Samstag, 21. Dezember 2024

Wichteln

 

                                                                     Foto: A.Wende

 
Gestern auf meinem Spaziergang durch die Stadt ist mir dieser Weihnachtswichtel begegnet. 
Irgendwie sieht er traurig aus, dachte ich und ob das eine Eigenart von Wichteln ist. Sie haben ja auch eine schweren Auftrag, sie sollen für Magie unter den Menschen sorgen. Und schwere Aufträge können mit der Zeit traurig machen, wenn sie nicht gelingen.
Ich habe zuhause gegoogelt, was die genaue Bedeutung eines Wichtels ist. Google meint: „Ein Wichtel ist eine zauberhafte skandinavische Tradition für die ganze Familie. Er ist ein kleines Helferlein vom Weihnachtsmann oder vom Christkind, der in der Vorweihnachtszeit Magie versprühen und für Freude, gemeinsame Erinnerungen und eine unvergessliche Familienzeit sorgen soll.“
Gar nicht so leicht, ist doch so viel Unheilsames in der Welt. Freude sehe ich da immer weniger, auch wenn es allerorten Weihnachtslieder dudelt, Lichterpracht, die von Menschenmassen überfüllten Straßen schmückt und die Weihnachtsmärkte süßen Glühweinduft und andere herrlich duftende weihnachtliche Gerüche verbreitet. 
 
Stille Zeit, heilige Zeit – wenig davon. 
Jedenfalls nicht in den Straßen. Hetze, anrempeln, grimmige oder vom Alkohol rote Gesichter, laute Stimmen und über allem ein Gefühl von – ich weiß nicht, jedenfalls nicht Freude.
Empfinde nur ich das so, habe ich mich gefragt, projiziere ich da was?
Ich mag die Weihnachtszeit, ich freue mich auf die Weinachtstage, da fahre ich endlich wieder nach Berlin und sehe meine kleine Familie wieder. Ich mag die Bräuche und schönen Dinge, die es nur in der Weihnachtszeit gibt. Es ist eine besondere Zeit, auch wenn das Jahr schwer war und ich ziemlich auf dem Zahnfleisch gehe. Ich glaube so geht es vielen Menschen. Sie sind erschöpft. Ich spüre die Energie eines tiefen emotionalen und mentalen Ausgebranntseins. 
 
Irgendwann kann der Resilenteste nicht mehr.
Irgendwann ist der Motivierteste am schwächeln. Irgendwann wollen wir nur noch unsere Ruhe haben vor all dem Unheilsamen um uns herum und in uns selbst, nach all den Jahren der Stapelkrisen, die hinter uns liegen und kein Ende nehmen. Wir erschöpft und zugleich wissen wir, es muss sich etwas Wesentliches im Bewusstsein von uns Menschen ändern.
Aber, was wir ändern können beginnt immer bei uns selbst. Wir können niemanden ändern, schon gar nicht den Zustand der Welt, nur uns selbst. Und das ist schon schwer genug.
 
„Ich arbeite jeden Tag an mir. Und ich renne im Außen so oft gegen Mauern“, sagte gestern ein Klient zu mir. All die Menschen, die zu mir kommen, kommen weil sie eine hohe Veränderungsmotivation haben. Aber sie spüren auch, dass die Kompetenz um diese Veränderung zu erreichen, schwer stabil zu halten ist. Aus oben genannten Gründen, denn niemand von uns ist eine Insel.
Das Draußen macht etwas mit uns. Egal wie sehr wir uns abschotten, fürsorglich zu uns und unsere Lieben sind – das Außen dringt ins Innere.
Wie sich davor schützen? Schwer.
Den Fokus abziehen von all den Grausamkeiten und dem Elend dieser Welt? Schwer.
Wie sind nicht aus Stein. Wir sind fühlende Wesen, das macht uns aus und weil wir das sind, fühlen wir die unheilsame Energie da draußen.
Uns dauerhaft abgrenzen ist schwer.
 
Alle Menschen mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen habe, sind am Ende dieses Jahres müde oder sogar krank. Nur wenige fühlen sich voller Energie und Lebensfreude. Da ist so viel Traurigkeit, so viel Unsicherheit, so viel Überforderung, so viel Ohnmachtsgefühle, so viel Wut und da ist viel Angst, vor einer ungewissen Zukunft, die alles andere als hell leuchtet wie der Stern von Bethlehem in der Heiligen Nacht.
 
Die Angst ernst zu nehmen ist klug, denn Angst ist, solange sie nicht krankhaft und lebensbehindernd ist, ein existenzielles Warnsystem, das uns Menschen innewohnt. Sie warnt uns davor uns nicht verschlucken zu lassen von all dem Unheilsamen, das sich mehr und mehr ausbreitet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir auf uns Acht geben, so gut wir das vermögen, und dass wir mehr und mehr zum Besseren verändern, was uns und anderen schadet, was immer das für den Einzelnen bedeutet.
Es gibt viel dunkle Energie in dieser Zeit, die nicht einmal die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen erhellen kann. Was wir tun können, was jeder einzelne Mensch tun kann ist, sein inneres Licht nicht verlöschen lassen. Wir brauchen das Licht als Gegengewicht gegen das Dunkle. Wir können etwas verändern, da bin ich mir sicher. Denn wir sind Teile des Ganzen. Wir haben die Kompetenz es zu tun, wenn wir das wirklich wollen. 
 
Was den Wichtel angeht, meint Google: „Um einen Wichtel anzulocken, musst du einfach eine Wichteltür vor die Haustür stellen. Somit wissen die Wichtel, dass sie erwünscht sind und einziehen dürfen.“ Und weil ich bisweilen zum Romantiseren neige, stelle ich mir gerade vor, dass vor den Türen aller Menschen in dieser Welt eine Wichteltür steht.
 
Gesegnete Weihnachten Ihr Lieben. 
 

Donnerstag, 12. Dezember 2024

Hunger

                                                                        Foto: pixybay

"Die Gefahr liegt nicht darin, dass die Seele bezweifelt, dass sie Brot haben kann, sondern darin, dass sie sich selbst überzeugt, keinen Hunger zu haben", schreibt die Philosophin Simone Weil. Ein wahrer, ein trauriger, ein bitterer, ein alarmierender Satz. 

Viele Menschen reden sich ein, dass sie keinen Hunger haben, dass das Leben eben ist wie es ist, hart, ein Kampf, lieblos, wenn sie nach all den Verletzungen der Unliebe ihr Herz verschlossen haben. All die gescheiterten Beziehungen, die unheilsamen Erfahrungen in der Liebe von Kindesbeinen an und später im weiteren Leben, führen dazu, dass wir irgendwann glauben, Liebe nicht verdient zu haben. Eine lange Zeit bleibt die Sehnsucht danach, aber irgendwann macht die Seele dicht und wir reden uns ein alleine besser dran zu sein. Wir wollen nicht mehr scheitern, wir wollen nicht mehr bedürftig sein, denn damit ist das Scheitern doch vorprogrammiert. Wir wollen nicht mehr an den Enttäuschungen der Liebe leiden. Wir reden uns ein ohne eine Liebesbeziehung besser dran zu sein, wenn auch nicht gut. Um uns zu schützen, kappen wir die Verbindung zum eigenen Herzen und damit kappen wir die Verbindung zu anderen Herzen. Wir sind singuläre Menschen, die mehr und mehr beziehungsunwillig werden, weil wir, wie die Erfahrung zeigt, doch beziehungsunfähig sind. Wir verlieren den Glauben an die erotische Liebe oder wir werden spirituell und wenden uns der allumfassenden Liebe zu, Agape, die uneigennützige Liebe zum All-eins, nur nicht exklusiv zu der oder dem einen. Womit wir aber auf dem Holzweg sind, denn die allumfassende Liebe schließt alles ein, auch Liebesbeziehungen.

Ich kann nicht alles lieben, wenn ich eine Form der Liebe ausschließe. Ich kann nicht alles lieben, wenn ich die Selbstliebe ausschließe.

Wenn wir, wie Weil schreibt, unsere Seele davon überzeugen, keinen Hunger mehr zu haben, verhungern wir. Aber Hunger geht nicht weg, weil wir das wollen. Hunger ist ein Gefühl im Bauch, das durch Nahrungsentzug verursacht wird und mit dem starken Verlangen nach etwas zu essen einhergeht.
Essen wir nicht, verhungern wir.
Lieben wir nicht, verhungert die Seele.
Die Welt ist voll von nach Liebe hungrigen Seelen, die nebeneinander her leben und sich gegenseitig nicht nähren können. Nicht einmal uns selbst können wir nähren, wenn wir die Liebe aus unserem Leben verbannen, weil wir glauben ihrer nicht würdig zu sein, weil wir Angst davor haben wieder verletzt zu werden oder weil wir glauben nicht liebenswert zu sein.
Wir könnten wieder lernen zu lieben und unser Herz zu öffnen, zunächst für uns selbst. Die Selbstliebe öffnet das Herz für alle anderen Wesen.

Dienstag, 10. Dezember 2024

Nur für heute

                                                                  Foto: A.Wende
 

„Nur für heute.“
Dieser Satz stammt aus dem Dekalog der Gelassenheit, der Papst Johannes XXIII. zugeschrieben wird und der auch zum Programm der Anonymen Alkoholiker gehört: Nur für heute - werde ich nichts trinken.
Was für ein einfach klingender Satz.
Und doch ist es schwer in diesem Bewusstsein zu leben.
Nur für heute impliziert, uns nur auf den heutigen Tag zu fokussieren. Nur dem Aufmerksamkeit zu schenken, was heute zu tun ist, was heute wichtig und wesentlich ist, nur zu tun und zu erledigen was heute getan werden kann und was heute machbar ist. Nur die Probleme zu lösen, die heute gelöst werden können.
Nur für heute bedeutet: achtsam im Hier und Jetzt an diesen einen Tag zu sein. Nicht mit der Vergangenheit und nicht mit der Zukunft beschäftig sein.
Im Heute sein.
Nur für heute bewusst auf diesen Tag achten. 
 
Wie oft sind wir nicht im Heute, sondern irgendwo anders.
Auch ich vergesse diesen Satz, besonders dann, wenn ich verunsichert, traurig oder ängstlich bin. Dann bin ich mit meinen Gedanken irgendwo, nur nicht im Jetzt. Ich denke an das, was war, was hätte sein können oder ich beschäftige mich mit der Zukunft und verliere den Tag aus den Augen. Ich nehme ihn gar nicht wirklich wahr. Ich übersehe Dinge und sehe vieles nicht, was da ist, weil ich mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft beschäftigt bin. In meinem Kopf ist ein Affengeschnatter, ich versuche Lösungen für morgen zu finden, ohne zu wissen, was morgen sein wird. Ich kreiere gedanklich Szenenarien, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe, ob sie eintreten werden. Ich mache Pläne und bin überall, nur nicht da, wo ich bin – im Jetzt, im Heute, anstatt mich bewusst zu fragen:
Was ist Jetzt?
Was ist heute da?
Was ist heute wichtig?
Welches Problem kann ich heute lösen?
Wie kann ich mein Heute gestalten?
Was kann ich dafür tun, damit heute ein gelingender Tag ist?
Worauf möchte ich heute achten?
 
Besonders in schwierigen Zeiten ist es hilfreich und erleichternd nur für heute zu leben. Und ja, es ist schwer. Auch ich muss mich immer wieder an diesen Satz aus dem Dekalog der Gelassenheit erinnern, um nicht aus dem Jetzt wegzudriften.
Damit mir das leichter fällt, steht der Satz auf eine Karte auf meinem Schreibtisch.
Nur für heute.
Es ist einen Versuch wert.
Immer wieder. Jeden Tag. 
 
 
"Das Dharma der Weisheit, zu dem wir erwachen können, ist die Wahrheit, die genau dort ist, wo wir sind - wenn wir uns von unseren Fantasien und Erinnerungen lösen und uns auf die Wirklichkeit der Gegenwart einlassen."
 
Jack Kornfield

Montag, 9. Dezember 2024

Niemandsland

 

                                                            Foto: pixybay
 


Niemandsland
 
Das Land in dem du bist, nachdem du dich von allem verabschiedet hast, was unheilsam in deinem Leben war.
Das Land, in dem du bist, wenn du Menschen, die dir nicht gut tun, schädliche Gewohnheiten und selbstschädigende Muster losgelassen hast.
Das Land in dem du bist, seit du klare Grenzen gesetzt hast.
Das Land in dem du bist, nachdem alles Vertraute sich aufgelöst hat.
Das Land, in dem sich Leere und Einsamkeit ausbreitet.
Das Alte ist vorbei und das Neue noch nicht sichtbar.
 
Wie geht es weiter?, fragst du dich.
Du weißt es nicht.
Noch weißt du es nicht.
Es macht nichts, wenn du gerade nicht weißt, wohin es geht.
Im Niemandsland beginnt der Prozess der Wandlung.
Es ist das Land, in dem es mehr dich selbst und weniger die anderen gibt.
Es ist das Land, in dem du zu dir findest, dich neu erfindest, dich ausprobierst, experimentierst, mutiger und leichter wirst.
Es ist das Land, in dem dein Selbstvertrauen, dein innerer Frieden und deine Selbstliebe wachsen.
 
Du hast alles Notwendige getan.
Du hast den Weg geebnet.
Hab Geduld.
Das Niemandsland ist die heilsame Phase des Übergangs in das Neue.
Du musst nichts mit Macht vorantreiben.
Nimm den Druck raus.
Lass dir Zeit.
Vertraue in dich selbst.
Was dir entspricht, was zu dir gehört, wird zu dir kommen. 
 
„Don't Push the River it Flows by Itself“
Barry Stevens

Samstag, 7. Dezember 2024

Alle Jahre wieder - Einsam an Weihnachten

 

                                                         Foto: A.Wende

 

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. 

Weihnachten naht und die Medien reproduzieren am laufenden Band idealisierte Bilder von Gemütlichkeit und Besinnlichkeit, von leuchtenden Kinderaugen und glücklichen Familien unter dem prachtvoll leuchtenden Weihnachtsbaum. Harmonie und Seligkeit pur, das ist das Bild von Weihnachten, das sich in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt hat. Dieses idealisierte Bild von Weihnachten wird uns bereits in der Kindheit suggeriert, die Realität sieht bei der Mehrzahl der Menschen anders aus, aber das blenden viele aus. 

 

In den Geschäften, im Radio und auf den Weihnachtsmärkten dudelt Weihnachtsmusik in Dauerschleife. „Oh du fröhliche“, nicht für jeden, oder Have yourself a merry little Christmas“, oder auch das nicht, dann nämlich, wenn Menschen an Weihnachten klar wird, wie allein oder wie einsam sie sind. Und das sind viele.

Laut einer Umfrage verbringen jährlich etwa 2,4 Millionen Menschen in Deutschland das Fest der Liebe alleine. Manche freiwillig, manche unfreiwillig. Manche haben damit kein Problem, andere leiden besonders an den Weihnachtsfeiertagen unter Gefühlen der Einsamkeit. Während anderswo Familien oder Paare ihr Weihnachtsfest vorbereiten packt sie schon im Vorfeld der Weihnachtsblues. Je näher das Fest der Liebe rückt, desto schmerzhafter wird der Gedanke, dass sie allein sein werden, ohne Liebe.

Weihnachten ist ein Fest, das emotional völlig überladen ist. Das liegt, wie gesagt, unter anderem daran, dass uns das idealisierte Bild von Weihnachten bereits in unserer Kindheit suggeriert wird.   

Dabei war das Weihnachten der Kindheit für manche von uns oft alles andere als selig und fröhlich. Ich höre in meinen Sitzungen mit Menschen vieles über deren Kindheit und auch über deren Weihnachten in der Kindheit. Und vieles ist alles andere als selig, fröhlich und voller Liebe. Es gab Streit, es gab Dramen, es gab sogar Gewalt am Heiligen Abend. Ich selbst erinnere mich ungern an meine Kindheitsweihnachten, an denen der Vater, alle Jahre wieder betrunken, erst sentimental, dann aggressiv wurde und wir Kinder voller Angst unter dem prachtvoll geschmückten Baum saßen und hofften: Möge der Abend vorüber gehen. Nichts mit: Stille Nacht heilige Nacht. Gruselige Nacht.

Weihnachten ist ein Fest, das bei manchen von uns nicht nur mit schönen Gefühlen einhergeht. Weihnachten lässt auch bedrückende Gefühle aufkommen, alte und neue.  

Verluste werden schmerzhaft gespürt, Erinnerungen an bessere Zeiten werden wach, Melancholie und Trauer schleichen sich ins Herz und machen Knoten im Magen und eben auch Gefühle von Einsamkeit werden ganz groß. Neulich sagte eine Klientin zu mir, sie habe regelrecht Panik, wenn sie an die einsamen Weihnachtsfeiertage denkt. Wir haben eine Lösung für sie gefunden, sie verbringt Weihnachten in einem Wellesshotel. Diesen Luxus kann sich aber nicht jeder leisten und manch einer mag auch an Weihnachten nicht allein im Hotel sein.

Wer an Weihnachten einsam ist, ist es meist auch an anderen Tagen im Jahr. Und ich rede nicht von Alleinsein, sondern von diesem schmerzhaften Gefühl der Einsamkeit, dieser existenziellen Einsamkeit, die Menschen auch in einer Beziehung oder in Gesellschaft anderer empfinden und die sich dann im Alleinsein noch verstärkt. 

Eine Melange, die in der Tat schwer aushaltbar ist. 

 

Eine Umfrage der Partnervermittlung ElitePartner ergab, dass sich jeder dritte Single in der Weihnachtszeit melancholisch oder einsam fühlt. Und darunter sind nicht nur ältere und alte Menschen, sondern auch junge, beruflich erfolgreiche. Was sie alle gemeinsam haben: Es fehlt an erfüllenden sozialen Bindungen. Die Gründe dafür sind verschieden, die Auswirkungen gleichen sich: Ohne tiefe vertrauensvolle Bindungen fühlen Menschen sich innerlich einsam. Und es werden immer mehr.

 

Wie umgehen mit der Einsamkeit an Weihnachten?

Die ernüchternde Antwort lautet: Es gibt kein Patentrezept um die Einsamkeit zu erlösen und auch eine Therapie macht aus einem Einsamen keinen sozial verbundenen Menschen. Was einsame Menschen brauchen kann man nicht hintherapieren. 

 

Einsamkeit hat viele Ursachen, die zum Teil in uns selbst liegen können, zum Teil aber auch an den äußeren Umständen. Was zur Vereinsamung geführt hat ist oft  tief in uns verwurzelt. Eine schnelle, für alle passende Lösung, gibt es nicht. Da helfen banale Tipps wie: Gehen sie in einen Verein, in einen Volksschulkurs, suchen sie Kontakt, nichts. Es geht nicht um beliebige Kontakte, es geht um erfüllende Resonanz auf emotionaler und geistiger Ebene, um tiefe Bindung und diese findet sich nicht automatisch indem man unter Menschen geht.

 

Wie also damit umgehen, jetzt an Weihnachten, wenn die Einsamkeit noch schmerzhafter spürbar ist als an anderen Tagen? 

Ein Patentrezept habe ich leider nicht, aber ein paar Gedanken dazu:

 

Verabschiede dich von dem idealisierten Bild von Weihnachten und wie es aussehen sollte. Es ist okay dich einsam und traurig zu fühlen. Du darfst traurig sein. Du darfst vermissen, was dir fehlt. 

 

Du musst kein Weihnachten feiern, keinen Christbaum aufstellen, keine Weihnachtslieder hören und kein Festessen zubereiten. Du kannst Selbsthilferatschläge wie: Mach es dir schön, verwöhn dich selbst, mach dir ein tolles Geschenk, in die Tonne hauen, wenn dir absolut nicht danach ist. 

 

Du darfst dich mal richtig ausschlafen, rumgammeln, dich den ganzen Tag aufs Sofa legen, eine Pizza, anstatt der Weihnachtsgans in den Ofen schieben, ein gutes Buch lesen, deinen Lieblingspodcast hören oder endlos deine Lieblingsserie gucken bis dir die Augen zufallen.

 

Du kannst die Wohnung ausmisten, Ballast entsorgen, eine Wand farbig streichen, endlich mal die Fenster putzen, den PC aufräumen, gründlich Putzen, die Steuererklärung machen. Lass dir von niemandem sagen, wie dein Weihnachtsfest aussehen soll. 

 

Sei liebevoll zu dir selbst, wenn du es kannst und wenn du es nicht kannst, hab Mitgefühl mit dir selbst, dass du es gerade nicht kannst. Du musst nichts tun, was krampfhaft schöne Weihnachten herstellt. Hör auf gegen deine wahren Gefühle anzukämpfen. 

Nimm dich selbst ernst. 

 

Mach dir bewusst: Alles, alles geht vorüber, auch die Weihnachtsfeiertage. 

Und - alles kann sich zum Besseren wandeln. 

This Christmas ist nicht Next Christmas.

 

Vielleicht hilft dir der Gedanke, du bist nicht allein mit deinen Gefühlen. Viele Menschen fühlen sich jetzt einsam wie du.

 

Und du könntest dich fragen: Was ist eigentlich Weihnachten? 

Es ist der Tag von Christi Geburt, um nichts anderes geht es. Da wurde in einem Stall in Bethlehem Einer geboren, der zeigte, was ein Mensch sein könnte. 

Und es geht um die Hoffnung, dass in dunklen Zeiten das Licht zurückkommt. 

It is through the cracks where the light comes in.

 

 

„Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in.“

Leonard Cohen, Athem

 

 

Montag, 2. Dezember 2024

Aus der Praxis: Vom Opfer zum Gestalter

 



„Ich gebe die Opferrolle auf und übernehme Verantwortung“, steht auf einer der Lebenskarten, die ich manchmal in der Praxis verwende.
Aber was steckt hinter so einem Satz?
Zunächst, muss man unterscheiden zwischen Opfer und Opferhaltung. Wer Opfer ist oder Opfer war, begibt sich nicht unbedingt automatisch in die Opferrolle.
Schauen wir mal genauer hin.
 
Was ist ein Opfer?
Opfer ist ein Mensch, wenn ihm Schaden zugefügt wird.
In der Kriminologie wird das Opfer als die geschädigte Person eines Verbrechens definiert, jemand, der durch einen Täter in seinen Rechten verletzt wurde. Dies Verletzung kann körperlicher Natur sein. Dazu zählen: Mord, Körperverletzung, Gewalt, gefährliche Drohung, Beeinträchtigung der sexuellen Integrität und/oder der Selbstbestimmung. Sie kann ideeller Natur sein wie z.B. Beleidigung und sie kann materieller Natur sein wie z.B. bestohlen werden oder Sachbeschädigung.
Allgemein bezeichnet man ein Opfer als einen Menschen, der entweder aufgrund der Handlungen eines Täters oder aufgrund von Krankheit, Katastrophen, dem Schicksal oder dem Zufall verletzt, beschädigt oder getötet wird.
 
Wie werden Opfer wahrgenommen?
Opfer werden in der Gesamtheit ihrer Person als hilflos, ohnmächtig, gedemütigt, ausgeliefert, schwach, wehrlos, verletzt und beschädigt wahrgenommen.
In der Jugendsprache und in Gefängnissen z.B. wird der Begriff „Opfer“ abwertend benutzt, er wird aufgrund des Verhaltens der betreffenden Person mit Schwäche, Passivität und Hilflosigkeit assoziiert. „Opfer“ haben einen schlechten Stand und sind Demütigungen und Verletzungen ausgesetzt.
In der Psychologie bezeichnet man als Opfer eine von negativen Ereignissen wie Gewalt (seelisch oder körperlich) und von Trauma betroffene Person. 
 
Was ist die Opferhaltung?
Die Opferhaltung hat nicht unbedingt damit zu tun, tatsächlich ein Tatopfer oder ein Katastrophenopfer zu sein. Wenn man von Opferhaltung spricht geht es vielmehr um die innere Haltung und die Einstellung eines Menschen. Wer sich als Opfer fühlt, fühlt sich anderen, dem Leben, der Vergangenheit, dem Trauma, dem Schicksal ausgeliefert und ist nicht bereit oder fähig Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen. Er sieht, interpretiert und lebt das Leben aus der Identität des Opfers. 
 
Die Opferrolle ist eine innere Haltung die u.a. folgende Charakteristika aufweist: 
 
1. Die externe Verortung von Kontrolle auch „external locus of control“ genannt, im Gegensatz zur Kontrollüberzeugung. Es besteht die innere Überzeugung, keine eigene Kontrolle über Entscheidungen, Verhalten und Handlungen zu haben und den Dingen hilflos ausgeliefert zu sein.
2. Schuldzuweisung: Eine zentraler Punkt der Opferrolle ist, jegliche Schuld von sich zu weisen. Es besteht die innere Überzeugung, dass generell andere oder das Schicksal an dem, was geschieht oder geschehen ist, schuld ist. Eigene Anteile werden nicht gesehen, nicht in Erwägung gezogen oder von sich gewiesen.
3. Alles persönlich nehmen und konkret auf sich selbst zu beziehen: Das heißt, jede Art von Kritik und äußere Umstände werden im direktem Bezug auf sich selbst wahrgenommen und als negativ empfunden.
4. Ausreden: Dazu gehört das „eigentlich“ Denken. „Eigentlich will ich, aber ich kann nicht weil …". Es werden immer Gründe im Außen gesucht und dafür verantwortlich gemacht, warum etwas ist, wie es ist und warum es unveränderbar ist.
5. Sich selbst Kleinmachen: Dazu gehören dysfunktionale innere Überzeugungen und destruktive Glaubenssätze, die mental klein machen. Z.B: Ich bin wehrlos, ein vom Schicksal gebeutelter Mensch, ich habe nichts Gutes verdient, Gott straft mich, Gott hat mich verlassen, ich bin arm dran, ich habe immer Pech, ich bin vom Leben bestraft, ich bin schwer traumatisiert, ich kann nichts, ich bin nichts und und und und. Dazu gehören auch Überzeugungen wie „Alle oder das Leben ist sind gegen mich“ oder „Niemand versteht mich und niemand kann mir helfen.“
 
Kurz: Ein Mensch, der in der Opferrolle feststeckt, empfindet sich grundsätzlich als machtlos und ausgeliefert und nicht als Gestalter seines Lebens.
 
Wie kommt es dazu?
Die Opferhaltung ist eine Coping Strategie, die wir aufgrund traumatischer oder sich wiederholender negativer Erfahrungen entwickelt haben, um uns vor weiteren Verletzungen und Wunden zu schützen. Aber diese Strategie geht nicht auf. Sie ist ein meist unbewusster untauglicher Versuch um Verständnis, Schutz, Hilfe, Zuspruch, Mitgefühl und Rücksichtsahme zu erhalten.
Traumata und Probleme lösen sich aber nicht, indem wir uns mit der Opferrolle identifizieren und keine Verantwortung für unsere Handlungen im Jetzt übernehmen und in Schuldzuweisungen anderen oder einer höheren Macht gegenüber, stecken bleiben.
Diese innere Haltung führt nur weiter in die Ohnmacht.
Sie hat sich selbst verstärkenden Charakter.
Wir geben die Kontrolle über unser Leben damit vollends ab und sind unfähig unser Leben zu gestalten. Wir bleiben in der Vergangenheit stecken und überladen das Jetzt mit dem Vergangenen. So kann keine Entwicklung und kein Wachstum stattfinden.
Der Weg raus aus der Opferrolle bedeutet kurz gesagt: Die Bereitschaft zu entwickeln sich selbst als Gestalter des eigenen Lebens zu ermächtigen, und zwar unabhängig von dem, was war, und von äußeren Einflüssen und Umständen.
Er bedeutet eine Entscheidung zu treffen: Nämlich Eigenverantwortung, Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit erreichen zu wollen und dies auch zuzulassen. Das ist kein leichter Weg, es ist ein Prozess, wie jede Entwicklung zum Besseren hin. Jede Veränderung in Richtung Genesung beginnt mit der Entscheidung etwas anders zu machen und mit der unbedingten Bereitschaft es zu tun. 
 
Nachtrag 

Der Begriff "Victim Blaming" bedeutet zu deutsch: dem Opfer die Verantwortung zuschieben. Also eine Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses. Das Opfer ist schuld an dem ihm widerfahrenen Unrecht und nicht der Täter. Das Opfer wird damit zum Täter erklärt. Victim Blaming ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Opferhaltung. Opfer sind in diesem Punkt hochempfindlich, weil sie oft den Unterschied nicht erkennen.
Victim Blaming bedeutet: Das Opfer ist schuld.
Opferhaltung bedeutet: Man ist Opfer und ergibt sich in die Opferhaltung, was bedeutet: man ergibt sich der Hilflosigkeit und der Ohnmacht und bleibt in der Überzeugung stecken: Ich bin ein Opfer, folglich bleibe ich immer ein Opfer.
Man identifizert sich mit dieser Haltung.
Das Trauma kann so jedoch nicht gelöst werden.
Es löst sich dann, wenn die Bereitschaft besteht vom Opfer zum Gestalter zu werden und Selbstermächtigung zu erlangen, indem man das Trauma aufarbeitet und sich professionelle Hilfe sucht. 
 
Die Gründe warum Menschen die Opferrolle beibehalten und es nicht schaffen diese selbstschädigende Haltung wieder zu verlassen, sind vielfältig und bei jedem andere.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Schuld nicht beim Opfer, sondern immer beim Täter liegt. Die Verantwortung für das Verbleiben in der Opferrolle liegt beim Opfer selbst.
 
„I will do good
no matter what
no matter what happens to me
I will do good
It´s an absolute rejection of the idea of being a victim
I will do good
no matter how much suffering comes my way
no matter how much undeserved suffering comes my way
i will not loose faith
I will do good“
 
- David Millar
 
Lebenskarten: www.lebenskarten.de
 
Angelika Wende

Sonntag, 1. Dezember 2024

Alleinsein, allein leben

 


Alleinsein – all einsein, heißt im Einklang mit uns selbst zu sein, mit uns selbst und mit dem Ganzen gefühlt in Kontakt und verbunden zu sein. Alleinsein bedeutet nicht einsam sein, das zu unterscheiden ist wichtig. Einsam sein kann man auch unter Menschen und in einer intimen Beziehung. Einsamkeit ist schmerzhaft. Sie ist ein Zustand, der nie selbst gewählt ist. Das Gefühl von Einsamkeit wird durch ein emotionales Defizit ausgelöst. Alleinsein bedeutet für sich sein, physisch allein zu sein, also keinen anderen Menschen in unserer Nähe zu haben. Allein zu sein und allein zu leben bedeutet viel Zeit mit uns alleine zu verbringen, alleine Dinge zu tun, alleine unseren Alltag zu meistern, in allen Lebensbereichen alleine für uns zu sorgen, abends in eine leere Wohnung zu kommen und morgens alleine aufzustehen, oft auch an den Wochenenden allein zu sein, Dinge alleine zu tun, niemand zu haben, der da ist, weil Freunde und Familie keine Zeit haben oder weit weg wohnen. Allein leben bedeutet, dass, wenn wir krank sind, niemand da ist, der uns umsorgt. 

Allein leben ist eine Herausforderung, vor allem dann, wenn wir es nicht gewohnt sind oder es uns anders wünschen. Es gibt Menschen, die Angst vor dem Alleinsein haben. Für sie ist die Vorstellung alleine zu leben schwer auszuhalten. Sie bekommen schon beim Gedanken daran ein beklemmendes Gefühl. Alleinsein ist für sie mit einer diffusen oder einer konkreten Angst besetzt. Sie sind unfähig das Alleinsein zu genießen und vermeiden es um jeden Preis. Viele Menschen bleiben aus Angst vor dem Alleinsein sogar in unheilsamen Beziehungen. Wer nicht allein sein kann ist abhängig von anderen. Diese Abhängigkeit erzeugt wiederum eine diffuse Unsicherheit. Verlieren diese Menschen wovon sie abhängig sind, ist da eine große Leere. Sie wissen nicht wohin mit sich, nichts mit sich selbst anzufangen, sie fühlen sich lost oder einsam. Manche Menschen haben so starke Angst vor dem Alleinsein, dass diese Angst zu Panikattacken und anderen seelischen Problemen führen kann. Dann spricht man von einer Autophobie.

Die Angst vorm Alleinsein hat Gründe. Meist liegen diese in der Kindheit. Man nimmt an, dass frühe Erfahrungen von Verlusten und Trennungen zu dieser Angst beitragen. Betroffene befürchten eine Wiederholung dieser traumatischen Erlebnisse und wollen diese Erfahrung um jeden Preis vermeiden. Wer Alleinsein als bedrohlich und schmerzhaft empfindet, ist gut beraten, sich professionelle Hilfe zu suchen um mit der Angst umgehen zu lernen. Dabei geht es nicht darum die vollständige Abwesenheit der Angst zu erreichen, Ängste sind hartnäckig, sondern um die Kontrolle über die Furchtreaktion, wodurch sie auf einem subjektiv erträglichen Intensitätsniveau gehalten werden kann und die angstbesetzte Situation nicht mehr vermieden werden muss. Wie bei allen Ängsten gilt auch bei der Angst vorm Alleinsein: Damit wir mit der Angst arbeiten können, müssen wir uns der Angst stellen und dann durch sie hindurchgehen. Wenn wir dagegen ankämpfen, wird sie nur stärker. Je mehr wir versuchen, Angst zu vermeiden, desto intensiver fühlen wir sie. Jedes Mal, wenn wir es schaffen die Angst auszuhalten, wird sie beim nächsten Mal weniger intensiv. Jedes Gefühl, auch Angst, verändert sich, aber dazu müssen wir uns mit Situationen konfrontieren, in denen wir das Gefühl fühlen.

Aber auch das klappt nicht immer und nicht bei jedem. Damit eine neue Wahrnehmung entsteht, müssen wir ein neues Gefühl entwickeln um die Angst auflösen und transformieren zu können. Eine Möglichkeit ist: Wir gehen in die Angst hinein und versuchen in der Angst eine neue Emotion wahrzunehmen. Konkret bedeutet das: Wenn wir Angst vorm Alleinsein haben, sorgen wir dafür gedanklich bewusst in einen positiven Zustand zu kommen, der ein positives Gefühl auslöst. 

Es ist hilfreich sich immer wieder zu sagen: Ich alleine mit mir selbst bin frei, ich bin für mich da, ich sorge gut für mich, ich bin in guter Gesellschaft, ich genieße die Ruhe und die Stille. Ich bin dankbar mit mir selbst in Kontakt zu sein. Ich bin nicht allein, ich bin immer für mich da. Diese Worte können helfen ein positiveres Gefühl zu empfinden. Unser Gehirn kann das Gefühl speichern, indem wir diese Gedanken wiederholen. Wir überschreiben alte Annahmen mit neuen Annahmen. Eine weitere Möglichkeit mit der Angst vor dem Alleinsein angemessen umzugehen ist, sich zunächst einmal zuzugestehen, dass man Angst hat. Besonders Menschen, die noch nie alleine gelebt haben fühlen sich am Anfang lost. Das ist normal. Sie müssen ja erst lernen mit der neuen Situation umzugehen und sich ihr langsam anzupassen. Es hilft, sich zu sagen: Dieses Gefühl wird nicht für immer bleiben. Ich habe schon andere schwierige Situationen gemeistert, das schaffe ich auch. Es gibt vieles, was wir für sich selbst tun können, um die Angst zu reduzieren. Schon alltägliche, kleine Dinge, die wir gerne tun oder Dinge an denen wir uns erfreuen, Beschäftigungen, die usn erfüllen, können dazu führen, dass wir uns weniger ängstlich fühlen.

Was kann ich jetzt für mich alleine tun, um mich besser zu fühlen? Was macht mich glücklich? Was macht einen Tag zu einem guten Tag? Bei welcher Tätigkeit vergesse ich die Zeit? Was kann ich für mich tun, was mir jetzt gut tut? 

Fragen wie diese sind unterstützend um uns, anstatt auf die Angst, auf einen kreativen Umgang mit dem Alleinsein zu fokussieren. Entscheidend aber ist, um die Angst vor dem Alleinsein zu überwinden, dass man mit sich selbst im Reinen und mit sich selbst zufrieden ist. Alleine sein und alleine leben ist eine Kunst. Die Kunst des Alleinseins ist wie jede Kunst erlernbar. Zugegeben, das ist für Menschen, die Angst davor haben, keine leichte Übung. Es erfordert Geduld, Kontinuität und aktives Tun um die Angst nach und nach zu transformieren. Es lohnt sich, denn wer angstfrei mit sich alleine leben kann, wer mit sich selbst in guter Gesellschaft ist, braucht niemanden um seine Gefühle zu regulieren, sich seine Zeit vertreiben zu lassen und um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Er ist selbstbestimmt und emotional nicht von anderen abhängig. Er ist sich selbst genug und damit selbstabhängig, was nicht bedeutet, wenn ihm die Liebe begegnet, dass er sich ihr nicht zuwendet - um zu lieben, nicht um zu brauchen oder um gebraucht zu werden.

Sonntag, 17. November 2024

Wo ist die Liebe?

 

„Wo soll sie dann hin, die Liebe, wenn sie nicht gedeihen kann?“, fragte mich gestern ein Freund. Das ist eine tiefgründige und traurig machende Frage zugleich. Ja, wohin mit der Liebe, wenn sie nicht gedeihen kann? Anders formuliert, wohin mit der Liebe, wenn es keinen Ort gibt an dem sie gedeihen kann? Wenn es keinen Empfänger gibt, der sie nehmen will? Keinen Platz, an dem sie sich entfalten und lebendig sein kann, so dass sie fühlbar wird in uns, die wir sie hineingeben, in ein Subjekt oder ein Objekt. Picasso sagte einmal sinngemäß: „Wenn ich keine Menschen um mich hätte, würde ich einen Türknopf lieben oder einen Nachttopf, irgendwas.“ 

Krasse Aussage. Wie kann man einen Türknopf lieben, könnte man sich fragen? Man kann auch einen Nachttopf lieben, würde ich sagen, in Übereinstimmung mit Picasso. Es geht hier nicht um den Nachttopf und es geht nicht um den Türknopf – es geht allein darum liebevolle Resonanz zu empfinden zu etwas, egal was es ist. Liebe braucht Resonanz. Ohne Resonanz verkümmert sie. Aber es muss nicht immer diese eine Liebe sein, die wir jemanden entgegenbringen, auch wenn viele genau das verstehen und meinen, wenn sie von Liebe sprechen. Liebe ist weit mehr. Liebe ist zunächst in uns selbst. Nur weil sie in uns selbst ist, kann sie überhaupt nach Resonanz verlangen und in Resonanz gehen. Aber viele Menschen spüren diese Liebe in sich selbst nicht oder sie haben keinen Zugang zu ihr. Da muss erst jemand kommen um sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken. Ist da niemand, der die Liebe erweckt, wird sie nicht gefühlt oder sie wird gefühlt und weiß nicht wohin mit sich und dann wird sie ganz traurig und einsam und wir haben das Gefühl es gibt sie nicht für uns. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, heißt ein Buch von Carson McCullers. Es „jagt“ nach Liebe. Nach dem einen, der uns liebt, damit unsere Liebe andocken kann, damit sie weiß, wo sie gedeihen kann. Gibt es diesen Ort des Gedeihens nicht, weiß sie nicht, wohin mit sich. Das kann sehr einsam machen. Nicht nur allein, sondern zutiefst einsam innen, weil es unerfüllt ist, das Verlangen gehört, gesehen, berührt zu werden. 

In dieser lieblosen Einsamkeit fehlt der eine Mensch, dem wir uns nah und verbunden fühlen. Unsere Intimitätsbedürfnisse bleiben resonanzlos, unsere emotionalen Erfahrungen sind nicht mitteilbar, nichts kann geteilt werden – wir sind singuläre Menschen, ohne erfüllenden Kontakt, ohne Nähe, auf uns selbst reduziert. "Monaden, die keine Fenster haben, durch die etwas ein- oder austreten könnte", wie es Gottfried Wilhelm Leibniz sinngemäß beschreibt. Dann vielleicht doch den Türknopf lieben. Lieben was da ist. Der Türknopf als Metapher für all das, was es zu lieben gibt. Uns selbst, die wunderschöne Erde auf der wir leben dürfen, die Dinge, die wir lieben, die Tätigkeiten, die wir lieben, die uns in den Flow versetzen und uns Glück empfinden lassen, Augenblicksglück liebevoller Momente. Die Liebe zum Wahren, Guten und Schönen, das es trotz allem Unheilsamen auf der Welt gibt, diese Trias, wenn wir sie sehen können. Wir können sie gedeihen lassen, wir selbst, indem wir das Wahre, das Gute und das Schöne in uns fühlen, es erkennen, uns ihm öffnen, in Resonanz damit gehen. Dazu brauchen wir keinen anderen Ort als unser Herz und unsere Sinne. „Die Liebe ist in allen Dingen gleichsam die Seele und das Auge. In dieser Liebe schließt sich der Lauf der Welt. Liebe ist die volle Wirklichkeit des Guten", schreibt Hildegard von Bingen. Besser kann man es nicht ausdrücken.

Montag, 21. Oktober 2024

Dem Sinnlosen Sinn geben

 

                                                               Foto: A.Wende
 
Wir können vieles nicht kontrollieren und wir haben keine Macht über andere Menschen, egal was wir tun. Auch wenn wir unser Bestes geben, machen wir alle Erfahrungen im Leben, die wir uns nicht aussuchen. Es gibt sogar jede Menge Erfahrungen, die wir uns nicht aussuchen, dazu gehören auch die, die uns tief verletzen und die schmerzhaften. Solche Erfahrungen können uns, noch lange nachdem sie vorbei sind, schwer belasten. Was uns einmal den Boden unter den Füßen weggezogen hat, vergessen wir so schnell nicht. Tiefe Kränkungen und tiefe Enttäuschungen graben sich ein. Und sie verändern uns – unsere Haltung zur Welt, zu anderen und zu uns selbst.
 
Besonders tiefe Kränkungen stellen Wesentliches in Frage. 
Unser Hirn und unsere Seele versuchen wieder und wieder irgendwie damit fertig zu werden, aber es gelingt nicht – die schmerzhafte Erfahrung der Vergangenheit hat uns im Griff und überlagert unser Jetzt. Schon am Morgen, wenn wir aufstehen, fühlen wir Schmerz, Trauer oder Wut. Diese Gefühle begleiten im schlimmsten Falle unsere Tage.
So lebt es sich schlecht. Und es geht uns schlecht.
Wir sind nicht fähig loszulassen. Wir werden mit dem, was geschehen ist, einfach nicht fertig, so sehr wir uns auch bemühen.
Vergiss es einfach! Lass endlich los! Mach einen Punkt! Was war ist vorbei. Du kannst es nicht ändern! Schau nicht zurück, es könnte dich etwas einholen!
All das sind Sprüche, die wahr sind, aber wir fühlen es nicht.
Für uns ist es nicht vorbei, wir müssen damit leben. Wir schauen zurück, auch wenn wir wissen, es ist sinnlos, weil es ja nichts ändert. Es schadet uns nur. 
 
Ja, es ist sinnlos, aber wir können eins tun – wir können uns selbst fragen welchen Sinn wir dem, was geschehen ist, geben wollen. Sinngebung ist elementar wichtig für ein erfülltes, gelingendes Leben. Wenn wir das, was wir tun, als sinnhaft empfinden, sind wir zufrieden. Sinnhaftigkeit ist ein Lebensmotor und genau diese Sinnhaftigkeit kann uns helfen uns von den schmerzhaften Erfahrungen der Vergangenheit zu lösen. 
 
Wir Menschen sind Sinnsucher und wir sind Sinngeber.
Wir können uns fragen, welchen Sinn wir dieser Erfahrung geben wollen. Auch wenn der erste Impuls ist – das war so sinnlos!
Sinngebung hat nichts damit zu tun ob es sinnvoll oder sinnlos war, Sinngebung hängt allein davon ab, wie wir die Dinge deuten und welchen Sinn wir selbst den Dingen geben wollen.
Das ist Schöpfertum. 
 
Wir gestalten Sinn – darin liegt eine große Freiheit.
Jede Erfahrung kann uns etwas lehren, etwas erkennen lassen, etwas aufdecken, was uns nicht bewusst war, uns weiterbringen. Jede Erfahrung, auch die scheinbar Sinnloseste und Schmerzhafteste, birgt großes Wachstums- und Weiterentwicklungspotenzial, auch wenn wir gerne auf sie verzichtet hätten.
Wir können uns fragen:
Welchen Sinn will ich dieser Erfahrung geben?
Was kann sie mich lehren?
Über mich selbst, über andere, über das Leben?
Was in mir kann an dieser Erfahrung wachsen?
Was ist das Wesentliche, das ich erkenne, was ich ohne diese Erfahrung niemals erkannt hätte?
Was mache ich bewusst anders nach dieser Erfahrung?
Welche Kräfte hat sie in mir freigesetzt?
Welche Stärken habe ich in mir entdeckt oder entwickelt?
Wie will ich diese Erfahrung in mein Leben integrieren? 
 
Sinngebung bedeutet, wir begeben uns raus aus der Opferrolle. 
Wir schenken uns selbst Mitgefühl, Respekt und liebende Güte, wir werden kreativ und finden eine Lösung, um uns bewusst zu lösen, von dem, was uns in der Vergangenheit festhält.Wir würdigen uns selbst dafür, dass wir das Schmerzhafte durchgestanden haben und daran wachsen wollen – trotzdem, nein gerade wegen dem.
Wir geben dem Sinnlosen Sinn.
Wir nehmen ihm die Macht über unser Jetzt - das ist Selbstermächtigung. 
 
 
Angelika Wende

Freitag, 18. Oktober 2024

Alleinsein ist kein Zwischenzustand

 

                                                                          Foto: Pixybay

 
Wir ziehen Menschen aufgrund unserer psychischen Wunden an, man nennt das auch „Schlüssel-Schloss Prinzip“ -  die jeweiligen Wunden passen perfekt ineinander. Daher entsteht in dieser Art Beziehungen am Anfang auch bei vielen das trügerische Gefühl: „Das ist mein(e)Seelenpartner(In)", eben weil es scheinbar so perfekt passt. Diese Anziehung geschieht bei den Meisten von uns unbewusst.
Je unbewusster wir uns dessen sind, je weniger wir uns unserer eigenen psychischen Wunden bewusst sind, desto mehr arbeiten wir uns am anderen emotional ab.
Nach dem ersten Verliebtsein, kommt es schleichend zu dem, was wir toxische Beziehungen nennen, eine unheilsame Kollusion, in der Kampf und Schmerz die Beziehung dominieren.
Meist scheitern diese Beziehungen, wenn einer der Beiden den Kampf beendet und aus der Kollusion aussteigt.
Hat man dann plötzlich niemanden mehr, auf den man sich konzentrieren kann, ist man mit sich selbst konfrontiert. Das wird als extrem schmerzhaft empfunden, denn dann klafft neben dem Trennungsschmerz die Wunde auf, die man in der Beziehung auf den anderen projizieren konnte. Man ist plötzlich mit sich selbst konfrontiert, abseits von der Vorstellung der Person, die man für einen anderen sein möchte.
Für viele Menschen ist es daher sehr viel einfacher, sich direkt wieder in eine neue Beziehung zu stürzen, anstatt zu lernen, den Schmerz, die Stille und die Leere, die durch die Trennung entstehen, auszuhalten und anzufangen an sich selbst zu arbeiten, was bedeutet, mit der Leere umgehen zu lernen und sich seiner Wunde zu stellen um sie zu heilen.
Alleinsein ist kein Zwischenzustand, es ist ein vollwertiger Lebensabschnitt, in dem wir lernen können mit uns selbst eine gesunde Beziehung zu führen, anstatt uns weiter in ungesunden Beziehungen am anderen abzuarbeiten. 
 
 
 
Angelika Wende

Montag, 14. Oktober 2024

Projektion

 



Indem wir uns selbst vergeben und uns selbst ganz annehmen hören wir auf unsere eigenen unerwünschten Gefühle oder ungeliebte Eigenschaften auf andere Menschen oder Situationen zu übertragen.
Wir hören auf Emotionen, Wünsche und Ängste, die wir nicht haben wollen, die uns bedrohlich erscheinen, derer wir uns schämen, abzuwehren und zu bekämpfen und zu meinen, auf diese Weise hätten wir selbst nichts damit zu tun.
Wir hören auf zu projizieren, nehmen wahr, wann Projektion im Spiel ist und nehmen sie zu uns zurück.
Indem wir uns von Schuld- und Schamgefühlen lösen, die eigenen ungeliebten Seiten erkennen, sie nach und nach verstehen und annehmen, werden wir ganzer.
Wir vergeuden keine Energie mehr ins außen und kommen mehr und mehr bei uns selbst an.
Wir kümmern uns um unserer Eigenes.
Wir wandeln uns, anstatt Wandlung im Außen anzustreben.
Wo Verstrickung, Ablehnung oder Verhärtung herrschte, sehen wir uns selbst und unser Gegenüber immer klarer und verständnisvoller.
Wir erlauben uns vollkommen menschlich zu sein, so wie wir sind, mit unseren Macken, Ecken, Kanten und Problemen und sagen Ja zu uns selbst.
Wir haben den Mut uns selbst kennenzulernen, unsere Leere, unsere Schatten und unsere Ängste, und scheuen uns nicht, mit den dunklen Aspekten in uns selbst in Kontakt zu kommen.
Wir übernehmen auf reife Weise die Verantwortung für unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen.
Damit erleben wir nicht nur eine neue innere Freiheit, wir werden verstehender und friedlicher. 
 
“Das Wissen um die eigene Dunkelheit ist die beste Methode, um mit der Dunkelheit anderer Menschen umzugehen.”
C.G.Jung
 
 
Zeichnung: A.Wende