Sonntag, 15. Oktober 2023

Existenzschuld – Verbeulte Kinderseelen


                                                                      Zeichnung: A.Wende 

 

Unser Selbstbild speist sich aus den Erfahrungen, die wir als Kind mit unseren Eltern und anderen Bezugspersonen gemacht haben. In der Zeit bis zu Adoleszenz bildet sich heraus was wir innere Überzeugungen nennen. Aus diesen inneren Überzeugungen über uns selbst und die Welt werden Glaubensätze, die darüber bestimmen wie wir uns selbst, andere Menschen und die Welt wahrnehmen. Sie beeinflussen unser Denken, unser Fühlen und unser Handeln bis ins Erwachsenenalter. Sie sind so mächtig, dass sie sich hartnäckig der Veränderung entgegenstellen, auch wenn wir uns ihrer längst bewusst sind.
In einer Entwicklungsphase, wo unser Gehirn noch „denkt“, dass alles, was auf der Welt passiert, mit uns selbst zu tun hat, führt das zu falschen Inneren Gesetzen. Diese Inneren Gesetze wirken wie unbewusste und somit ungeprüfte, tiefe Programmierungen, die blind befolgt werden.
Unsere inneren Überzeugungen sind in unserem Gehirn fest installiert. So fest, dass es oft jahrelanger Therapie und kontinuierlicher Arbeit an uns selbst bedarf um die daraus entstandenen Glaubenssätze zu relativieren oder gar auszulöschen. Die Erfahrung zeigt: Ganz weg gehen sie nicht. Sie sind ein Teil von uns, aber wir können lernen angemessen damit umzugehen und unser Leben nicht ewig von diesen inneren Gesetzen beherrschen zu lassen. Dazu gehört viel Achtsamkeit und Übung.
Wenn wir uns selbst und die Welt durch den Filter unserer Inneren Überzeugungen sehen leiden wir unter einer Verzerrung dessen, was wirklich ist - wir nehmen nicht wahr, was ist, wir nehmen wahr, was wir über uns selbst und die Welt denken.
Das zu wissen ist elementar wichtig, wenn wir uns unseren Glaubensätzen nähern um sie zu hinterfragen und sie zu entmachten.
 
Was wir denken ist nicht wahr, auch wenn es sich genauso anfühlt.
Es gibt gute und destruktive Glaubenssätze. Die einen sind hilfreich um unsere Leben zu meistern, die anderen sind zerstörerisch. Die zerstörerischsten Glaubenssätze sind meiner Erfahrung nach diese beiden: "Ich bin nichts wert." Und: "Ich sollte besser nicht geboren sein."
Beide führen zu einem Lebensgefühl, das geprägt ist von Unsicherheit, Wertlosigkeit, Selbstabwertung, Schuld, Scham, Angst, Wut, Trauer, Verzweiflung, Melancholie, Schmerz und Resignation. Auch wenn wir uns dieser Gefühle im Alltag nicht immer bewusst sind beherrschen sie unser in-der-Welt-sein. In guten Zeiten weniger, in Krisenzeiten können sie uns ins Bodenlose stürzen.
Menschen, die in ihrem tiefsten Inneren davon überzeugt sind, dass sie nichts wert sind, Menschen, die glauben, sie wären besser nicht geboren, leben kein glückliches, erfülltes Leben. Irgendwann im Laufe der Zeit setzen sich auf diese Überzeugungen weitere destruktive Glaubensätze: „Ich habe nichts Gutes verdient. Ich bin nicht liebenswert. Keiner will mich haben. Das Leben ist gegen mich. Die Welt ist schlecht. Ich bin ein Versager. Ich tauge nichts.“
Ein Kopf und eine Seele, die voll ist von diesen Überzeugungen, leidet unvorstellbar.
Das ist traurig. Das ist zutiefst lebensfeindlich und das schließt jede Möglichkeit glücklich zu werden aus. Wer denkt, dass er nichts wert ist, behandelt sich selbst genauso - nicht wertschätzend. Er lässt sich genauso behandeln - nicht wertschätzend. Er behandelt sich ein Leben lang genauso, wie man ihn als Kind behandelt hat, bzw. wie er sich selbst empfunden hat, und damit führt er den emotionalen Missbrauch, ohne sich dessen bewusst zu sein, fort.
 
„Dasein ist als solches schuldig“, schrieb Martin Heidegger in Sein und Zeit.
So in etwa empfindet ein Mensch, der glaubt, er wäre besser nicht geboren worden. Dieser Mensch, trägt eine große Scham und eine schmerzhafte Existenzschuld in sich und somit in sein Leben. Die eigene Existenz wird unbewusst radikal infrage gestellt. In extremen Fällen ist dieses Dasein eine Selbstbestrafung für das Versagen gegenüber dem Ich-Ideal. „Ich bin nicht lebenswert“ ist Ausdruck der inhärenten meist unbewussten Destruktivität. Betroffene befinden sich permanent in einer destruktiven Scham-Schuld Spirale. Das kann so weit gehen, dass diese Menschen sich für sich selbst nicht nur schämen, sondern sich auch gnadenlos selbst verurteilen, verletzen, selbst schädigen, bis hin zu massivem selbstzerstörerischem Verhalten und schließlich sogar Suizid.
Existenzschuld ist die Schuld, die aus der bloßen Tatsache entsteht, zu existieren.
In den meisten Fällen basiert Existenzschuld auf dem kindlichen Gefühl eine Last für die Bindungsperson(en) zu sein oder sie erwächst aus der realen Erfahrung, dass die Mutter oder der Vater einen nicht haben wollte. Das Kind fühlt sich schuldig eine Belastung zu sein. Wer sich der Existenz seiner selbst schuldig fühlt, tut nicht selten alles um Abbitte zu leisten. Egal welche Verdrängungs, Kompensations - oder Abwehrmechanismen er anwendet - er schädigt sich vor allem selbst.
 
Wie kann ein erwachsener Mensch so etwas tun?
Er kann.
Er kann, weil seine Kinderseele verbeult und ramponiert wurde. Und diese verbeulte Kinderseele ist noch bis ins hohe Alter in ihm lebendig. In dieser Kinderseele ist die Welt von damals stehen geblieben. Diese Kinderseele steckt in einem erwachsenen Körper, einem erwachsenen Geist und ist nicht mit gewachsen. Scheu und ängstlich, unsicher und traurig, wütend, autoaggressiv, depressiv und verzweifelt, regiert sie sein Empfinden, seine Beziehungen, sein Leben - aus den Erfahrungen heraus wo ihr Zuhause war.
Also alles beim Alten.
So darf es nicht bleiben.
So soll es nicht bleiben.
Darum ist es überlebensnotwendig für diese verbeulte Kinderseele aus ihrer Trance zu erwachen.

Es gibt Wege um es zu schaffen.
Es braucht Bereitschaft.
Es braucht professionelle Hilfe.
Es dauert.
Es braucht Geduld mit uns selbst.

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