Freitag, 11. Februar 2022

Aus der Praxis - Corona und Traumata - Psyche im Notstand

 



Gestern erhielt ich eine Mail mit der Frage: Was machen Menschen, die ein Trauma erlebt haben und nun noch das ewige Thema Corona und die Isolierung haben?
Ich versuche hier eine Antwort zu geben, hilfreiche Impulse zu geben und Möglichkeiten aufzuzeigen, die Traumatisierten helfen können, besser zurecht zu kommen. Grundsätzlich aber gilt: Allein kann man ein Traumata schlecht bewältigen.
 
Corona mitsamt den Maßnahmen ist für fast alle Menschen eine seelische Herausforderung und eine Belastung, die die Psyche unter Stress setzt. Zeitweiliger Stress ist zu verkraften, Dauerstress allerdings macht krank. Dauerstress schadet unserer Seele, unserem Immunsystem und unserem Geist. Viele Menschen sind dünnhäutiger geworden. Ihre Wahrnehmung ist eingeengt, Affekt- und Impulskontrolle sind schlechter regulierbar, die Selbstwirksamkeitsempfindung, sprich das Gefühl, das eigene Leben im Griff zu haben, leidet.
Viele Menschen klagen über Schlaf-und Essstörungen, depressive Verstimmungen, Ängste und Erschöpfungssymptome, Unter- oder Übererregungszustände und psychosomatische Beschwerden. Krankheitsangst, Angst- und Zwangsstörungen, Süchte und Depressionen können sich verstärken. Hilfe ist schwer zu finden - die Praxen von Therapeuten und Psychiatern sind überlaufen. Die Wartezeit beträgt Monate. 
 
Viele Menschen leiden zunehmend an Isolation und Einsamkeit.
Auch die Normen und Werte haben sich verändert: Äußerer und innerer Rückzug, Kontaktvermeidung anstatt soziales Miteinander sind an der Tagesordnung. Das Social Distancing verhindert Stressregulation durch Bindung und Nähe. Aus Nähe wird Distanz. Aus Empathie, Fürsorge und Nächstenliebe wird Selbstbezogenheit und Egoismus. Aus Respekt und Wertschätzung wird Verurteilung, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Aus Freunden werden verbitterte Gegner, Beziehungen zerbrechen und sogar in Familien kommt es zu Spaltungen. Unser soziales Miteinander zerbröselt. 
 
Diese Krise hat ein hohes traumatisierendes und traumareaktivierendes Potential, individuell und kollektiv.
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma kennzeichnet sich durch ein existenzbedrohliches Ereignis, das ohnmächtig macht, weil man weder fliehen noch kämpfen kann. Trauma führt zu einem überwältigendem Gefühl von Hilflosigkeit, Angst und Entsetzen. Es kommt zu einem grundlegenden Verlust des Nervensystems, Erregungszustände zu regulieren. Trauma ist eine Wunde im Selbst. Es vollzieht sich ein Bruch zu sich selbst, zum Leben und zum Mitmenschen. Entscheidend aber ist nicht das Ereignis selbst, sondern unsere emotionale Reaktion auf das Ereignis.
Bei manchen Traumatisierten kommt es zum Steckenbleiben des Nervensystems auf „Aus“.
Die Folgen sind:
Depressionen, Ängste, Erschöpfung, Rückzug, Selbstisolation, Hilf-und Machtlosigkeit, verringerte emotionale Reaktionen, verringerte Stresstoleranz, tiefe Sorge, Rückzug, Wut, Hilflosigkeit, Überwachheit, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit. Dazu kommen u.U. Dissoziationssymptome wie Benommenheit, Verwirrtheit, Verzerrung der (Selbst-)Wahrnehmung, Gefühl von Isolation, Leere, Apathie, den eigenen Körper schlecht spüren, Hochsensibilität – also vieles, was auch nicht Traumatisierte in dieser Zeit erleben können – nur, dass genau dieses emotionale Erleben bei Traumatisierten zu einer Retraumatisierung führen kann. 
 
Was können diese Menschen tun?
Das Wichtigste ist, den Stress zu regulieren.
Wir wissen, dass Traumata Nachwirkungen haben. Traumatische Erfahrungen verändern die Wahrnehmung und die Orientiertheit im Jetzt, weil sich immer wieder alte Erinnerungen über die Gegenwart schieben. Es kommt durch kleinste Auslöser und Reize, die an das Trauma erinnern, zu Flashbacks, einem zwanghaften Erinnern, dass den Traumatisierten wie in Trance nach hinten zieht. Dies führt dazu, dass das Jetzt und das Damals nicht mehr gut zu unterscheiden sind.
Achtsame Körperwahrnehmung reduziert emotionalen Stress und hat eine Vielzahl positiver Auswirkungen.
Daher ist alles hilfreich, was die Wahrnehmung auf das hier und jetzt lenkt: Atemübungen, Achtsamkeitsübungen, der Body Scan, Progressive Muskelentspannung, aber auch Imaginationsübungen nach Louise Reddemann wie z. B. die Visualisierung und Verankerung im Jetzt mit Hilfe des „Sicheren Inneres Ortes“.
Eine wirksame Notfallmaßnahme ist die Ausatemstopptechnik. Man atmet tief aus und hält dann vor dem nächsten Einatmen die Luft an.
Auch Bewegung jeder Art ist hilfreich.
Es ist sehr wichtig, „geerdet“, also auf die Sinne, den Körper und die Gegenwart bezogen zu sein. Auch dazu gibt es Übungen, welche die meisten Traumatisierten aus der Traumatherapie kennen.
Viele Traumatisierte haben einen Notfallkoffer. An den gilt es sich zu erinnern und ihn zu nutzen.
Um Dinge aus der Vergangenheit oder Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft zu verarbeiten, hilft das Tagebuchschreiben.
Auch Wissen hilft: Nämlich das Wissen um das Stressphänomen als normale Reaktionen auf unnormale Erlebnisse und als Reaktion, der man nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern gegen die man etwas tun kann. In der Traumarbeit nennt man das Psychoedukation.
Während und nach bedrohlichen Ohnmachtserfahrungen fühlt man sich unsicherer und hilfloser, als man es wirklich ist. Man verliert den Blick für den Selbstwert, die Selbstwirksamkeit und den eigenen Handlungsspielraum. Dies gilt es sich zurückzuerobern.
Dazu ist alles hilfreich, was hilft, sich wirksam zu fühlen.
 
Es ist hilfreich zu erkennen und zu verinnerlichen, was man alles schafft.
Sich zu fragen: Wo kann ich sehen, was ich schaffe und sich das bewusst zu machen, am Besten indem man es aufschreibt.
Es ist wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, was man kann.
Traumatischer Stress kann einsam machen. Er beeinträchtigt die Fähigkeit sich in der Gegenwart anderer Menschen sicher, geborgen und wohl zu fühlen. In Corona-Zeiten wird das verstärkt, denn der andere ist ja eine potentielle Gefahr – man kann sich anstecken. Dennoch ist es gerade auch für traumatisierte Menschen wichtig trotzdem in Kontakt zu gehen und zu bleiben. Sicherheit entsteht durch Bindungspersonen.
Verbundenheit zu erfahren ist auch ohne körperlichen Kontakt möglich. Spazierengehen auf Abstand, ein Kaffee draußen, virtueller Kontakt mit Bezugspersonen, all das ist möglich und sollte genutzt werden.
Wer aber alleine nicht mehr klarkommt, sollte sich unbedingt Hilfe suchen. Psychiatrische Ambulanzen haben durchgehend geöffnet. 
 
Wer meine Unterstützung möchte: Ich bin da.
Kontakt: aw@wende-praxis.de
 
Zum Schluss noch ein Buchtipp: "Trauma-Heilung: Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren: Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrung zu transformieren."
Peter Levine

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