Sonntag, 20. Januar 2019

Vergiss, vergiss ...




Foto: Lucas Wende

Vergiss, vergiss ...
Die Vergangenheit. Ein großes Thema.

Immer wieder lese und höre ich, dass wir die Vergangenheit vergessen sollen. Zumindest das, was an schlechten Erinnerungen mit dieser Vergangenheit verknüpft ist. Vergessen, das Zauberwort für das bis heute kein Zaubertrank erfunden wurde. Nein, diesen Zaubertrank gibt es nicht und auch kein anderes Mittel, das uns vergessen lässt, außer Bruder Schlaf. Und auch im Schlaf legen sich Bilder der Vergangenheit in unsere Träume, die wir, erinnern wir uns beim Erwachen an die Bilder der Nacht, in unser neues Morgen mit hinüber nehmen.

Alzheimer, die Krankheit des Vergessens, ist der Weg, den die Seele wählt, um die Vergangenheit Stück für Stück, Jahr um Jahr, ins Dunkel des Vergessens zu rücken. Aber wer von uns will schon eine Krankheit erleiden nur um endlich zu vergessen was schmerzt?
Die Wahrheit ist, solange wir leben, lebt unsere Vergangenheit mit uns, in uns, aus uns heraus. Wie ein Subtext liegt sie unter dem Jetzt, oder darüber wie eine schwere Decke. Sie legt sich zu unserer Zukunft. Manchen Menschen macht sie sogar das Hineindenken in eine bessere Zukunft unmöglich.

Vergiss, vergiss ...
Vergessen geht nicht. Es will nicht gehen. Über das Vergessen hat der Mensch keine Macht. Auch wenn die Mode glaubt, die Macht der Gedanken wäre zu allem fähig, sie ist es nicht. Die Gedankenmacht der Vergangenheit ist um ein vielfaches stärker als die bewusste Gedankenkraft. Sie schleichen sich ein, die Splitter des Gestern, unterwandern die Gedankenkraft, legen sich als unbewusste Gedanken hinter gewollt gedachte Gedanken und haben eine immense Wirkung bis ins Bewusstsein hinein und damit wirken sie auf unser Leben.


Warum wundern sich viele Menschen, wenn sie sich immer wieder, Kraft der Gedanken, eine Vision ins Leben rufen, alles dafür tun und diese sich seltsamerweise dann doch nicht erfüllt?
Womöglich stelllen sie fest, wenn sie ehrlich zu sich selbst sind - vergessen geht nicht. Die Vergangenheit kriecht von unten nach oben, immer wieder, ganz gleich, was wir dagegen zu setzen versuchen. Wir sind machtlos gegen die Sequenzen des Vergangenen. Machtlosigkeit, etwas, das der Mensch nur schwer anzuerkennen bereit ist, dass er aber um seines Seelenheil Willens lernen könnte.
Bisweilen sind sie Gedanken an die Vergangenheit so mächtig, dass sie uns in Ohnmacht versetzen können. Schwer traumatisierte Menschen kämpfen ihr Leben lang mit der Vergangenheit. Sie quälen sich mit dem vergessen Wollen, weil die Qual der Erinnerung ihr Leben zu einem Dauerleiden macht.
Das Gehirn und die Seele verweigern sich dem Vergessen.

Der Ansatz der Psychoanalyse, wir müssten die Vergangenheit bis zum Urgrund aufarbeiten ist ein überwältigender Gedanke. Vergangenheitsbewältigungsarbeit ist schmerzhaft und bedarf eines jahrelangen Prozesses, sie bedarf unendlich vieler Sitzungen, die Altes wieder aufwühlen, unser Jetzt mit Altem überfluten und es verzerren, denn das damals gefühlt Erlebte vermischt sich mit dem heute Gefühlten und dem heutigen Erleben. Das lässt Eindeutigkeit und Klarheit schon von daher nicht zu. Es ist als würde man die Gegenwart zu einer Wippe machen, auf der das Alte und das Neue um das Oben kämpfen. So werden wir nicht in die Balance kommen. Das ist anstrengend und zeitraubend. Erlösung eine Möglichkeit und keine Garantie. Auf diese Weise wühlen wir uns wie ein Maulwurf gleich unter die eigene Erdung, zurück in den Schmerz, den wir doch so gerne weg haben wollen. Wir bohren in der Wunde, die unsere Seele schließen will oder sogar längst geschlossen hat. Wir reißen sie auf, die Wunde und am Ende fließt frisches Blut.

Ist das sinnvoll? 

Was, wenn wir vergessen würden, vergessen zu wollen?
Was wäre, wenn wir uns das Ganze einmal anders anschauen würden, auch wenn es schwer ist? Was wäre, wenn wir eine Beobachterhaltung einzunehmen versuchen, wenn wir den Schritt wagen würden herauszutreten aus dem eigenen Sumpf, um von Oben auf das Vergangene zu schauen?

Was, wenn wir sagen würden: Ja, das ist meine Vergangenheit und ja da fühlt sich manches noch heute schmerzhaft an. Ich bedaure das, aber alles, was mir widerfahren ist, ist ein Teil dessen, was mich zu dem Menschen macht, der ich jetzt bin. Ein Mensch, der auch gelitten hat, der aber immer noch da ist, der am Leben ist, mitsamt dieser Erfahrungen. Ein Mensch, der das alles geschafft hat, trotz der Narben und Wunden, die nicht verheilen wollen, oder gerade wegen dieser Narben? Was, wenn wir sagen würden: Meine Vergangenheit ist ein Segen. 

Was wäre anders?
Wir geben den sinnlosen Widerstand auf, der uns nur weiter leiden lässt. Wir akzeptieren was war und hören auf uns damit zu identifizieren.
Aus dem Nein zum Gewesenen Wunden würde ein akzeptierendes Ja.
Ein segnendes Ja.
Ein Segen, der uns erstaunliche Dinge gelehrt hat, uns tiefste Gefühle hat fühlen lassen. Ein Segen, der uns neben all dem Unguten auch wertvolle Erfahrungen, Lektionen und Botschaften geschenkt hat. Unsere Wunden und unser Schmerz sind unsere größten Lehrer, wenn wir bereit sind sie als solche zu erkennen und anzunehmen.

Alle unguten Erfahrungen führen uns an Orte an die wir freiwillig niemals gegangen wären, sie führen uns unter die Oberfläche des Oberflächlichen, hinab in die Tiefe des Lebens, wo es dunkel ist und schmerzhaft und angstmachend.
Und das soll ein Segen sein? Ja, für mich ist es das. Wenn wir fähig sind diese Sicht der Dinge zulassen erkennen wir - wir sind zwar dort gewesen im Dunkel, aber wir sind da durchgegangen. Wir waren stark und mutig, trotz unserer Schwäche, trotz unserer Angst und trotz dem Schmerz. Wir haben überlebt, wir sind er wachsen.
Wir sind tiefer geworden und wir haben die Gabe gewonnen andere zu fühlen und zu verstehen, die auch in der Tiefe des Dunklen waren und aus ihr herausgestiegen sind.Wir wissen sogar wie das geht.

Sollten wir das vergessen? 

Oder könnten wir, als der weise Beobachter unserer Vergangenheit, sagen: Ja, da ist zwar etwas, was ich mir nicht gewünscht habe, etwas, das ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen würde, aber ich habe es erfahren, um der Mensch zu werden, der ich jetzt bin.

Möglicherweise hat unsere Seele all das erfahren wollen. Die Seele weiß mehr als das kleine Ich. Sie ist der Ort an dem die Liebe wohnt, die Erkenntnis, die Wahrhaftigkeit und die Weisheit. Sie ist der Ort in uns, den kein Forscher jemals gefunden hat und wohl niemals finden wird. die Seele lässt sich nicht greifen, aber sie begreift uns und alles Sein, über die Vergangenheit, das Jetzt und die Zukunft hinaus.
Vergiss, vergiss ... kennt die Weltenseele nicht.

4 Kommentare:

  1. vielleicht gehört es zur Gnade, wenn man durch seinen tiefen Schmerz hindurch muss, dass der Mensch dann in einen Kontakt mit etwas Ursprünglichem kommt; dass ihm dann eine Erfahrung geschenkt wird, die ihn erahnen lässt, dass, wenn alles zerbricht, etwas da ist, dass ihn trägt. Um einen Menschen zu zitieren, der als Therapeut arbeitet: dann kommt unten das Nichts, und das Nichts ist dann nicht mehr nichts, sondern hat eine (er)tragende Qualität.

    Alles Gute und Grüße,

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  2. Ich freue mich über diesen Text, habe ich doch endlich verstanden, dass ich nur in der Gegenwart ändern kann was mich stört. Was geschehen ist, wird so bleiben, nur meine Gedanken zu dem Erlebten kann ich ändern. Es hilft nicht die Angst und den Zorn immer wieder zu betrachten,es ist gewesen. Sehen was nun ist führt weiter.

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