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„Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben“, schreibt André Gide. „Die Wahrheit ist etwas, das gesagt wird, nicht etwas, das gewusst wird“, schreibt Susan Sonntag. Und der chinesische Philosoph Zhuangzi konstatiert: „Niemand ist weiter von der Wahrheit entfernt als derjenige, der alle Antworten weiß.“
Wohltuend weise, finde ich, diese Gedanken kluger Menschen.
So ganz im Gegensatz zu Aussagen und Behauptungen der selbsternannten Allwissenden, Erwachten und Erleuchteten, die meinen, sie hätten die Wahrheit gefunden und wüssten wo es lang geht mit der Menschheit und dem Lauf der Welt. Und wer ihnen keinen Glauben schenkt, schläft, gehört zur dunklen Seite der Macht oder rennt gar ins Verderben. Das Internet ist voll von Wissenden, Propheten, Kassandras und HeilerInnen, die anderen ihre Wahrheiten erfolgreich als das Absolute verkaufen und damit Geld machen.
Da kommt mir Paul Watzlawik in den Sinn: "Wie ich bereits sagte, ist der Glaube, dass die eigene Sicht auf die Realität die einzige Realität ist, die gefährlichste aller Wahnvorstellungen. Noch gefährlicher wird es, wenn es mit dem missionarischen Eifer einhergeht, den Rest der Welt aufzuklären, ob der Rest der Welt aufgeklärt werden möchte oder nicht. Sich zu weigern, eine bestimmte Definition der Realität voll und ganz anzunehmen, sich zu trauen, die Welt anders zu sehen, kann zu einem „Denkverbrechen“ im wahrhaft orwellschen Sinne werden, je näher wir dem Jahr 1984 kommen."
Worauf basiert der Erfolg jener, die meinen, sie besäßen die absolute Wahrheit und was hilft ihnen, diese geschickt und manipulativ an den Mann und die Frau zu bringen?
Es ist das grundlegenden Bedürfnis der Menschen nach Wahrheit. Ein Bedürfnis, das darauf ausgerichtet ist Sicherheitsempfinden herzustellen in einer Welt in der erfahrungsgemäß nichts sicher ist und die immer mehr verunsichert.
Was ist eigentlich Wahrheit?
Wahrheit wird im Wörterbuch als „das Wahrsein, die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird, Richtigkeit, wirklicher, wahrer Sachverhalt, Tatbestand definiert.
Bei Aristoteles lesen wir: „Wahrheit ist Übereinstimmung zwischen Realität und Intellekt.“ Und Kant postuliert: „Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstande.“
Höchst kompliziert, das mit der Wahrheit. Und je weiter ich nach Defintionen suchen würde, desto komplizierter würde es werden, das mit dem Wahrheitsbegriff.
Es gibt Wahrheit im Sinne von Tatsachen-Wahrheiten, z.B. dass es Tag und Nacht gibt, dass wir atmen müssen um nicht zu ersticken, dass wir alle sterben müssen. Wir wissen, dass es so ist, und wer etwas anderes behauptet, sagt definitiv die Unwahrheit. Es gibt Gesetze der Wissenschaft, beweisbare Wahrheiten der Physik, Realitäten, die bestimmen, was wahr ist und was nicht. Würden wir all das anzweifeln, würde uns das Chaos überrollen.
Es gibt die Wahrheiten von religiösen, spirituellen, esoterischen und weltanschaulichen Überzeugungen. Auch in der Philosophie ist die Wahrheit ein großes Thema. Es gibt Wahrheiten, die nach unserer Erfahrung wahr sind und wir halten für wahr, was wir in der wirklichen Welt sehen. Ein Baum ist ein Baum, ein Tisch ist ein Tisch usw.
Aber gibt es die wahre Realität oder nur das, was wir selbst als Realität wahrnehmen und annehmen, also subjektives Wahrheitsempfinden? Es gibt eine Vielfalt des Wahrheitsbegriffs und es gibt eine Vielfalt von Wahrheitsansprüchen, aber existiert so etwas wie absolute, universelle Wahrheit?
Die Suche danach begleitet uns Menschen seit der Antike. Allen voran Platon, der Wahrheitssucher, der in den Gesprächen mit seinem Lehrer Sokrates im Kern die Unterscheidung von bloßer Meinung und eigentlicher Wahrheit herausfinden wollte. Sokrates Ziel war, den Menschen zur eigenen Einsicht führen. Er glaubte, nur eine Erkenntnis, die von innen, also aus dem inneren Gefühl des Menschen kommt, ist wirklich eine Einsicht. Da kommt mir ein Gedicht von Christian Morgenstern in den Sinn:“ Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“, steht dort in einer Zeile.
… Hin zur eigenen Wahrheit, könnte man hinzufügen.
Und auch die ist dann möglicherwiese nur eine relative Wahrheit. Das Relative impliziert das Unvollkommene und den Vergleich. In der Philosophie ist der Relativismus jene Position, die besagt, dass die Wahrheit jeder Behauptung variabel ist und immer abhängig von den Umständen und den Personen.
Wenn es also so etwas wie die absolute Wahrheit nicht gibt, existiert letztlich nichts Richtiges und nichts Falsches über irgendetwas in dieser Welt.
„Ich bin mir in nichts sicher“, schrieb Carl Gustav Jung am Ende seines Lebens. „Ich weiß, dass ich nichts weiß,“ sagt der weise Sokrates zu Platon.
Vorsicht also vor denen, die behaupten, sie hätten die Wahrheit gefunden. Dann eher so: „Großer Zweifel, große Erleuchtung."
- Tokuda Rinsai
Übrigens, was meine Wahrheitssuche angeht, bin ich bei Peter Sloterdijk: „Wer einen Weg zu sich selbst sucht, träumt von einem Zustand, in dem er sich selbst ertrüge. Daher ist keine Suche nach dem wahren Selbst eine theoretische; die Suche entspringt dem Drang des Lebendigen nach einer Wahrheit, die unerträgliches Leben erträglich macht.“
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