Sonntag, 14. Mai 2023

Der Schatten der Mutter

                                                   L'Esprit de géométrie, René Magritte

"Als sie das Haus der Mutter verließ, hatte sie, Närrin, geglaubt, sie sei ein für allemal Herrin ihres Privatlebens geworden. Das Reich der Mutter erstreckte sich jedoch über die ganze Welt und griff überall nach ihr. Nirgends würde Teresa sich ihm entziehen können", schreibt Milan Kundera in

"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"
Ob liebevoll oder kalt, fürsorgend oder vernachlässigend, lebend oder tot, die Mutter bleibt immer Ursprung und existentieller Beginn unseres Lebens. Die Bindung zur Mutter ist die früheste überhaupt, und sie ist die Prägendste. Sie prägt unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Handlungen und unsere Sicht auf uns selbst und die Welt. Das größte Glück, dass ein Kind haben kann, ist eine hinreichend gute Mutter. Wenn unsere Beziehung zur Mutter als liebevoll, fördernd, wohlwollend und wertschätzend erlebt wurde, fühlen wir uns sicher in uns selbst. Wenn die Mutter an uns glaubt, lernen wir an uns selbst zu glauben.
„Du hast immer an mich geglaubt, und das hat mir die Kraft gegeben, meinen Traum zu leben", sagte mein Sohn einmal zu mir. Er ist Musiker geworden, er lebt seinen Traum und er kann davon leben. Mein Sohn ist das Beste, was mir das Leben geschenkt hat. Er weiß das.
Natürlich war ich nicht die perfekte Mutter. Die gibt es gar nicht. Ich habe Fehler gemacht und ich habe sie mir und ihm eingestanden. Es gab Krisen in unserer Beziehung und Konflikte, aber wir konnten sie immer lösen. Unsere Beziehung war sehr innig und mein Sohn hat gelernt, sich von mir zu lösen und ich mich von ihm. Heute ist er ein erwachsener Mann und lebt ein eigenverantwortliches Leben. Er bekommt das gut hin, in einigen Bereichen sogar besser als ich, besonders was seine Liebesbeziehung angeht. Sie ist seit langen Jahren stabil und beide sind glücklich miteinander. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Heute Morgen am Muttertag, dachte ich: Ich habe es besser gemacht als meine Mutter, die mir keine Liebe gegen konnte und mich als Baby wegegeben hat. Ich habe den Schatten meiner Kindheit nicht an meinen Sohn weitergegeben.
Ich habe weder mütterliche Fürsorge noch bedingungslose Liebe erfahren. Ich habe lange gebraucht, um damit klar zu kommen. Wer das nicht bekommt, wer nicht am eigenen Leibe spürt wie sich mütterliche Liebe anfühlt, wird sich im Leben schwertun. Aber er wird sich nicht unebingt damit schwertun, all das dem eigenen Kind zu geben und irgendwann auch sich selbst.

Auch wenn die Beziehungserfahrung, die wir mit der Mutter gemacht haben, unser Leben auf gute oder ungute Weise weitgehend prägt, sie muss es nicht ein Leben lang dominieren. Es liegt, wenn wir erwachsen sind, an uns selbst, ob wir bereit sind die unheilsamen Erfahrungen zu verarbeiten und von unseren destruktiven Prägungen zu genesen. Es liegt an uns, ob wir bereit sind, die Verantwortung im Jetzt zu übernehmen und die Verstrickung zu lösen.

„Wissen Sie“, sagte letztens eine Klientin, „ich leide noch immer unter den vernichtenden Worten meiner Mutter. Seit ich denken kann hat sie meine Selbstachtung in den Boden gestampft. Ihre harten Worte klingen mir in den Ohren, auch dann, wenn ich doch eigentlich glücklich sein könnte. Es ist mir bis heute nicht gelungen mich aus dem Käfig der Erinnerungen zu befreien. Ein Teil von mir glaubt ihr, und ein anderer weiß, dass sie Unrecht hatte. Meine Mutter kann gut vergessen. Wenn ich ihr die Glaubenssätze wiederhole, die sie mir eingeimpft hatte, die mich klein gemacht haben, weigert sie sich mich zu verstehen. Sie legt sich alles zurecht, wie es in ihr Bild passt. Meine Worte haben für sie keinen Wert. Sie bleibt bei ihren Überzeugungen und so muss sie nichts einsehen, was ihre Realität ins Wanken bringen könnte. Manchmal bedauere ich, dass ich diese Gabe nicht besitze.
Es ist ein Kampf, jeden einzelnen Tag. Ich glaube zu wissen was ich will, aber ich tue es nicht, ich glaube zu wissen, wer ich bin, aber ich bin es nicht, ich glaube zu wissen, wohin ich gehen will, aber ich vertraue mir selbst nicht. Ich bin mir in nichts sicher, das macht mich schwach. Ich stelle mir vor, wie es sein könnte, wenn ich endlich erwachsen wäre, ihr entwachsen wäre und ich frage mich, was ich dazu brauche, um diesem Schatten, der mein Leben erdrückt, zu entkommen. Ich bin ein Unglücksrabe, der ein Adler hätte sein können, hätte man ihn in ein anderes Nest gelegt.“

Sie wurden aber in genau dieses Nest gelegt. Haben Sie schon einmal überlegt, dass sie vielleicht diese Mutter haben, um die zu werden, die sie sind?, frage ich sie. Sie konnten sich ihre Mutter nicht aussuchen, aber jetzt können sie wählen, wie sie mit dem umgehen, was sie als Kind erleben mussten. Sie können sich ewig beklagen über die gute Mutter, die sie nicht hatten, sie können sie ewig verantwortlich machen für das, was ihnen nicht gelingt, es hilft ihnen nichts. Sie behandeln sich damit nur weiter so wie man sie als Kind behandelt hat. Sie führen zwei Kämpfe - den gegen die Mutter und den anderen gegen sich selbst. Sie werden keinen davon gewinnen.
Wollen sie das?

„Nein, aber bin wütend auf sie, noch immer. Ich würde ihr gern mal sagen: Mutter, wenn du wüsstest, wie schmerzhaft deine harten Kanten mein Leben in zwei Teile spalten. Ich würde ihr gerne entgegenschreien: Warum liebst du mich nicht? Warum hast du mir das angetan?“
Gut, und was wäre dann anders?, antworte ich.
Würde diese Einscht ihrer Mutter die Vergangenheit wieder gut machen?
„Nein“, sagt sie, „und auch nicht all die Jahre in denen ich um ihre Liebe gekämpft habe. Sie fühlt sie einfach nicht. Nein, nichts wäre anders.“
Also, was nützt Ihnen ihr Wiedergutmachungswunsch?
„Nichts.“
Eine Träne rollt über ihre Wange.
Gut, was könnten Sie sich selbst sagen, damit es ihnen besser geht?, frage ich sie.
Sie schweigt einen Moment.
„Ich könnte mir sagen: Du bist jetzt erwachsen, du kannst dich lösen, von dem, was dich festhält und klein macht. Du kannst aus ihrem Schatten treten, die Vergangenheit sein lassen und dich dem zuwenden, was du sein willst. Du kannst dich selbst gut behandeln. Aber ich kann nicht. Sie soll endlich begreifen, was sie mir angetan hat!“
Doch, Sie können, sage ich.
Sie können es, wenn sie die Bereitschaft dazu haben und die Geduld diesen Weg zu gehen und wenn sie es wirklich wollen. Sie können ihre Wut und ihren Schmerz zulassen, ihre Gefühle fühlen und sie da sein lassen. Sie können ihre Trauer anerkennen und sie da sein lassen. Es ist traurig, es ist schmerzhaft und es ist bedauerlich, was geschehen ist. Ja. Aber es hilft ihnen nicht es weiter geschehen zu lassen und das tun sie, wenn sie weiter gegen etwas kämpfen, was sich nicht ändern lässt. Sie dürfen lernen, sich selbst eine hinreichend gute Mutter zu sein.
„Kann man das?“
Ja, sage ich, man kann. Es wird dauern. Es bedeutet Arbeit, es bedeutet Versöhnung mit uns selbst und mit der eigenen Biografie und wenn das Herz bereit ist: Vergebung.
Indem wir anerkennen: Sie konnte nicht anders. Das bedeutet nicht, dass wir es gutheißen, es bedeutet – wir lassen los von der Illusion einen Menschen ändern zu können. Wir finden Frieden im Herzen.
„Wie soll das denn gehen, verdammt?“
Indem man zuallererst aufhört vom anderen zu erwarten, dass er einen erlöst, auch wenn es die eigene Mutter ist.

"But behind all your stories is always your mother's story, because hers is where yours begins."
―Mitch Albom


Ich wünsche allen Müttern, Töchtern und Söhnen einen friedvollen Muttertag.

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