Sonntag, 17. November 2024

Wo ist die Liebe?

„Wo soll sie dann hin, die Liebe, wenn sie nicht gedeihen kann?“, fragte mich gestern ein Freund. Das ist eine tiefgründige und traurig machende Frage zugleich. Ja, wohin mit der Liebe, wenn sie nicht gedeihen kann? Anders formuliert, wohin mit der Liebe, wenn es keinen Ort gibt an dem sie gedeihen kann? Wenn es keinen Empfänger gibt, der sie nehmen will? Keinen Platz, an dem sie sich entfalten und lebendig sein kann, so dass sie fühlbar wird in uns, die wir sie hineingeben, in ein Subjekt oder ein Objekt. Picasso sagte einmal sinngemäß: „Wenn ich keine Menschen um mich hätte, würde ich einen Türknopf lieben oder einen Nachttopf, irgendwas.“ Krasse Aussage. Wie kann man einen Türknopf lieben, könnte man sich fragen? Man kann auch einen Nachttopf lieben, würde ich sagen, in Übereinstimmung mit Picasso. Es geht hier nicht um den Nachttopf und es geht nicht um den Türknopf – es geht allein darum liebevolle Resonanz zu empfinden zu etwas, egal was es ist. Liebe braucht Resonanz. Ohne Resonanz verkümmert sie. Aber es muss nicht immer diese eine Liebe sein, die wir jemanden entgegenbringen, auch wenn viele genau das verstehen und meinen, wenn sie von Liebe sprechen. Liebe ist weit mehr. Liebe ist zunächst in uns selbst. Nur weil sie in uns selbst ist, kann sie überhaupt nach Resonanz verlangen und in Resonanz gehen. Aber viele Menschen spüren diese Liebe in sich selbst nicht oder sie haben keinen Zugang zu ihr. Da muss erst jemand kommen um sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken. Ist da niemand, der die Liebe erweckt, wird sie nicht gefühlt oder sie wird gefühlt und weiß nicht wohin mit sich und dann wird sie ganz traurig und einsam und wir haben das Gefühl es gibt sie nicht für uns. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, heißt ein Buch von Carson McCullers. Es „jagt“ nach Liebe. Nach dem einen, der uns liebt, damit unsere Liebe andocken kann, damit sie weiß, wo sie gedeihen kann. Gibt es diesen Ort des Gedeihens nicht, weiß sie nicht, wohin mit sich. Das kann sehr einsam machen. Nicht nur allein, sondern zutiefst einsam innen, weil es unerfüllt ist, das Verlangen gehört, gesehen, berührt zu werden. In dieser lieblosen Einsamkeit fehlt der eine Mensch, dem wir uns nah und verbunden fühlen. Unsere Intimitätsbedürfnisse bleiben resonanzlos, unsere emotionalen Erfahrungen sind nicht mitteilbar, nichts kann geteilt werden – wir sind singuläre Menschen, ohne erfüllenden Kontakt, ohne Nähe, auf uns selbst reduziert. "Monaden, die keine Fenster haben, durch die etwas ein- oder austreten könnte", wie es Gottfried Wilhelm Leibniz sinngemäß beschreibt. Dann vielleicht doch den Türknopf lieben. Lieben was da ist. Der Türknopf als Metapher für all das, was es zu lieben gibt. Uns selbst, die wunderschöne Erde auf der wir leben dürfen, die Dinge, die wir lieben, die Tätigkeiten, die wir lieben, die uns in den Flow versetzen und uns Glück empfinden lassen, Augenblicksglück liebevoller Momente. Die Liebe zum Wahren, Guten und Schönen, das es trotz allem Unheilsamen auf der Welt gibt, diese Trias, wenn wir sie sehen können. Wir können sie gedeihen lassen, wir selbst, indem wir das Wahre, das Gute und das Schöne in uns fühlen, es erkennen, uns ihm öffnen, in Resonanz damit gehen. Dazu brauchen wir keinen anderen Ort als unser Herz und unsere Sinne. „Die Liebe ist in allen Dingen gleichsam die Seele und das Auge. In dieser Liebe schließt sich der Lauf der Welt. Liebe ist die volle Wirklichkeit des Guten", schreibt Hildegard von Bingen. Besser kann man es nicht ausdrücken.

Montag, 21. Oktober 2024

Dem Sinnlosen Sinn geben

 

                                                               Foto: A.Wende
 
Wir können vieles nicht kontrollieren und wir haben keine Macht über andere Menschen, egal was wir tun. Auch wenn wir unser Bestes geben, machen wir alle Erfahrungen im Leben, die wir uns nicht aussuchen. Es gibt sogar jede Menge Erfahrungen, die wir uns nicht aussuchen, dazu gehören auch die, die uns tief verletzen und die schmerzhaften. Solche Erfahrungen können uns, noch lange nachdem sie vorbei sind, schwer belasten. Was uns einmal den Boden unter den Füßen weggezogen hat, vergessen wir so schnell nicht. Tiefe Kränkungen und tiefe Enttäuschungen graben sich ein. Und sie verändern uns – unsere Haltung zur Welt, zu anderen und zu uns selbst.
 
Besonders tiefe Kränkungen stellen Wesentliches in Frage. 
Unser Hirn und unsere Seele versuchen wieder und wieder irgendwie damit fertig zu werden, aber es gelingt nicht – die schmerzhafte Erfahrung der Vergangenheit hat uns im Griff und überlagert unser Jetzt. Schon am Morgen, wenn wir aufstehen, fühlen wir Schmerz, Trauer oder Wut. Diese Gefühle begleiten im schlimmsten Falle unsere Tage.
So lebt es sich schlecht. Und es geht uns schlecht.
Wir sind nicht fähig loszulassen. Wir werden mit dem, was geschehen ist, einfach nicht fertig, so sehr wir uns auch bemühen.
Vergiss es einfach! Lass endlich los! Mach einen Punkt! Was war ist vorbei. Du kannst es nicht ändern! Schau nicht zurück, es könnte dich etwas einholen!
All das sind Sprüche, die wahr sind, aber wir fühlen es nicht.
Für uns ist es nicht vorbei, wir müssen damit leben. Wir schauen zurück, auch wenn wir wissen, es ist sinnlos, weil es ja nichts ändert. Es schadet uns nur. 
 
Ja, es ist sinnlos, aber wir können eins tun – wir können uns selbst fragen welchen Sinn wir dem, was geschehen ist, geben wollen. Sinngebung ist elementar wichtig für ein erfülltes, gelingendes Leben. Wenn wir das, was wir tun, als sinnhaft empfinden, sind wir zufrieden. Sinnhaftigkeit ist ein Lebensmotor und genau diese Sinnhaftigkeit kann uns helfen uns von den schmerzhaften Erfahrungen der Vergangenheit zu lösen. 
 
Wir Menschen sind Sinnsucher und wir sind Sinngeber.
Wir können uns fragen, welchen Sinn wir dieser Erfahrung geben wollen. Auch wenn der erste Impuls ist – das war so sinnlos!
Sinngebung hat nichts damit zu tun ob es sinnvoll oder sinnlos war, Sinngebung hängt allein davon ab, wie wir die Dinge deuten und welchen Sinn wir selbst den Dingen geben wollen.
Das ist Schöpfertum. 
 
Wir gestalten Sinn – darin liegt eine große Freiheit.
Jede Erfahrung kann uns etwas lehren, etwas erkennen lassen, etwas aufdecken, was uns nicht bewusst war, uns weiterbringen. Jede Erfahrung, auch die scheinbar Sinnloseste und Schmerzhafteste, birgt großes Wachstums- und Weiterentwicklungspotenzial, auch wenn wir gerne auf sie verzichtet hätten.
Wir können uns fragen:
Welchen Sinn will ich dieser Erfahrung geben?
Was kann sie mich lehren?
Über mich selbst, über andere, über das Leben?
Was in mir kann an dieser Erfahrung wachsen?
Was ist das Wesentliche, das ich erkenne, was ich ohne diese Erfahrung niemals erkannt hätte?
Was mache ich bewusst anders nach dieser Erfahrung?
Welche Kräfte hat sie in mir freigesetzt?
Welche Stärken habe ich in mir entdeckt oder entwickelt?
Wie will ich diese Erfahrung in mein Leben integrieren? 
 
Sinngebung bedeutet, wir begeben uns raus aus der Opferrolle. 
Wir schenken uns selbst Mitgefühl, Respekt und liebende Güte, wir werden kreativ und finden eine Lösung, um uns bewusst zu lösen, von dem, was uns in der Vergangenheit festhält.Wir würdigen uns selbst dafür, dass wir das Schmerzhafte durchgestanden haben und daran wachsen wollen – trotzdem, nein gerade wegen dem.
Wir geben dem Sinnlosen Sinn.
Wir nehmen ihm die Macht über unser Jetzt - das ist Selbstermächtigung. 
 
 
Angelika Wende

Freitag, 18. Oktober 2024

Alleinsein ist kein Zwischenzustand

 

                                                                          Foto: Pixybay

 
Wir ziehen Menschen aufgrund unserer psychischen Wunden an, man nennt das auch „Schlüssel-Schloss Prinzip“ -  die jeweiligen Wunden passen perfekt ineinander. Daher entsteht in dieser Art Beziehungen am Anfang auch bei vielen das trügerische Gefühl: „Das ist mein(e)Seelenpartner(In)", eben weil es scheinbar so perfekt passt. Diese Anziehung geschieht bei den Meisten von uns unbewusst.
Je unbewusster wir uns dessen sind, je weniger wir uns unserer eigenen psychischen Wunden bewusst sind, desto mehr arbeiten wir uns am anderen emotional ab.
Nach dem ersten Verliebtsein, kommt es schleichend zu dem, was wir toxische Beziehungen nennen, eine unheilsame Kollusion, in der Kampf und Schmerz die Beziehung dominieren.
Meist scheitern diese Beziehungen, wenn einer der Beiden den Kampf beendet und aus der Kollusion aussteigt.
Hat man dann plötzlich niemanden mehr, auf den man sich konzentrieren kann, ist man mit sich selbst konfrontiert. Das wird als extrem schmerzhaft empfunden, denn dann klafft neben dem Trennungsschmerz die Wunde auf, die man in der Beziehung auf den anderen projizieren konnte. Man ist plötzlich mit sich selbst konfrontiert, abseits von der Vorstellung der Person, die man für einen anderen sein möchte.
Für viele Menschen ist es daher sehr viel einfacher, sich direkt wieder in eine neue Beziehung zu stürzen, anstatt zu lernen, den Schmerz, die Stille und die Leere, die durch die Trennung entstehen, auszuhalten und anzufangen an sich selbst zu arbeiten, was bedeutet, mit der Leere umgehen zu lernen und sich seiner Wunde zu stellen um sie zu heilen.
Alleinsein ist kein Zwischenzustand, es ist ein vollwertiger Lebensabschnitt, in dem wir lernen können mit uns selbst eine gesunde Beziehung zu führen, anstatt uns weiter in ungesunden Beziehungen am anderen abzuarbeiten. 
 
 
 
Angelika Wende

Montag, 14. Oktober 2024

Projektion

 



Indem wir uns selbst vergeben und uns selbst ganz annehmen hören wir auf unsere eigenen unerwünschten Gefühle oder ungeliebte Eigenschaften auf andere Menschen oder Situationen zu übertragen.
Wir hören auf Emotionen, Wünsche und Ängste, die wir nicht haben wollen, die uns bedrohlich erscheinen, derer wir uns schämen, abzuwehren und zu bekämpfen und zu meinen, auf diese Weise hätten wir selbst nichts damit zu tun.
Wir hören auf zu projizieren, nehmen wahr, wann Projektion im Spiel ist und nehmen sie zu uns zurück.
Indem wir uns von Schuld- und Schamgefühlen lösen, die eigenen ungeliebten Seiten erkennen, sie nach und nach verstehen und annehmen, werden wir ganzer.
Wir vergeuden keine Energie mehr ins außen und kommen mehr und mehr bei uns selbst an.
Wir kümmern uns um unserer Eigenes.
Wir wandeln uns, anstatt Wandlung im Außen anzustreben.
Wo Verstrickung, Ablehnung oder Verhärtung herrschte, sehen wir uns selbst und unser Gegenüber immer klarer und verständnisvoller.
Wir erlauben uns vollkommen menschlich zu sein, so wie wir sind, mit unseren Macken, Ecken, Kanten und Problemen und sagen Ja zu uns selbst.
Wir haben den Mut uns selbst kennenzulernen, unsere Leere, unsere Schatten und unsere Ängste, und scheuen uns nicht, mit den dunklen Aspekten in uns selbst in Kontakt zu kommen.
Wir übernehmen auf reife Weise die Verantwortung für unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen.
Damit erleben wir nicht nur eine neue innere Freiheit, wir werden verstehender und friedlicher. 
 
“Das Wissen um die eigene Dunkelheit ist die beste Methode, um mit der Dunkelheit anderer Menschen umzugehen.”
C.G.Jung
 
 
Zeichnung: A.Wende

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Tragisch


                                                                      Foto:A.Wende

 
Man kann eine Tragödie nicht erklären.
Man kann sie nicht wegsprechen.
Man kann sie nicht relativieren.
Der größte Geist, die größte Weisheit, kann nicht zu einem gebrochenen Herzen sprechen 
und es mit Worten heilen.
Wir müssen tiefer an einen Ort gehen, wo Glaube, Liebe, Hoffnung und Sinn sind.

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Aus der Praxis: Compliance

 

                                                                Foto: Pixybay


Menschen, die in Therapie gehen haben oft hohen Leidensdruck und wünschen sich sehnlichst eine Veränderung. Mit der Haltung: „Ich habe ein Problem und der Therapeut soll es lösen, beginnen manche von ihnen dann eine Therapie.
Nur mit dieser Haltung funktioniert das nicht.
 
Veränderung geschieht nicht in den Sitzungen, sie geschieht dazwischen. Allerdings nur dann, wenn das, was erarbeitet, verstanden und erlernt wird, auch umgesetzt wird. Therapie und Coaching brauchen Compliance.
Das Wort Compliance kommt aus dem Englischen und bedeutet: Einhaltung, Befolgung. Compliance bedeutet kooperatives Verhalten im Rahmen einer Therapie. Manche sprechen auch von Therapietreue. Gemeint ist damit das Einverständnis, die Einsicht, die Kooperationsbereitschaft und die Motivation des Klienten zur aktiven Mitarbeit. Diese Faktoren bestimmen wesentlich den Erfolg. Je höher die Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung am therapeutischen Prozess und der Umsetzung dessen, was erarbeitet wird ist, desto erfolgreicher ist er. An Erkennen, Einsicht und Verstehen mangelt es in den wenigsten Fällen, an der Kooperation und der Umsetzung jedoch oft.
Ein Beispiel: Dem Klienten werden regelmäßige tägliche Achtsamkeitsübungen ans Herz gelegt um sich besser konzentrieren zu können, klarer zu werden und sich selbst regulieren zu lernen, er macht sie aber nicht.
Sitzung für Sitzung klagt er weiter über innere Unruhe und ein nicht enden wollendes Gedankenkarussell und meint, er habe das Gefühl, dass die Therapie nicht anschlägt
Auf die Frage: Machen Sie ihre Übungen?, kommt ein: Nein, irgendwie schaffe ich es nicht.
Der Klient wünscht sich Veränderung und „schafft“ es nicht, täglich ein wenig Zeit zu investieren um die Veränderung zu bewirken.
Einer Klientin werden Hausaufgaben bzw. Handlungsaufforderungen gegeben, wie z.B. die Übung, das eigene Verhalten zu beobachten und täglich ihre Gefühle und Gedanken aufzuschreiben. Die Hausaufgabe wird ein mal, zwei mal gemacht und dann nicht mehr.
Es kommt die Klage: „Jetzt komme ich seit Monaten ein Mal pro Woche in die Sitzungen und es ändert sich nichts.
 
Was soll sich ändern, wenn man selbst nichts ändert und kein Engagement zeigt?
Die Antwort ist: Nichts.
In beiden Beispielen mangelt es an Compliance.
Diese ist nur dann gegeben, wenn der Klient mitmacht, die Übungen und Hausaufgaben als sinnvoll und hilfreich begreift und sie dann auch kontinuierlich und konsistent durchführt. Nur so wird ein Veränderungsprozess auch in Gang gesetzt. 
 
Therapie ist kein passiver, sondern ein aktiver Prozess.
Sie ist kein Wunderheilmittel, sondern Hilfe zur Selbsthilfe und das bedeutet Mitarbeit. Ohne aktive Mitarbeit wird man nichts erreichen. Und das bedeutet Bereitschaft und zwar indem man sich sich selbst gegenüber verpflichtet, was hilfreich ist, auch zu tun und in den Alltag zu integrieren. 
 
Und ja, ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber Therapie ist Arbeit und nicht immer angenehme Arbeit. Ich weiß auch, dass es Zeit, Geduld, Disziplin und Durchhaltevermögen braucht , dass es anstrengend ist das durchzuziehen und dass die Arbeit an uns selbst nicht sofort belohnt wird, es keine schnellen Erfolgsergebnisse und schon gar keine Spontanheilung gibt. Und ich weiß auch, bei fast allen, die eine hohe Compliance zeigen und aktiv mitmachen, wirkt diese Arbeit.
Slow and steady wins the race. 
 
"Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken."
Galileo Galilei
 
 
Angelika Wende

Dienstag, 1. Oktober 2024

Neu beginnen, oder der Zauber des Anfangs

 

                                                                          Foto: A. Wende

Manche, die das Neue beginnen, lassen alles Alte hinter sich und vertrauen, dem ZEN Spruch gemäß, darauf: „Spring und das Netz wird erscheinen." Mit anderen Worten: Du musst nicht alles wissen, bevor du anfängst. Das sind die Wagemutigen, die Abenteurer, die, voller Selbstvertrauen und Zuversicht. Sie machen einfach und sind überzeugt davon, es wird schon gut gehen. Das sind die Wenigsten. Die meisten von uns sind bei einem Neubeginn eher zaghaft. Sie sind orientierungslos, ängstlich, verunsichert und vor allem - sie wissen nicht, wie etwas Neues beginnen. Wie denn, Was denn? Womit denn?
 
Oft scheitern wir an den Erwartungen und den Vorstellungen, die wir vom Neuen haben. Das muss ganz anders sein als das Alte. Das muss etwas Großes, Großartiges, radikal Neues sein, ein krasser Shift, ein Schattensprung, eine totale Veränderung, etwas, was wir noch nie getan haben, wofür uns der Mut fehlte, und, und, und, Superlative eben. Aber so funktioniert das nicht mit dem Neubeginn, also bei den meisten nicht. Und so muss es auch nicht sein.
Es genügt uns heranzutasten, in kleinen Schritten, in kleinen Dingen, die wir neu finden, neu machen, ausprobieren und in den Alltag integrieren um etwas Neues in unser Leben einzuladen. Und da gibt es viele Möglichkeiten, ein Meer von Möglichkeiten.
Ich bin bereit für das Neue, heißt für mich: Ich bin bereit, kleine Dinge neu zu tun und zu erfahren. Ich bin bereit, kreativ zu denken und zu leben. Ich bin bereit, das Interesse am Leben zu bewahren und mich Neuem zuzuwenden.
 
Ich zum Beispiel liebe es neue Rezepte auszuprobieren. Ich will meine erste Udon Nudelsuppe kochen und recherchiere, was ich dazu an Zutaten brauche. Unter anderem ist das Sishimi Togarashi. Wie wunderbar das klingt, es zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich die Worte ausspreche. Ich spreche sie laut vor mich hin und denke, wie schön die Japanische Sprache ist. Dann gehe ich in den Asia Markt und hole es mir. Ich schaue all die Gewürze, Soßen und Essensdinge an und fühle mich wie Alice im Wunderland. Ich gönne mir regelmäßig eine Lomi Lomi Massage, ich mache eine Fahrt an einen Ort in der Nähe, den ich noch nie besucht habe. Ich räume die Wohnung nach Feng Shui um, mache Magic Cleaning und werfe alles Alte, was mich belastet oder an Unheilsames erinnert, weg oder verschenke es. Ich streiche die Wände in einer anderen Farbe. Ich arrangiere Blumen einmal anders, lerne Ikebana, die japanische Kunst des Blumensteckens. Ich lese wieder mehr Romane, anstatt nur Fachliteratur. Ich schreibe, weil ich das Schreiben liebe, egal ob es gedruckt wird oder nicht. Ich male, auch wenn meine Bilder keiner austellt, weil es mich in den Flow bringt. 
 
Ich probiere kleine Dinge aus, die ich noch nie probiert habe. Wenn nicht jetzt, wann dann? Zeit ist kostbar, jeder Augenblick in dem ich gesund bin, klar im Kopf bin, ist kostbar. Ich nutze und wertschätze ihn. Ich lebe jetzt und nicht in der Vergangenheit, auch wenn sie mich manchmal traurig macht und ich mich zurücksehne in die schönen Zeiten und manch Altes gerne noch in meinem Jetzt hätte. Es ist okay. 
 
„Der Gott der kleinen Dinge“, dieser Satz von Arundhati Roy fällt mir bei all dem, was ich an kleinen Dingen in meinem Leben neu mache, ein. Es gibt so viel Neues, was es zu erfahren gibt. Und das Erfahren macht etwas mit mir. Ich fühle Neugier, Spannung, Aufregung, Lebendigkeit, Experimentierlust und Freude, wenn mir etwas gelingt, wie die köstliche Udon Nudelsuppe, die ich an einem schön gedeckten Tisch mit einem warmen Sake genieße. Mein Handy ist dabei aus. Ich zelebriere die Zeit mit mir selbst, still und ungestört. „Und plötzlich weißt du, es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen“, schreibt Meister Eckhart, mehr noch: Du fühlst den Zauber.

Samstag, 28. September 2024

Dich neu (er)finden

 

                                                                     Foto: pixybay

 
Etwas, was gewohnt und vertraut war ist zu Ende. Etwas was dir sehr wichtig war, etwas von dem du geglaubt hast, es ist eine tragende Säule deines Lebens, etwas, wovon du meintest, es gehört unabdingbar zu dir und zu deinem Leben ist unwiederbringlich vorbei, etwas in das du deine ganze Hoffnung gelegt hast, in das du Zeit, Liebe und Energie investiert hast – ein Projekt ein Traum, eine Beziehung, deine Arbeit. Und manchmal bricht sogar alles auf einmal oder kurz nacheinander weg, was vertraut war.
In diesem Moment fühlt es sich an, als würde dir der Boden unter den Füßen weggezogen. Deine Welt bricht zusammen. Du hast das Gefühl versagt zu haben. Du fragst dich, wie du jetzt weiter machen sollst und weit und breit ist keine Lösung in Sicht. In diesem Moment siehst du nur, was du verloren hast und bist nicht fähig zu sehen was du noch hast und unfähig zu ermessen, was du gewinnen wirst. Aber du wirst etwas gewinnen, auch wenn du es jetzt nicht glauben kannst. 
 
Wenn das Alte zusammenbricht heißt das, etwas hat sich überlebt. 
Eine Beziehung, die schon lange nicht mehr funktioniert hat, ein Job, den du schon lange nicht mehr machen wolltest, ein Ort, an dem du dich nicht wohl gefühlt hast und den du schon lange verlassen wolltest, eine Weltanschauung, die schon lange nicht mehr zu dem Menschen passte, der du in diesem Moment in der Zeit bist. Du hast es verleugnet, du hast dich selbst getäuscht um das, was ungut war, nicht verändern zu müssen. Du hast in deiner Komfortzone gelebt um etwas vor dir selbst zu leugnen, und dieses Etwas war: So wie es ist, ist es nicht richtig für mich. Ich bin nicht zufrieden und schon gar nicht glücklich.
 
Jetzt hast du keine Wahl: Du musst du dich der Veränderung stellen. Das bedeutet: Neu anzufangen. Dich neu (er)finden. Wieder mal. Und du hast keine Ahnung wie das gehen soll.
Du wirst vielleicht viele Abende alleine dasitzen. Du wirst lernen mit dir allein zu sein. Du wirst lernen die Zeit mit dir allein zu schätzen. Du wirst lernen dir Zeit zu geben um zu genesen und geduldig deine Wunden zu versorgen, die durch den Verlust entstanden sind.
Du wirst dich vielleicht einsam fühlen, elend und von aller Welt verlassen. Du wirst Angst bekommen, denn du allein bist es, die jetzt dafür sorgen muss, dass es weiter geht. Niemand wird dich retten, egal wie viel Unterstützung du hast, das ist jetzt dein Job.
Du wirst praktische Dinge regeln müssen, du wirst dir eine neue Struktur schaffen müssen, ein Zuhause, indem du dich wohl und geborgen fühlst, einen Ort des Friedens, von wo aus du deine neue Lebensrichtung finden und planen kannst. Du wirst Tage und Nächte der Verzweiflung, des Schmerzes, der Trauer, der Ohnmacht und des scheinbar nicht enden wollenden Kummers erleben. Du wirst Angst haben, es nicht zu schaffen, dein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen und neu zu beginnen. Du hast keine Ahnung wohin die Reise geht und akzeptierst, dass du keine Ahnung hast. Du bist dir in nichts sicher, die Zukunft ist eine unbekannte Größe und weil du das weißt, konzentrierst du dich auf das Jetzt. 
 
Als Erstes wirst du aussortieren.
Was dir dient, wirst du behalten und pflegen, was dir nicht mehr dient, wirst du sein lassen.
Du wirst allen Ballast abwerfen, der dich am Weitergehen hindert. Alte schädliche Glaubenssätze und blockierende innere Überzeugungen, Gewohnheiten und Menschen, die dir nicht guttun, Vorstellungen, die dich blockieren, Bedürfnisse, die sich nicht erfüllen lassen, auf die Art und Weise wie du es zuvor versucht hast. Alles was in deinem Leben längst abgestorben ist, alles, was nicht funktioniert hat, wirst du sein lassen. Wenn all das aussortiert ist, kann sich das verdammt leer anfühlen. Das musst du erst einmal aushalten. Ich weiß, das ist eine schwere Übung, aber sie wird dich stark machen, denn du wirst aushalten, mehr als du dir zugetraut hast. 
 
Du wirst dir Zeit geben müssen um zu trauern.
Zeit um zu genesen und Zeit um den Schaden, der entstanden ist, zu reparieren. Und dann beginnst du mit dem, was du noch hast. Von da aus, wo du jetzt bist. Im Jetzt.
Das bedeutet dich zunächst dem anzupassen wie es ist.
Den Ist-Zustand anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Tag für Tag. Nur für heute. Es bedeutet dir eine Vision zu erschaffen von dem Leben, das dich zufrieden macht, und nicht von einem Leben, von dem man dir beigebracht hat, wie es zu sein hat, damit es ein Leben ist oder von dem du glaubtest, es sei das einzig Richtige. Du wirst erkennen was deine Stärken und Ressourcen sind und sie dir bewusst machen um sie zu nutzen. Du wirst Dinge (wieder)finden und tun, die dich nähren und dir Energie geben. Und mehr davon machen. Du wirst lernen dich selbst an erste Stelle zu setzen, denn nur wenn du stabil und klar bist, kannst du für andere da sein. Du wirst Frieden mit der Vergangenheit schließen.
 
Jeden Tag auf Neue wirst du etwas tun, um zu genesen, so gut du es kannst, ohne dir Druck zu machen, ohne zu denken, das muss schnell gehen. Und wenn du einen Tag gar nichts schaffst, ist das auch okay. Ruh dich aus. Morgen ist auch noch ein Tag.
Wir beginnen zu genesen, wenn wir den Widerstand aufgeben, gegen das, was unveränderbar ist und wenn wir bereit sind die Fragen zu beantworten, die das Leben uns in diesem Moment unserer Reise stellt. Mit Widerstand meine ich auch all die Widerstände in dir selbst, die gegen dich selbst sind. Die hohen Erwartungen, die du an dich selbst stellst, die Gedanken, die du über dich selbst hast: Dieses Ewige: Ich bin nicht gut genug.
Du bist gut genug und du warst es schon immer!
 
Wenn dir das Leben etwas nimmt, heißt es nicht, dass es dich strafen will, es nimmt dir das, was du nicht mehr brauchst und gibt dir, was du brauchst, um aus deinem abgestorben Ich herauszukommen und dich zu dem Menschen werden zu lassen, der du sein willst. 
Wenn du das erkannt hast, wirst du neu beginnen und das, was dir wirklich entspricht, leben, erfüllen und Wirklichkeit werden lassen.
All dies erfordert Zeit, Geduld mit dir selbst, Mitgefühl mit dir selbst, Fürsorge für dich selbst, radikale Selbsterkenntnis, Bewusstheit, Klarheit und eine große Portion Mut.
Es bedeutet auch: Mit der Angst und trotz der Angst weiter zu gehen. Neugierig. Immer weiter gehen. In Bewegung bleiben und nicht aufgeben. Wer jetzt denkt: "Die hat gut reden, wenn das mal so einfach wäre." Ich stehe wie vielleicht du jetzt, genau an diesem Punkt. Ich muss mich neu erfinden und ich bin bereit dazu. 
 
"Often, when we say it is “too late” for us to begin something, what we are really saying is that we aren’t willing to be a beginner. But when we are willing to dip our toe in, even just a little, we are rewarded with a sense of youthful wonder. Never give in, never give in, never, never, never, never. 
 ~Julia Cameron, It's Never Too Late to Begin Again

Donnerstag, 26. September 2024

Aus der Praxis: Sichere Bindung

 



Wir Menschen brauchen sichere Bindung. Sichere Bindung ist existenziell für eine gesunde psychische und soziale Entwicklung. Wir brauchen sie um zu überleben.

Aber was bedeutet sichere Bindung?

Um es kurz zusammenzufassen: Eine sichere Bindung entsteht dann, wenn wir als Kind von unseren Bezugspersonen Liebe, Nähe, Fürsorge, Annahme, Vertrauen und Sicherheit erhalten, wenn wir erfahren und lernen, dass die eigenen Bedürfnisse gesehen und konstant wichtig genommen werden. Dann erfahren, erleben und verinnerlichen wir Bindung als konsistente und verlässliche Quelle von Sicherheit, Verlässlichkeit, Geborgenheit und Schutz. Wir lernen zu vertrauen: In andere Menschen, in Welt und in uns selbst.

Leider ist bei vielen von uns eine gesunde Bindungserfahrung in der Kindheit nicht gelungen, was schlicht und einfach daran liegt, dass auch unsere Bindungspersonen sichere Bindung nicht erfahren haben und somit nicht an uns weitergeben konnten. Sie haben das an uns weitergegeben, was sie selbst als Bindungserfahrung erlebt und verinnerlicht haben, es sei denn, sie haben an sich gearbeitet und ihre inneren Baustellen aufgeräumt.

Je ungesunder, instabiler und destruktiver unsere frühen Bindungserfahrungen waren, desto bindungsgestörter sind wir im späteren Leben. Darum ist es wichtig, besonders, wenn wir immer wieder in unheilsame Beziehungen geraten (dazu gehören co-abhängige oder emotional abhängige Beziehungen) uns unsere frühen Kindheitserfahrungen in Bezug auf Bindung sehr genau anzuschauen.

Eine einfache Frage ist: Wie sicher bist du heute als Erwachsener gebunden?

Das kann jeder, der mag, für sich selbst beantworten.

Die ehrliche Antwort wird bei vielen lauten: „Geht so“ oder „wenig sicher“ oder „gar nicht“. Und je mehr "geht so" und je mehr "wenig sicher", desto sicherer ist es, dass uns gesunde Beziehungen nicht gelingen und unser Beziehungsleben misslingt. Klingt logisch. Aber manchmal ist es genau das, was wir brauchen, um etwas zu begreifen und um aufzuwachen: Logik. Nicht umsonst hat uns der Herr Herz und Hirn gegeben. Hilfreich ist es in den meisten Fällen beides zu benutzen.

Solange wir uns unsere Bindungserfahrungen und die Muster, die wie daraus entwickeln und automatisch abspulen, nicht erforschen, wird sich nichts ändern. Wir werden weiter versuchen in unseren Beziehungen den anderen zu ändern, dem anderen den schwarzen Peter zuschieben, dem anderen die Verantwortung oder die Schuld geben, warum es nicht klappt, den anderen retten oder gar heilen wollen und vor lauter Bezogenheit auf den anderen, nicht bei uns selbst ankommen und die Beziehung, die wir zu uns selbst haben, nicht klar erkennen. Selbstkenntnis ist Arbeit. Das ist verdammt anstrengende Arbeit und sie kann dauern. Genau darum wird sie von vielen Menschen vermieden, auch wenn sie durchaus auf die Idee kommen, wenn ich immer wieder im Beziehungssumpf lande, könnte das irgendwie auch an mir liegen.

Jedes extreme Bezogenheit auf den anderen, vor allem auf einen anderen, der uns nicht gut tut, hat den sekundären Benefit, dass wir uns nicht auf uns selbst beziehen müssen. Jedes emotionale- oder co-abhängige Verhalten trägt dieses - hin zum anderen, um weg von mir selbst zu sein – in sich. Das geschieht meist unbewusst.

Achtung! Es geht nicht darum uns die Schuld zu geben, dass es mit der Beziehung nicht klappt, sondern es geht darum, die Verantwortung zu übernehmen und zu erkennen, dass es an uns selbst liegt, waru wir uns von bestimmten Menschen angezogen fühlen, wie wir Bindung inszenieren und warum wir das genau so tun, wie wir es tun, wieder und wieder - und, wie wir das ändern können.

Es gibt einen Weg: Wir dürfen lernen eine gesunde Beziehung mit uns selbst herzustellen. Damit sind wir wieder am Anfang: Die frühe misslungene Bindungserfahrung muss verstanden, bedauert, betrauert und integriert werden. 

Letzteres bedeutet: Es war wie es war. Was war ist ein Teil meines Ganzen. Ich akzeptiere es. Ich werde das, was nicht war, von niemanden jemals bekommen, denn die, die es mir hätten geben können, konnten es nicht und es macht keinen Sinn mir ein Leben lang Stellvertreter für sie zu suchen, die das wieder gut machen sollen. Jeder Stellvertreter – und genau das macht ihn oder sie aus - wird genau das in sich tragen, was meine Bindungspersonen in sich trugen – all die Eigenschaften und Charakterzüge, die mir schon damals nicht gut taten oder Schaden zufügten, die mich magisch anziehen, weil sie sich so nach Heimat anfühlen, auch wenn diese Heimat eine unselige war – hier kenne ich mich aus, das ist mir vertraut, mir, der kein Urvertrauen in Bindung erfahren durfte.  

Worum geht es jetzt?

Es geht jetzt darum zu mir selbst eine hinreichend gesunde Bindung aufzubauen, Vertrauen in mir selbst zu finden, es in mir, mit mir selbst besser zu machen, mich selbst zu ermächtigen und mir das zu geben, was ich mir so sehnsüchtig wünsche: Liebe, Nähe, Fürsorge, Annahme, Vertrauen und Sicherheit – in mir selbst, durch mich selbst. 

Und es geht darum mir Unterstützung zu holen, um es zu verwirklichen, denn alleine schaffen das nur sehr wenige.Wir brauchen auf diesem Weg einen Menschen, der ihn mit uns geht. Am besten einen, der diesen Weg selbst gegangen ist. Wenn du in den Sumpf geraten bist und nicht mehr rausfindest, brauchst du einen, der dich da rausholt und das kann nur einer sein, der den Sumpf kennt und herausgefunden hat.

„Aber es ist Schweres, was uns aufgetragen wurde, fast alles Ernste ist schwer, und alles ist ernst“, schreibt Reiner Maria Rilke in seinen Briefen an einen jungen Dichter. Ja, es ist schwer und es ist ernst, aber es ist möglich das Schwere zu wandeln mit allem Ernst, der ihm gebührt.  

 

Angelika Wende

 

 

Dienstag, 24. September 2024

Aus der Praxis: Anhedonie - wenn wir keine Freude mehr empfinden

 

                                                                 Foto:pixybay


"Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit", schrieb einst Friedrich Nietzsche, der selbst unter Freudlosigkeit gelitten hat.
Sich an nichts mehr freuen können, führt vielleicht zunächst zur Ausschweifung, wie Nietzsche postulierte, im weiteren Verlauf aber, macht es für das Leben taub.
„Ich kann mich an nichts mehr freuen. Auch Dinge die mir früher Spaß gemacht haben, interessieren mich nicht mehr. Ich habe auf nichts mehr Lust. Irgendwie fühlt sich alles so gedämpft an. Mich interessiert nichts mehr wirklich. Mit ist alles gleichgültig. Nichts gibt mir mehr das Gefühl von Befriedigung, geschweige denn Begeisterung. Ich bin abgestumpft. Ich ziehe mich mehr und mehr in mich selbst zurück. Alles was ich fühle, ist eine müde Langeweile und eine innere Leere.“
So beschreibt mein Klient seinen Gemütszustand.
Er ist gemütskrank, hätte man früher gesagt.
Er leidet unter Anhedonie, sagt man heute.
 
Leidet ein Mensch nicht an einer Depression, aber ihm fehlt die Lebensfreude, spricht man von Anhedonie.
Das Wort kommt aus dem griechischen und bedeutet: ohne Freude. Ohne Freude lebt es sich so dahin. Ohne Freude lebt es sich schwer. Ohne Freude ist das Leben schal, taub und lustlos.
Keine Lebensfreude mehr empfinden, kennen viele von uns. Meist aber klingen diese Anhedonie-Episoden nach ein paar Stunden oder Tagen ab wieder ab. Je länger dieser Zustand jedoch anhält oder sich chronifiziert, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir in eine Depression gleiten, zugleich kann die Anhedonie auch ein Begleitsymptom der Depression sein.
 
In der Anhedonie ist die Empfindung von Freude, Lust oder Vergnügen dauerhaft eingeschränkt oder vollkommen aufgehoben. Es stellt sich Freudlosigkeit ein und zwar nicht durch das Auftreten negativer Emotionen, sondern durch die Abwesenheit positiver Emotionen. Diese Freudlosigkeit ist nicht mit Traurigkeit gleichzusetzen. Betroffene beschreiben sich selbst nicht als traurig, vielmehr erleben sie ihre Gefühle als gedämpft oder kaum noch vorhanden. Sie erkennen auch keinen Sinn mehr darin überhaupt noch nach freudigen Erlebnissen zu suchen.
Anhedonie gilt nicht als eigenständige Erkrankung, sie ist ein Symptom für andere psychische oder physische Erkrankungen. Man weiß, dass Betroffene Veränderungen im Gehirn aufweisen, insbesondere im Belohnungssystem, hier kommt es zur Dysregulation von Hormonen kommen, darunter Dopamin und GABA. Die Ursachen sind oft chronischer Stress, Krisen, Traumata, Verlusterfahrungen, Anpassungsstörungen, psychsiche udn mentale Erschöpfung und andere belastende Lebensereignisse, die nicht verarbeitet werden können.
Auch Alkoholismus, Drogenkonsum wie das Kiffen, bestimmte Medikamente, Schizophrenie, Psychosen und ADHS stehen mit einer Anhedonie im Zusammenhang. Auch gibt es Menschen, die von Natur aus anfälliger für Freudlosigkeit sind, dann ist die Anhedonie eine Charaktereigenschaft.
Man unterscheidet bei der Anhedonie zwischen sozialer und physischer Ausprägung. Bei der sozialen Ausprägung kann keine Freude aus sozialen Interaktionen gezogen werden. Bei der physischen Ausprägung wird keine Freude an körperlichen Reizen, wie z.B. Essen, Bewegung, Berührung oder Sex, empfunden.
 
Ein Leben ohne Freude ist schwer auszuhalten und alles andere als erfüllend. Eine länger anhaltende Anhedonie ist ein Alarmzeichen, das wir ernst nehmen müssen. 
Sie verschwindet nicht von allein. Sie muss behandelt werden. Primäres Ziel ist die Wiederherstellung positiver Empfindungen. Dafür müssen zunächst die Ursachen der Freudlosigkeit gefunden und bewältigt werden. Im zweiten Schritt werden Bewältigungsstrategien erlernt um einer weiteren anhedonischen Episode vorzubeugen.
Was können wir selbst tun, wenn uns die Freudlosigkeit packt, um nicht in eine Anhedonie zu gleiten?
Freude empfinden lässt sich üben, u.a indem wir unsere Achtsamkeit kulitvieren und unsere Aufmerksamkeit auf die positiven Momente des Alltags lenken, auch wenn sie noch so klein erscheinen mögen. Und indem wir herausfinden, was uns gut tut und mehr von dem machen, was uns gut tut.
 
 
Angelika Wende 

Freitag, 20. September 2024

Kollektives Trauma - was kann der Einzelne zur Bewältigung beitragen?

 

                                                        Foto: Pixybay
 
 
Kriege, Wetterkatastrophen und Pandemien sind Ereignisse, die ein kollektives Trauma auslösen. Definiert wird ein kollektives Trauma als ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen, die das Sicherheitsgefühl einer oder mehrerer Gruppen von Menschen zerstört. Ein kollektives Trauma ist eine tiefe Erschütterung unseres Vertrauens in die Kontrollierbarkeit des Lebens. Ein Trauma bedeutet immer: maximalen Kontrollverlust. Auch wenn wir wissen, dass wir wenig Kontrolle über die Dinge haben, so nimmt das Trauma uns das Gefühl, sie zu überhaupt zu haben.
Ein kollektives Trauma hat individuelle Auswirkungen auf jeden Einzelnen in der Gemeinschaft. Es bedeutet Stress, Verunsicherung, Angst. Es führt zu Gefühlen von Kontrollverlust, Ohnmacht, Gefühlen der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, zu Ängsten, Grübeln, Schlafstörungen, erhöhter Wachsamkeit, Hypervigilianz, ständige innerer Unruhe, Scham – und Schuldgefühlen, und vor allen auch zu einer Veränderung wie Menschen die Welt sehen.
Das einst Vertraute ist erschüttert. Ein permanentes Gefühl von Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Haltlosigkeit kann sich einstellen. Die Erfahrung eines kollektiven Traumas zeigt uns, wie fragil die eigene Existenz ist. 
 
Wie nach jeder traumatischen Erfahrung kann es zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung kommen.
Folgen davon sind:
Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Depressionen, psychosomatische Störungen, körperliche Erkrankungen, Gefühl der Entfremdung, erhöhte Aggressivität, verringerte Impulskontrolle, Misstrauen, Desorientierung, sozialer Rückzug, Selbstisolation, Misstrauen anderen und dem Leben gegenüber, Angst vor weiteren Bedrohungen, Zukunftsangst.
Es kann zu Bewältigungsstrategien wie Alkohol- und Drogenmissbrauch kommen.
 
Die Auswirkungen eines kollektiven Traumas sind bei jedem von uns andere. Diese sind u.a. auch abhängig von der persönlichen Resilienz, dem eigenen Verhalten und dem Umgang mit dem traumatischen Ereignis im Moment des Geschehens und wie wir es empfunden haben, wie wir darauf reagiert und uns verhalten haben. Hier gilt der weise Satz von Dr. Gabor Maté: "Trauma ist nicht das, was mit dir passiert, sondern das, was in dir passiert."
"Ein Trauma ist eine psychische Wunde, die uns auf seelischer Ebene hart macht und in der Folge unsere Fähigkeit, zu wachsen und uns zu entwickeln, beeinträchtigt, konstatiert Dr. Gabor Maté weiter.
Ein kollektives Trauma hinterlässt eine unsichtbare kollektive Wunde. Diese Wunde wird über nachfolgende Generationen weitergegeben, wenn das Trauma nicht aufgearbeitet wird.
Aufarbeitung bedingt, das Trauma im kollektiven Kontext anzuerkennen und es aufzuarbeiten, anstatt es zu ignorieren, klein zu reden oder zu verdrängen. 
 
Was wenn das nicht geschieht?
Was können wir als Einzelne zur Traumabewältigung für das Ganze beitragen?
Als erstes den Satz: „Was kann ich schon tun?“, in unserem Denkapparat streichen. Jeder von uns kann etwas zur Bewältigung beitragen, indem er sich fragt, was die Auswirkungen des Traumas auf sich selbst sind. Wir können uns darüber klar werden, was das Ereignis mit uns gemacht hat.
Dazu gehört das Erforschen und Erkennen der eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, während und nach dem traumatischen Ereignis.
Dazu gehört zu erkennen, welche Folgen uns belasten, z.B. in welcher Weise wir uns und unser Leben, unsere Beziehungen und unseren Alltag verändert haben.
Die bewusste Auseinandersetzung hilft uns unsere Rektionen zu verstehen und sie einzuordnen – das ist die Voraussetzung um den Genesungsprozess in Gang zu setzen.
Es hilft mit anderen darüber zu reden, zuzuhören, sich einander mitfühlend zuzuwenden, Verbundenheit herzustellen, auszusprechen, was man denkt und fühlt, Erfahrungen auszutauschenund sich, wenn wir spüren, dass wir die Verarbeitung alleine nicht bewältigen können, oder andere nicht zu Gesprächen bereit sind, professionelle Unterstützung zu holen um mit den Folgen umgehen zu lernen, die das Trauma in uns ausgelöst hat.
 
Die Verarbeitung ist für jedes Trauma von entscheidender Bedeutung, um unsere psychische Widerstandsfähigkeit zu stärken und um Wachstum nach dem Trauma möglich zu machen. Das ist nur möglich, wenn wir in der Lage sind es zu integrieren. Nur ein integriertes Trauma kann zu dem führen, was wir postraumatisches Wachstum nennen.
Gelingt die Integration nicht, wird das kollektive Trauma mit seinen destruktiven Folgen aufrechterhalten. Es verändert nicht nur den Einzelnen in unheilsamer Weise, sondern das ganze Kollektiv und die, die nach uns kommen. 
 
An dieser Stelle möchte ich Euch, bei Interesse, dieses Buch empfehlen: Vom Mythos des Normalen: Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung von Dr. Gabor Maté
 
Angelika Wende

Donnerstag, 19. September 2024

Angst essen Seelen auf

 

                                                        Foto: Pixybay

Was ist geschehen?
Viele Menschen sind kaum noch fähig Gegensätzliches auszuhalten. Sie sind kaum noch fähig konträre Meinungen stehen zu lassen. Seit Corona gibt es eine starke Tendenz, dass eine offene Diskurskultur kaum noch gelingt.
Anstatt achtungsvolles Miteinander herrscht ein aggressives Gegeneinander.
Respekt, Verständnis, Toleranz, Mitgefühl, Güte und Nächstenliebe findet man immer weniger. Dafür immer mehr Ichbezogenheit, Aggression, Wut und emotionale Verrohung.
Wir leben in einem Milieu der Spaltung und der Trennung.
Was ist geschehen, dass Qualitäten wie Respekt, Mitgefühl, Friedfertigkeit und Achtung vor dem anderen immer mehr fehlen, ebenso wie Güte, Offenheit und Zugewandtheit?
Was ist geschehen, das sich immer mehr Menschen ins Eigene zurückziehen, sich von der Gesellschaft abwenden und Selbstisolation wählen?
Was ist geschehen, dass Beziehungen immer schwerer herzustellen und zu leben sind und immer mehr Menschen, egal welchen Alters, zunehmend vereinsamen?
Was ist geschehen, dass die Basis eines gelingenden sozialen Miteinanders mehr und mehr zerbröselt?
Was ist geschehen, dass ein friedliches Miteinander und Nebeneinander kaum mehr gelingt?
Mit dem Beginn der Coronapandemie und ihren Maßnahmen wurde ein Klima der Angst geschaffen.
 
Es wurde ein Klima der Spaltung und der Trennung geschaffen.
Es wurde die Erlaubnis geschaffen andere, die anderer Meinung sind, zu diskriminieren, zu attackieren, anzugreifen, zu beleidigen und zu demütigen und von der Gemeinschaft auszugrenzen.
Akzeptanz gegenüber anders Denkenden löste sich auf.
Es wurde ein Klima des Durcheinanders geschaffen. Aus dem Durcheinander wurde ein Gegeneinander, das bis heute geblieben ist.
Die Corona Jahre haben unser Miteinander gestört, verstört und nachhaltig zerstört. Freundschaften, Partnerschaften, Gemeinschaften, Familien haben sich entzweit und sind zerbrochen. Über drei Jahre fand eine schleichende Destruktion von ethischem Verhalten statt, das moralische Werte ihres Wertes und ihrer Bedeutung für ein mitfühlendes menschliches Miteinander, enthob. Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde verloren an Bedeutung und Gültigkeit.
Ein Milieu von Druck, Angst und Panik wurde zum Alltag.
Diese Angst wurde durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine weiter verstärkt.
Aus Frieden bewahren wollen wurde Kriegstreiberei.
Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, werden diskriminiert. 
 
Seit vier Jahren herrscht Angst.
Seit vier Jahren dominiert die Angst.
Angst vor dem Virus, Angst krank zu werden, Angst zu sterben, Angst vor einem möglichen Weltkrieg, Angst vor Klimawandel, Angst die eigene Existenz zu verlieren, Angst die eigene Meinung zu sagen, Angst sich gegen den Mainstream zu stellen, Zukunftsangst.
Angst, Angst Angst.
Und kaum einer redet darüber.
Was in den Coronajahren mit jedem Einzelnen und kollektiv geschehen ist, wird verdrängt und totgeschwiegen. Eine Aufarbeitung findet nicht statt.
Angst ist die Wurzel und die Folge von Traumata.
 
Corona als kollektives Trauma hat die Angst in unser Leben gepflanzt. Wie eine Krebsgeschwulst metastasiert sie in der Psyche der Menschen und in der menschlichen Gemeinschaft.
Angst ist eine zerstörerische Emotion, je länger sie anhält, desto zerstörerischer ist ihre Wirkung. Angst führt zu Flucht, Starre oder Angriff. Angst schüchtert ein. Angst verhindert klares Denken. Angst führt zu Ohnmacht. Ohnmacht führt zu Frustration, Wut und Aggression.
Was also ist geschehen?
Die Angst ist in unser Leben eingezogen. Sie dominiert unser Fühlen, unser Denken, unser Verhalten und unser menschliches Miteinander.
Angst essen nicht nur Seelen auf.
Angst essen Mitgefühl, Güte, Wärme, Barmherzigkeit, Würde, Liebe und Nächstenliebe auf.
 
"You cannot get through a single day without having an impact on the world around you. What you do makes a difference, and you have to decide what kind of difference you want to make."
~Dr. Jane Goodall
 
Angelika Wende