Freitag, 9. Juni 2023

Aus der Praxis: Wie kommt das Selbst ins Kind?

 

                                                                 Malerei: A.Wende


Das Selbst stellt den zentralen Mittelpunkt der Gesamtperson dar. Es ist ein Konzeptsystem aus den Gedanken und Einstellungen über uns als Person. Wenn vom Selbst die Rede ist gibt es den Ausdruck vom wahren Selbst, das von Anfang an in uns vorhanden ist und ideal ist, also so, wie wir als Mensch gemeint sind. Stellt sich die Frage: Von wem?
Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften behaupten: Der Mensch wird ohne ein Selbst geboren. Das Selbst eines Menschen ist nicht von Beginn an vorhanden, es entsteht. Entgegen aller spirituellen Annahmen, dass das Selbst als Urgrund in uns angelegt ist, sei das ein Fantasma. 
 
Wie aber entsteht unser Selbst, das sich später von anderen Menschen abgrenzen kann? Wie gelingt es uns, ein Ich, Du oder Wir zu denken, zu fühlen, zu erleben? Was macht einen Menschen zum Individuum?
Die Neurowissenschaften sprechen von der Komposition des Selbst durch Resonanzerfahrungen. Der menschliche Säugling, obwohl ein fühlendes, impulsives neugieriges Wesen, verfügt über kein Selbst und keinerlei Ich-Gefühl. Erst nach und nach komponiert sich ein Selbst und zwar durch Resonanzerfahrungen mittels der Gefühle, Stimmungen und Reaktionen unserer Bindungspersonen, die wir in uns aufnehmen. All diese Resonanzen werden auf uns übertragen und formieren unser Selbstgefühl. Das bedeutet: Das Baby sieht und interpretiert die Welt über den Blick seiner Bindungspersonen. Die Erfahrungen, die wir als Säugling und als Kleinkind machen, sind prägend für unsere Identitätsentwicklung.
Ein kleines Beispiel:
Wenn die Mutter immer traurig und ängstlich gestimmt ist, übernehmen wir das als Grundgefühl. Ist sie lebensbejahend und positiv gestimmt, übernehmen wir das als Grundgefühl.
Mit anderen Worten: Was wir als Säugling und als Kleinkind als Du erleben wird zum Teil unseres Selbst. Was unsere Bindungspersonen fühlen, denken und wie sie handeln wird zur Introjektion. Introjektion ist in der Psychoanalyse der umgekehrte Vorgang der Projektion, heißt: Wir nehmen fremde Gefühle, Anschauungen, Motive und Verhaltensweisen ins Eigene auf und integrieren dies. 
 
Warum ist das so?
Die Netzwerke im Stirnhirn speichern alles, was wir denken, glauben und fühlen. Diese sogenannten Selbstnetzwerke speichern und formen das Wissen, was wir über uns selbst erlangt haben. Und dieses Wissen kommt nicht aus uns selbst, es wird uns übermittelt. Die Art und Weise wie unsere Bindungspersonen auf uns reagieren, geben uns also Auskunft und Informationen darüber, zu fühlen, wer und was wir sind. Sie vermitteln uns auch das Grundgefühl willkommen zu sein oder unwillkommen zu sein. Fühlen wir uns willkommen, ergibt sich ein differenziertes, vertrauensvolles Aufgehobensein in der Welt. Fühlen wir uns unwillkommen und abgelehnt, fehlt uns dieses Gefühl des Aufgehobenseins. Somit legt dieses, über die Bindungspersonen empfangene Grundgefühl, die Basis dafür, wie wir uns im späteren Leben fühlen und bildet zugleich den Urgrund für unser Selbstkonzept und unser Selbst-Bewusstsein. Sprich: Die Haltung unserer Bindungspersonen zur Welt wird zu der unseren.
 
So weit so gut. Aber ist da wirklich wahr?
Kann und will ich das glauben?
Zum Teil ist es wahr. Vieles was in uns wirkt und Macht hat, ist übernommen. Aber gibt es da nicht doch etwas, ganz tief drinnen, unsichtbar für jede Bildgebung, das mich selbst als einzigartiges Wesen ausmacht ohne die Introjektionen meiner Kindheit?
C. G. Jung war davon überzeugt, wohlgemerkt, ohne die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften: Das Kind kann sich nur in der Beziehung zu seinen erwachsenen Vorbildern verwirklichen und entwickeln und so ein Selbst bilden. Und an anderer Stelle behauptet er, das Selbst sei in der psychischen Entwicklung schon gegeben, noch bevor das Subjekt seiner eigenen Existenz gewahr würde. Also noch bevor es ein Ich-Bewusstsein gibt, ist das Neugeborene schon ein Selbst. Donald Winnicott entwarf den Ausdruck „falsches Selbst“ für die Charakterisierung einer Persönlichkeitsstörung, die die Betroffenen schon in ihrer frühen Kindheits als Abwehr und Schutz ihres „wahren Selbst“ entwickeln.
Wie also jetzt?
Dann würde es ja doch ein wahres Selbst geben, zumindest wenn ich Jung und Winnicott Glauben schenke. Aber woher kommt das dann? Woher kommt dieses Etwas in uns, das wir auf diese Welt mitbringen, dieser innere Kern, der einzigartig und unzerstörbar ist?
Man kann jetzt glauben, was man will. Die einzige Wahrheit wird sich wohl nie finden lassen, Tatsache ist, wir sind zu einem großen Teil geprägt von den Erfahrungen unserer Kindheit. Aber diese Entwicklung ist danach nicht abgeschlossen, sie geht weiter. Das bedeutet, das Selbst ist nicht in Stein gemeiselt, wir entwickeln uns weiter und damit ist unser Selbst keine unveränderbare starre Größe, auf dessen Entwicklung wir keinen Einfluss haben. Es ist nicht passiv, es kann auch agieren.
Es kann lernen und verlernen, es kann sich verändern und entfalten. Es kann sich seiner Teile bewusst werden und damit ganz.
Auch der Buddhismus verneint die Existenz einer beständigen, unwandelbaren Identität, die im Allgemeinen mit dem Begriff des Selbst verbunden wird, da es nichts gibt, das beständig ist und alles wandelbar. Der Glaube an ein beständige Selbst gilt im Buddhismus sogar als eines der Geistesgifte, unter dessen Einfluss das menschliche Bewusstsein einer Täuschung unterliegt. Ziel ist es also diese Täuschung zu durchschauen und dadurch zu unserer wahren Natur zu gelangen. C.G. Jung nennt das den Individuationsprozess. Und der beginnt mit Selbsterkenntnis. 
 
Egal ob es nun ein wahres Selbst gibt oder ob es aufgrund von Resonanzen gebildet ist, es macht Sinn dieses Selbst zu erforschen, um uns selbst zu verstehen, denn uns selbst verstehen ist die Basis um mit uns selbst gut leben zu können. 
Vieles was zu unserem Selbst gehört ist uns nicht bewusst. Es liegt unter der Spitze des Eisbergs. Darum ist es sinnvoll ins Meer unseres Unterbewussten einzutauchen um unserem Selbst zu begegnen und es zu ergründen. Viele Menschen vermeiden das, weil ihnen dann etwas begegnen könnte, was sie meinen nicht ertragen zu können. Sie vermeiden die Begegnung mit sich selbst indem sie sich permanent mit dem Außen beschäftigen, sich ständig ablenken nur um nicht bei sich selbst zu sein. Sie sind im Reiz-Reaktionsmechanismus, nur um nicht bei sich selbst zu sein.
Das größte Glück aber ist, wenn ich mich selbst finde, mich selbst gestalte und es mit mir selbst gut aushalte, weil ich mich selbst akzeptiere und mag.
Und dazu muss ich mich selbst erst einmal kennen.
Das ist für mich der Sinn jeder Therapie: Uns selbst erkennen und es mit uns selbst gut auszuhalten

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