Donnerstag, 4. Dezember 2014

AUS DER PRAXIS – Das Ende der Verdrängung, oder vom Mut dem eigenen Schatten zu begegenen


Foto: Alexander Szugger

Der Begriff „Schatten" bezeichnet in der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs die Gesamtheit der individuell und kollektiv unbewussten Anteile des Ichs. In allen Kulturen wird der Schatten mit dem Dunklen assoziiert, mit dem Bösen im Menschen, das es zu bändigen gilt. Der Schatten ist ein Persönlichkeitsanteil, den wir vor uns selbst und anderen zu verbergen versuchen weil wir ihn ablehnen, oder weil wir ihn nicht erkennen können, da er tief im Unbewussten vergraben ist. Dennoch ist er da und weil er da ist, gehört er zu unserer psychischen Struktur wie alle anderen Teile unserer Persönlichkeit. 

Ohne den Schatten sind wir nicht ganz. Bleibt er im Dunkel fehlt er uns zur Ganzwerdung.  
Ein Schattenanteil, der nicht bewusst wahrgenommen wird, wirkt in unserem Leben und in unseren Beziehungen, er wirkt auf unser Handeln. Deshalb löst z. B. die Tatsache, dass andere etwas in uns sehen, was wir nicht sehen können, Gefühle der Scham aus, oder aber eine starke Abwehrhaltung. Es gibt Menschen, die so blind für den eigenen Schatten sind, dass sie alles Negative von sich zurückweisen und es auf andere projizieren, nur um dem eigenen Schatten nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Ein Beispiel: Ein Mensch erlebt, dass sich nach und nach die engsten, ihm nahestehenden Menschen von ihm abwenden. Er sucht die Ursache bei den anderen. Er konstruiert Erklärungen, warum die anderen tun, was sie tun, alles um nicht in sein eigenes Dunkel blicken zu müssen. Schließlich behauptet er sogar seinen inneren Frieden gemacht zu haben, obgleich er immer einsamer zu werden droht. Dieser Mann ist nicht bereit die Lerngeschenke, die im das Leben präsentiert zu öffnen und hineinzusehen in die eigenen Abgründe, die unbewusst ins Außen wirken und andere von ihm weg treiben. Er verdrängt seinen Anteil am Geschehen, statt sich auf den Weg zu machen und herauszufinden, was da in ihm selbst ist, was dazu führt, dass sich Menschen von ihm abwenden. Er weigert sich, sich seinem Schatten zu stellen, obgleich seine unselige Wirkung sein Leben mehr und mehr verdunkelt. 

C.G. Jung unterscheidet das Ich vom Selbst. Das Ich vertritt die bewussten Anteile, das Selbst die gesamte Psyche, also auch die unbewussten, dunklen Anteile. Die Gleichung lautet demnach: Ich + Schatten = Selbst. 
Der Weg zum Selbst führt also nach Jung durch den Schatten. Nur wer sich seine Schatten bewusst macht ist bereit zur Selbsterkenntnis und damit bereit die Verantwortung für sich selbst und sein Leben zu übernehmen, und so schließlich ein stabiles Selbst aufzubauen.
 
Wie kommt es dazu, dass wir einen Schatten entwickeln?
Ein Schatten bildet sich immer wenn eine Eigenschaft oder ein Verhalten bereits in der frühen Kindheit bei der Umwelt auf Ablehnung stößt, oder durch eine negative Erfahrung, die für das Kind nicht zu bewältigen ist. Der Schmerz, den dies auslöst, wird abgespalten. Es kommt zur sogenannten Dissoziation. So sind im Schatten alle abgespaltenen Erfahrungen, abgewehrte Triebe, frühkindliche Prägungen und nicht gelebten Persönlichkeitsanteile verborgen und tief ins Unterbewusstsein eingeschlossen. Aber auch unsere Potentiale und kreativen Fähigkeiten ruhen im Schatten und das immer dann, wenn wir sie als Kind nicht leben durften, weil sie im Außen auf Ablehnung oder gar auf Verachtung stießen. Somit ist auch das verletzte innere Kind ein Schattenaspekt unserer Persönlichkeit.

In den Schatten hausen nicht nur unschöne Aspekte unserer Persönlichkeit, sondern auch unsere größten Gaben und Talente.
Energetisch gesehen ist er der Anteil unserer Lebensenergie, der blockiert ist. Blockierte Lebensenergie kann zu verkapselter Wut, diffuser Angst, zu Lähmung und zu Neurosen jeder Art führen. Wir stecken förmlich in einer Rüstung in der Lebensenergie festgehalten wird. So können emotionale Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit nicht frei fließen. Selbstwerdung aber bedeutet auch, dass alle unsere Gefühle frei fließen dürfen, egal ob wir sie als positiv oder negativ bewerten. Jedes Gefühl ist ein Navigator, der uns die Richtung zeigt, und zwar zu dem Menschen hin, der wir im Ganzen sind.

Wenn Gefühle blockiert sind, ist der gesamte Organismus blockiert. Denn alles ist eins und eins wirkt auf das andere. Das ist das Prinzip lebendiger Ganzheit.
Immer dann wenn wir aufhören zu verdrängen und innere und äußere Konflikte nicht vermeiden, sondern sie als Chance begreifen, uns unserer selbst bewusster zu werden, wenn wir bereit sind, unter die Oberfläche des bewussten Ichs zu tauchen, führt uns der Weg hin zur Entdeckung des Schattens. Wenn es gelingt den Schattenanteil nicht nur zu erkennen, sondern ihn zu bejahen als Teil dessen, was wir eben auch sind, kann blockierte Energie wieder fließen.

Verdrängtes bleibt nur im Schatten, weil wir es dort festhalten, aus Angst nicht der zu sein, der wir gern wären, in den eigenen Augen und in den Augen anderer.
Das Leben will sich immer vervollständigen, es will ganz werden. Deshalb schickt es uns immer wieder Lektionen, solange bis wir sie annehmen und daraus lernen. Tun wir das nicht, kommen sie in einer Art history repeating von Lebenserfahrungen oder Begegnungen ähnlicher Stärke und Qualität wieder. Dann stöhnen wir: „Puh, das hatte ich doch schon mal, wieso hört das denn nicht auf?“ Es hört dann auf, wenn wir uns den Lektionen stellen und sie lernen und zwar bewusst und dann unser Verhalten und unsere Handlungsweisen verändern.

Es ist eine Regel, dass die Bewusstmachung des Selbst genau die Konflikte erzeugt, die man durch ihre Unterdrückung und Verdrängung und zu vermeiden versucht.
Erst wenn wir uns die eigene Fehlbarkeit, die eigene Hilflosigkeit, unsere Schwäche und unsere dunklen Anteile vor uns selbst eingestehen, entkommt das Ich der Verblendung, dem  Hochmut und der Selbstüberschätzung.  Nur so kommen wir zu einer demütigen Haltung, in der wir uns dem öffnen, was wir als Mensch auch sind – nämlich nicht so, wie wir gerne wären, sondern eben auch wie wir nicht gerne sind, nämlich unvollkommen. C. G. Jung nennt das den Individuationsprozess, die Selbstwerdung und nach Jung hört sie niemals auf. Aber auch wenn es kein endgültiges Ziel gibt, das Einlassen auf diesen Prozess schenkt uns, so unbequem er auch bisweilen sein mag, Selbsterkenntnis und damit Lebenssinn und Lebensfülle. Solange wir aber die Schatten verdrängen leben wir in der Rüstung und in der Projektion. Alles Verdrängte zeigt sich in Projektionen und schafft sich so im Außen den Feind, dem es sich in Wahrheit im eigenen Inneren stellen müsste – und zwar nicht um ihn, wie in der Projektion, abzulehnen, anzuprangern oder zu bekämpfen, sondern um ihn zu umarmen, als Teil des Selbst.

Viele Menschen verbringen ihr Leben in einem Nebel von Täuschung und Selbstbetrug. Aber die Art und Weise wie man lebt und der Mut sein Wesen verstehen zu wollen, gehören zu einem gelingenden Leben. Deshalb ist Selbsterkenntnis so wichtig. Wer sich selbst einigermaßen erkennt, bei dem klaffen Erleben, Selbstbild und Fremdbild nicht auseinander.  Selbsterkenntnis ist also wertvoll, nicht nur als Quelle innerer Freiheit, sondern auch im Zusammenleben mit Anderen. Die Anderen zu achten und zu verstehen setzt voraus, dass wir uns selbst verstehen und achten mit allem, was uns ausmacht und nicht nur mit unserer Schokoladenseite.  

Je unbewusster ein Mensch sich seiner selbst ist, desto blinder ist er für sich selbst und umso stärker sind die Projektionen, die er macht. Mit einem solchen Menschen lebt es sich schwer, denn er ist selbstgefällig, ungerecht und ignorant. Unfähig seine Schattenanteile bei sich zu lassen stülpt er sie anderen über und er verurteilt andere und zwar genau für das, was er in sich selbst an Unschönem nicht sehen will. Herman Hesse, der bei Josef Bernhard Lang, einem Schüler C.G. Jungs, wegen seiner Depressionen eine Analyse machte, fasst es in seinem, in dieser Zeit verfassten "Demian", in einem Satz zusammen: „Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bilde etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“  

Alles was uns bei anderen aufregt, ärgert oder beschäftigt, verrät uns viel über unseren Schatten. Je stärker die eigene emotionale Betroffenheit, desto sicherer handelt es sich um ein eigenes Thema, das nach Außen projiziert wird und je stärker die Abwehr ist, desto sicherer ist: Das hat etwas mit uns zu tun. Solange wir das nicht begreifen, werden wir alles, wofür wir die Verantwortung nicht übernehmen wollen, auf andere projizieren und dort bekämpfen. 

Immer wenn wir mit dem Finger auf andere zeigen, zeigen wir eigentlich auf uns selbst und ein ungelöstes Schattenthema. Die Psyche tritt mit nichts in Resonanz, mit dem sie kein Thema hat, das nicht in ihr selbst liegt. Oder mit anderen Worten: Unbewusstes erkennt Unbewusstes sofort.
Jedes Mal wenn wir uns über das Verhalten eines anderen Menschen aufregen, sollten wir tief durchatmen und unsere Gefühle ehrlich anschauen um herauszufinden, was wir da im Spiegel des Gegenübers präsentiert bekommen, das uns auf uns selbst zurückwirft und zwar auf das, was wir nicht entwickelt haben oder auf das, was wir beharrlich verdrängen und an uns selbst nicht akzeptieren wollen oder können oder auf das was uns Angst macht. Zugegeben, das ist nicht einfach, denn wenn wir uns entscheiden mit dieser Achtsamkeit und Bereitschaft zur Introspektion durchs Leben zu gehen, werden wir auch dem Schmerz begegnen, der in unserem Schatten verborgen sind. Wir werden unsere Wut spüren, unsere Trauer, unsere Sehnsüchte und unsere Wünsche und Triebe, die verrotten und uns innerlich vergiften, wenn wir sie nicht irgendwann aus dem dunklen Keller der Seele befreien.

Wenn es uns gelingt all das anzuschauen und vor uns selbst zuzulassen, werden wir dazu fähig, die in uns aufkommenden dunklen Gefühle zu spüren, sie anzunehmen und nicht anderen vor die Füße zu werfen, die sie uns angeblich machen
Sicher machen das auch die anderen mit uns, aber sie machen nur das mit uns, wozu wir Resonanz haben. Es trifft immer der Schatten auf einen anderen Schatten. Auch in Beziehungen ist das so. Deshalb gilt hier besonders: Wenn du ein guter Partner sein willst, dann schau erst in dich selbst hinein. Und noch ein hilfreicher Tipp wie die Schattenarbeit gelingt: Immer da, wo wir einen Unterschied feststellen zwischen unserer Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung des Anderen, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass es in unserem Schatten etwas zu erlösen gibt.


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