irgendwie war sie unheimlich, diese stille. sie war ganz plötzlich gekommen, in dem moment als sie den telefonhörer aufgelegt hatte. unmittelbar im selben moment. dabei hörte sie alles. sie hörte den zug, der wie immer zur gleichen zeit über die gleise ratterte in der nacht. sie wusste dann, dass es halb zwölf war, wobei es völlig nutzlos war es zu wissen. mitten in der nacht hatte die zeit eine andere größe. sie musste auch nicht aufstehen am anderen morgen, niemals. nicht mehr aufstehen, dachte sie in die unheimliche stille hinein, die mit dem aussen nichts zu tun hatte, denn sie hatte ja den zug gehört, wie jede nacht.
er hatte es gesagt. sie hatte es gewusst. schon die ganze zeit hatte sie es gewusst und immer auf den moment gewartet, wann er es sagen würde und trotzdem gehofft, dass er es nicht sagen würde. diese verdammte hoffnung, dachte sie und dass sie das wort hasste, weil es nach ohmacht klang.
sie fühlte nichts, ausser der unheimlichen stille und dann die angst, die diese stille mit sich brachte, langsam. sie kannte die angst, kannte sie gut, so gut wie eine alte freundin, die man ein leben lang mit sich rum schleppt wie einen klotz am bein, weil man sie eigentlich nicht mehr leiden kann, weil man nichts mehr von ihr will und nicht nein sagen kann, weil sie noch etwas von einem will. sie saß jetzt neben ihr im bett, die angst und sah sie an mit ihrer scheinheiligen fratze. am liebsten hätte sie ihr rein geschlagen mitten in die scheinheiligkeit, aber sie hatte ihre wut immer nach innen gerichtet. manchmal hatte sie sich die arme aufgeritzt mit einer der rasierklingen, die sie im drogeriemarkt besorgt hatte und sich dabei vorgestellt hatte, sie würde sie für ihren mann kaufen. für den moment hatte sie das dann geglaubt und sich gefreut die klingen neben den rasierpinsel zu legen im regal unter dem spiegel im bad. aber er war tot. er war früher tot als sie. es hatte es nicht leichter gemacht, das alt werden.
sie schlurfte ins badezimmer. zentnerschwer lag die stille auf ihr, in ihr. sie dreht den wasserhahn auf und trank direkt aus dem hahn. sie spürte wie das eiskalte wasser über ihr kinn lief wie ein schwall eiskalter tränen, der sich verlaufen hatte aus den augen nach unten übers kinn, das immer noch weh tat vom aufschlag auf die fließen und blau war. das war ihr in letzter zeit oft passiert, dass sie aufgeschlagen war auf dem boden im bad oder sonstwo. der arzt hatte gesagt, sie solle die gehhilfe dann eben auch zuhause benutzen, damit sei sie sicherer unterwegs.sicherer unterwegs. sie grinste. nichts war sicher, dass der arzt das nicht wusste, und dann dachte sie, dass er es sicher wusste und es nicht sagte, weil er ihr mut machen wollte.
sie drehte den hahn zu, nahm das graue gästehandtuch aus der kleinen box auf dem regal unter dem spiegel und wischte vorsichtig das kalte nass ab. im spiegel sah sie ihre augen. dass sie schön seien hatte er gesagt, der mann, den sie wochenlang in der kirche gesehen hatte und den sie angelächet hatte. gleichzeitig hatte sie über sich selbst lächeln müssen, die dumme alte kuh, die mit siebenundachtzig noch schmetterlinge im bauch gefühlt hatte, wenn sie den mann sah in der kirche. er hatte zurückgelächelt und dann waren sie an einem nachmittag einen kaffee trinken gegangen, dann immer wieder und sie hatte sich schön gemacht und ihre bunten kleider ausgeführt für den mann und ihm hatten sie gefallen.
als sie ihn eingeladen hatte eines abends, hatte sie pizza im supermarkt geholt, sie aufgebacken, den rotwein auf den tisch mit der wachstischdecke gestellt und zwei papierservietten neben die teller gelegt. sie hatten gegessen und getrunken und er hatte ihr von seiner frau erzählt, die im heim lag mit demenz. sie hatten sich angelächelt wie in der kirche. die schmetterlinge in ihrem bauch schlugen zart mit den flügeln und sie hatte ihren toten mann für diesen einen abend vergessen.
ihr blick klebte am spiegel. ihre augen waren grau und klein. sie waren geschrumpft wie alles an ihr und matt wie alles an ihr und unendlich müde wie alles in ihr, jetzt in dieser unheimlichen stille.
müde lächelte sie dem spiegel zu. sie hatte es doch gewusst, dass der anruf kommen würde. sie drückte auf den lichtschalter, schlurfte ins bett und zog sich die decke über den kopf. jetzt war es so still, dass es ihr den atem nahm. er würde nicht wieder kommen, hatte er gesagt und obwohl sie es gewusst hatte half es nichts, weil etwas wissen niemals etwas half. plötzlich hörte sie es, fühlte sie es, sie schrien ganz laut, die schmetterlinge in ihrem bauch, so laut, dass es die stille zeriss.