Foto: Alexander Szugger |
Der Begriff
„Schatten" bezeichnet in der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs
die Gesamtheit der individuell und kollektiv unbewussten Anteile des Ichs. In
allen Kulturen wird der Schatten mit dem Dunklen assoziiert, mit dem Bösen im
Menschen, das es zu bändigen gilt. Der Schatten ist ein Persönlichkeitsanteil,
den wir vor uns selbst und anderen zu verbergen versuchen weil wir ihn
ablehnen, oder weil wir ihn nicht erkennen können, da er tief im Unbewussten
vergraben ist. Dennoch ist er da und weil er da ist, gehört er zu unserer
psychischen Struktur wie alle anderen Teile unserer Persönlichkeit.
Ohne den
Schatten sind wir nicht ganz. Bleibt er im Dunkel fehlt er uns zur Ganzwerdung.
Ein
Schattenanteil, der nicht bewusst wahrgenommen wird, wirkt in unserem Leben und
in unseren Beziehungen, er wirkt auf unser Handeln. Deshalb löst z. B. die
Tatsache, dass andere etwas in uns sehen, was wir nicht sehen können, Gefühle
der Scham aus, oder aber eine starke Abwehrhaltung. Es gibt Menschen, die so
blind für den eigenen Schatten sind, dass sie alles Negative von sich
zurückweisen und es auf andere projizieren, nur um dem eigenen Schatten nicht
ins Gesicht schauen zu müssen. Ein Beispiel: Ein Mensch erlebt, dass sich nach
und nach die engsten, ihm nahestehenden Menschen von ihm abwenden. Er sucht die
Ursache bei den anderen. Er konstruiert Erklärungen, warum die anderen tun, was
sie tun, alles um nicht in sein eigenes Dunkel blicken zu müssen. Schließlich
behauptet er sogar seinen inneren Frieden gemacht zu haben, obgleich er immer
einsamer zu werden droht. Dieser Mann ist nicht bereit die Lerngeschenke, die
im das Leben präsentiert zu öffnen und hineinzusehen in die eigenen Abgründe,
die unbewusst ins Außen wirken und andere von ihm weg treiben. Er verdrängt
seinen Anteil am Geschehen, statt sich auf den Weg zu machen und
herauszufinden, was da in ihm selbst ist, was dazu führt, dass sich Menschen
von ihm abwenden. Er weigert sich, sich seinem Schatten zu stellen, obgleich
seine unselige Wirkung sein Leben mehr und mehr verdunkelt.
C.G. Jung
unterscheidet das Ich vom Selbst. Das Ich vertritt die bewussten Anteile, das
Selbst die gesamte Psyche, also auch die unbewussten, dunklen Anteile. Die
Gleichung lautet demnach: Ich + Schatten = Selbst.
Der Weg
zum Selbst führt also nach Jung durch den Schatten. Nur wer sich seine Schatten
bewusst macht ist bereit zur Selbsterkenntnis und damit bereit die
Verantwortung für sich selbst und sein Leben zu übernehmen, und so schließlich
ein stabiles Selbst aufzubauen.
Wie kommt es
dazu, dass wir einen Schatten entwickeln?
Ein Schatten
bildet sich immer wenn eine Eigenschaft oder ein Verhalten bereits in der
frühen Kindheit bei der Umwelt auf Ablehnung stößt, oder durch eine negative
Erfahrung, die für das Kind nicht zu bewältigen ist. Der Schmerz, den dies
auslöst, wird abgespalten. Es kommt zur sogenannten Dissoziation. So sind im
Schatten alle abgespaltenen Erfahrungen, abgewehrte Triebe, frühkindliche
Prägungen und nicht gelebten Persönlichkeitsanteile verborgen und tief ins
Unterbewusstsein eingeschlossen. Aber auch unsere Potentiale und kreativen
Fähigkeiten ruhen im Schatten und das immer dann, wenn wir sie als Kind nicht
leben durften, weil sie im Außen auf Ablehnung oder gar auf Verachtung stießen.
Somit ist auch das verletzte innere Kind ein Schattenaspekt unserer
Persönlichkeit.
In den
Schatten hausen nicht nur unschöne Aspekte unserer Persönlichkeit, sondern auch
unsere größten Gaben und Talente.
Energetisch
gesehen ist er der Anteil unserer Lebensenergie, der blockiert ist. Blockierte
Lebensenergie kann zu verkapselter Wut, diffuser Angst, zu Lähmung und zu
Neurosen jeder Art führen. Wir stecken förmlich in einer Rüstung in der
Lebensenergie festgehalten wird. So können emotionale Beweglichkeit und
Ausdrucksfähigkeit nicht frei fließen. Selbstwerdung aber bedeutet auch, dass
alle unsere Gefühle frei fließen dürfen, egal ob wir sie als positiv oder
negativ bewerten. Jedes Gefühl ist ein Navigator, der uns die Richtung zeigt,
und zwar zu dem Menschen hin, der wir im Ganzen sind.
Wenn Gefühle
blockiert sind, ist der gesamte Organismus blockiert. Denn alles ist eins und
eins wirkt auf das andere. Das ist das Prinzip lebendiger Ganzheit.
Immer dann
wenn wir aufhören zu verdrängen und innere und äußere Konflikte nicht
vermeiden, sondern sie als Chance begreifen, uns unserer selbst bewusster zu
werden, wenn wir bereit sind, unter die Oberfläche des bewussten Ichs zu
tauchen, führt uns der Weg hin zur Entdeckung des Schattens. Wenn es gelingt
den Schattenanteil nicht nur zu erkennen, sondern ihn zu bejahen als Teil
dessen, was wir eben auch sind, kann blockierte Energie wieder fließen.
Verdrängtes
bleibt nur im Schatten, weil wir es dort festhalten, aus Angst nicht der zu
sein, der wir gern wären, in den eigenen Augen und in den Augen anderer.
Das Leben will
sich immer vervollständigen, es will ganz werden. Deshalb schickt es uns immer
wieder Lektionen, solange bis wir sie annehmen und daraus lernen. Tun wir das
nicht, kommen sie in einer Art history repeating von Lebenserfahrungen
oder Begegnungen ähnlicher Stärke und Qualität wieder. Dann stöhnen wir: „Puh,
das hatte ich doch schon mal, wieso hört das denn nicht auf?“ Es hört dann auf,
wenn wir uns den Lektionen stellen und sie lernen und zwar bewusst und dann
unser Verhalten und unsere Handlungsweisen verändern.
Es ist eine
Regel, dass die Bewusstmachung des Selbst genau die Konflikte erzeugt, die man
durch ihre Unterdrückung und Verdrängung und zu vermeiden versucht.
Erst wenn wir
uns die eigene Fehlbarkeit, die eigene Hilflosigkeit, unsere Schwäche und
unsere dunklen Anteile vor uns selbst eingestehen, entkommt das Ich der
Verblendung, dem Hochmut und der
Selbstüberschätzung. Nur so kommen wir
zu einer demütigen Haltung, in der wir uns dem öffnen, was wir als Mensch auch
sind – nämlich nicht so, wie wir gerne wären, sondern eben auch wie wir nicht
gerne sind, nämlich unvollkommen. C. G. Jung nennt das den Individuationsprozess,
die Selbstwerdung und nach Jung hört sie niemals auf. Aber auch wenn es kein
endgültiges Ziel gibt, das Einlassen auf diesen Prozess schenkt uns, so
unbequem er auch bisweilen sein mag, Selbsterkenntnis und damit Lebenssinn und
Lebensfülle. Solange wir aber die Schatten verdrängen leben wir in der Rüstung
und in der Projektion. Alles Verdrängte zeigt sich in Projektionen und schafft
sich so im Außen den Feind, dem es sich in Wahrheit im eigenen Inneren stellen
müsste – und zwar nicht um ihn, wie in der Projektion, abzulehnen, anzuprangern
oder zu bekämpfen, sondern um ihn zu umarmen, als Teil des Selbst.
Viele
Menschen verbringen ihr Leben in einem Nebel von Täuschung und Selbstbetrug. Aber die Art und Weise wie man lebt
und der Mut sein Wesen verstehen zu wollen, gehören zu einem gelingenden Leben.
Deshalb ist Selbsterkenntnis so wichtig. Wer sich selbst einigermaßen erkennt,
bei dem klaffen Erleben, Selbstbild und Fremdbild nicht auseinander. Selbsterkenntnis
ist also wertvoll, nicht nur als Quelle innerer Freiheit, sondern auch im
Zusammenleben mit Anderen. Die Anderen zu achten und zu verstehen setzt voraus,
dass wir uns selbst verstehen und achten mit allem, was uns ausmacht und nicht
nur mit unserer Schokoladenseite.
Je unbewusster
ein Mensch sich seiner selbst ist, desto blinder ist er für sich selbst und
umso stärker sind die Projektionen, die er macht. Mit einem solchen Menschen
lebt es sich schwer, denn er ist selbstgefällig, ungerecht und ignorant.
Unfähig seine Schattenanteile bei sich zu lassen stülpt er sie anderen über und
er verurteilt andere und zwar genau für das, was er in sich selbst an Unschönem
nicht sehen will. Herman Hesse, der bei Josef Bernhard Lang, einem Schüler C.G.
Jungs, wegen seiner Depressionen eine Analyse machte, fasst es in seinem, in
dieser Zeit verfassten "Demian", in einem Satz zusammen: „Wenn
wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bilde etwas, was in uns
selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“
Alles was uns
bei anderen aufregt, ärgert oder beschäftigt, verrät uns viel über unseren
Schatten. Je stärker die eigene emotionale Betroffenheit, desto sicherer
handelt es sich um ein eigenes Thema, das nach Außen projiziert wird und je
stärker die Abwehr ist, desto sicherer ist: Das hat etwas mit uns zu tun.
Solange wir das nicht begreifen, werden wir alles, wofür wir die Verantwortung
nicht übernehmen wollen, auf andere projizieren und dort bekämpfen.
Immer wenn wir
mit dem Finger auf andere zeigen, zeigen wir eigentlich auf uns selbst und ein
ungelöstes Schattenthema. Die Psyche tritt mit nichts in Resonanz, mit dem sie
kein Thema hat, das nicht in ihr selbst liegt. Oder mit anderen Worten:
Unbewusstes erkennt Unbewusstes sofort.
Jedes Mal wenn
wir uns über das Verhalten eines anderen Menschen aufregen, sollten wir tief
durchatmen und unsere Gefühle ehrlich anschauen um herauszufinden, was wir da
im Spiegel des Gegenübers präsentiert bekommen, das uns auf uns selbst
zurückwirft und zwar auf das, was wir nicht entwickelt haben oder auf das, was
wir beharrlich verdrängen und an uns selbst nicht akzeptieren wollen oder
können oder auf das was uns Angst macht. Zugegeben, das ist nicht einfach, denn
wenn wir uns entscheiden mit dieser Achtsamkeit und Bereitschaft zur
Introspektion durchs Leben zu gehen, werden wir auch dem Schmerz begegnen, der
in unserem Schatten verborgen sind. Wir werden unsere Wut spüren, unsere
Trauer, unsere Sehnsüchte und unsere Wünsche und Triebe, die verrotten und uns
innerlich vergiften, wenn wir sie nicht irgendwann aus dem dunklen Keller der
Seele befreien.
Wenn es uns
gelingt all das anzuschauen und vor uns selbst zuzulassen, werden wir dazu
fähig, die in uns aufkommenden dunklen Gefühle zu spüren, sie anzunehmen und
nicht anderen vor die Füße zu werfen, die sie uns angeblich machen.
Sicher machen
das auch die anderen mit uns, aber sie machen nur das mit uns, wozu wir
Resonanz haben. Es trifft immer der Schatten auf einen anderen Schatten. Auch
in Beziehungen ist das so. Deshalb gilt hier besonders: Wenn du ein guter
Partner sein willst, dann schau erst in dich selbst hinein. Und noch ein hilfreicher
Tipp wie die Schattenarbeit gelingt: Immer da, wo wir einen Unterschied
feststellen zwischen unserer Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung des
Anderen, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass es in unserem Schatten
etwas zu erlösen gibt.
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