatte ihn nicht mehr ertragen, seine Sucht, die ihn immer mehr veränderte, ihn unberechenbar und aggressiv machte. 

Tom hatte ihr wieder und wieder geschworen mit dem Zeug aufzuhören. Er konnte nicht aufhören. Es war nichts mit Tom und nichts ohne Tom und sie kam nicht mehr mit sich selbst zurecht. Sie war zu lange für Tom da gewesen, wusste nicht mehr wer sie war und was sie wollte.

„Vielleicht interessiert mich ihre Geschichte ja, na los erzählen sie mal,“ unterbrach der Mann ihre Gedanken. Er hieß Harald. Ein altmodischer Name, der egal wie man ihn betonte, hart klang. Er passte zu ihm. Harald, in diesem Falle konnte man sagen nomen est omen. Sie musste innerlich lachen. Am Liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. „Ich habe sie schon oft erzählt, sagte sie, „wenn man eine Geschichte oft genug erzählt hat, verliert sie an Bedeutung.“ „Na, vielleicht haben sie ihre Geschichte deshalb auch so oft erzählt, weil sie sie nicht los werden wollen.“
 
Er kam sich schlau vor. Sie hätte sich nicht mit ihm verabreden sollen. Er begann sie zu langweilen. In letzter Zeit langweilten sie die meisten Menschen. Es war schwer sich das selbst gegenüber zuzugeben, weil es arrogant war, außerdem machte es einsam. „Besser allein als in schlechter Begleitung,“ dachte Jana und nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. Sie hätte sich gerne eine Zigarette angesteckt. Im Lokal war Rauchen verboten. Auch ein Grund, warum sie immer seltener ausging.

Früher war sie gern in ein Café gegangen, hatte sich einen Milchkaffee bestellt, geraucht und die Leute beobachtet. Ohne Zigaretten machte ihr das Ausgehen keinen Spaß. Gut, sie war auch süchtig, aber ihre Sucht veränderte nicht die Persönlichkeit. Tom hatte irgendwann eine Art Paranoia entwickelt, überall sah er Angriffe und Feinde. Jana wurde mit der Zeit seine größte Feindin. Er warf ihr seinen ganzen Frust hin, beschimpfte sie und machte sie dafür verantwortlich, dass keiner seine Bilder haben wollte. Sie wusste, dass sie keine Schuld daran hatte, die Bilder waren depressiv und dunkel wie Toms Seele. So was hing sich keiner an die Wand. Irgendwann sagte sie es ihm. Das war wohl ihr größter Fehler gewesen. Er schrie sie an, warf ihr vor, sie glaube nicht an ihn und zog sich in sich selbst zurück. Sie ließ ihn eine Weile schmollen, dann ging sie wieder zu ihm, weil er ihr fehlte. Er schien froh sie wieder zu haben. Aber bald machte er wieder sein beleidigtes Gesicht und versank im Marihuana Rausch. Es war sinnlos, Tom würde sich niemals ändern. Am Ende hat er sie geschlagen und auf die Straße vor seine Wohnung getreten. 

Hätte sie Harald diese Geschichte erzählen sollen? Einer wie er hatte keinen Begriff von einem Leben, das nicht sauber und ordentlich strukturiert war. Geschichten wie ihre kannte der allenfalls aus einem Film im Fernsehen und da hätte er garantiert weiter gezappt.

Was sollte sie mit diesem Mann reden, was hatte sie mit ihm gemeinsam, was auch nur einen Satz lohnte. Jana rutschte unruhig auf dem roten Kunstledersessel hin und her. Der Sessel machte ein quietschendes Geräusch. „Morgen fahre ich zu meinen Eltern, Ostern feiern. Sie wissen schon, die Feiertage und die familiären Verpflichtungen. Aber meine alte Mutter freut sich immer, wenn ihr erfolgreicher Sohn sie besucht. Meine Geschwister haben es bis heute nicht wirklich zu was gebracht. Sind halt normale Arbeitnehmer, haben keinen Ehrgeiz. Ich bin Mamas ganzer Stolz. Na, ich gönn ihr die Freude.“ Er lachte jovial. Fehlte nur noch, dass er sich vor lauter Stolz wie King Kong auf die Brust klopfte.

Sie dachte, Arschloch, und lächelte künstlich. Sie hatte keine familiären Verpflichtungen. An Ostern würde sie ausschlafen, lesen, vielleicht ins Kino gehen und sich einen guten Film ansehen. „Sie sind so still. Sagen Sie mal, hab ich sie eingeschüchtert, weil ich gesagt habe, dass mich die meisten Geschichten nicht interessieren?“ Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Seine Hände waren zart und weich. 

Jana wünschte sich, dass er endlich den Mund hielt, sie mit zu sich nach Hause nahm und sie überall berührte mit diesen Händen. Aber das wollte er nicht, er wollte sie kennen lernen. Sie hätte ihm sagen können, dass er sie als Mensch nicht im Geringsten interessierte, dass sie mit ihm vögeln wollte, sonst nichts. Jana wollte mit keinem Mann etwas anderes als Sex. Wenn es vorbei war würde sie gehen, zurück in ihre Wohnung, baden und im Bett ein Buch lesen, bis sie einschlief.

„Sie sind schön, wissen sie das?“ Er ließ ihre Hand wieder los. „Sie nicht, wissen sie das?“ die Worte lagen ihr auf der Zunge. „Ich muss jetzt eine rauchen.“ Sie suchte in ihrer Handtasche nach der Zigarettenschachtel. “So schlimm ist es mit der Sucht, na gut dann begleite ich sie nach draußen.“ Sie wollte nicht begleitet werden, aber sie wollte nicht unhöflich sein, also nickte sie kurz und lief Richtung Ausgang. Draußen war es kalt, sie ärgerte sich, dass sie ihren Mantel nicht übergezogen hatte, aber das hätte es noch umständlicher gemacht. Das Rauchen in der Öffentlichkeit war schon umständlich genug geworden. „Darf ich ihnen Feuer geben?“, fragte er, ganz Gentleman. Sie schüttelte den Kopf. „Ich zünde sie mir gern selber an.“ Gelangweilt blies sie den Rauch in die kalte Luft. Das würde nichts mehr werden heute Nacht. Harald hatte kein Feuer im Leib. In seinen Adern floss kühler Pragmatismus. 

Tom hatte gebrannt, sie hatten gebrannt und am Ende waren sie verbrannt. Sie wollte zu Tom, jetzt sofort, in seine Arme, seinen Mund küssen, ihn fühlen. Aber sie stand auf der Strasse, Seite an Seite mit einer lächerlichen Figur, die sich für einen Mann hielt und keine Ahnung hatte was das war. Jana nahm einen letzten tiefen Zug an ihrer Zigarette und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Er hustete. „Ich hab früher auch geraucht, aber dann hab ich von einem Tag auf den anderen aufgehört, jetzt fühle ich mich fitter. Verstehen sie mich nicht falsch. Es wäre natürlich gesünder für sie aufzuhören. Aber, es macht mir nichts aus, wenn sie rauchen.“ „Schön für dich,“ dachte Jana, und dass es ihr scheiß egal war, ob sie er sich fit fühlte und ob es ihm etwas ausmachte, dass sie rauchte.

Jana dachte an das Glasperlenspiel von Herrmann Hesse, das auf ihrem Nachtisch lag und das sie lesen würde, wenn sie zu hause war. Sie mochte Hesse. Seine Bücher gaben ihr das Gefühl, dass es Menschen gab, die ihre Sprache sprachen. Sie bedauerte, dass Hesse längst tot war, sonst hätte sie alles versucht um ihn persönlich kennen zu lernen. Sie tröstete sich damit, dass sie ihn im Himmel treffen würde, wenn sie tot war. „Können wir wieder rein gehen?“ Er machte den Versuch seine Arme um sie zu legen. Sie schüttelte ihn ab. „Ja, gehen wir“, sagte sie und warf die Kippe auf die Strasse.
Jana setzte sich und winkte den Ober an den Tisch. „Noch ein Glas Weißwein, bitte.“ „Für mich das Gleiche,“ echote Harald. „Ja, meine Schöne, wie ich sehe haben wir denselben Weingeschmack. Das ist doch ein Anfang, oder nicht?“ Jetzt will er sich wohl über Anfänge unterhalten, dachte Jana und antwortete: „Mir ist es egal welchen Wein ich trinke, er muss nur trocken sein.“ So trocken wie Du, dachte sie und dass sie ungerecht war, aber es war ihr gleichgültig, so gleichgültig wie dieser Harald, der ihr gegenüber saß und versuchte nett zu sein. 

„Wissen Sie, ich werde nicht schlau aus ihnen, sie sagen kaum etwas und ihre Augen sind so traurig. Im Zug war das anders. Kann ich ihnen irgendwie helfen?“ Irgendwie, dieses Irgendwie, das klang so wie eigentlich, nichts Eindeutiges. Es passte zu ihm. Es passte genauso zu ihr. Sie wollte sich nicht mehr verbinden, schon gar nicht an etwas binden. Sie wollte vergessen, und sich ein Leben suchen, irgendeines in dem es Tom nicht einmal mehr in ihren Gedanken gab. Tom war etwas Besonderes gewesen. Das Besondere schlägt das Allgemeine, dachte Jana, und dass es leider genau umgekehrt war.

Der Ober brachte den Wein. Mit einem Zug trank sie das halbe Glas aus. Eine Weile schwiegen sie. „ Mal ehrlich, als ich sie im Zug traf, dachte ich, was für eine tolle Frau, die leuchtet richtig. Aber mir scheint ihr inneres Licht schwindet mit der Sonne. Warum sonst sind sie abends so?“ Jana sah ihn an, suchte nach Worten, entschied, dass es keine gab. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch, stand langsam auf, nahm ihren Mantel und verließ das Lokal ohne sich noch einmal umzudrehen. Auf dem Nachhauseweg dachte sie an die Geschichten, die sie nicht interessierten und an Männer wie Harald, die nicht einmal merkten wenn eine Geschichte interessant war.