Sonntag, 25. Juli 2010

Die Blumen des Bösen unserer Zivilisation



Wenn nichts mehr hilft, sperren wir sie weg! So sieht er aus, der Lösungsansatz der deutschen Politiker gegen die steigende Kriminalitätsrate unter Kindern und Jugendlichen.
Der Sprecher der SPD-Innenminister, Berlins Innensenator Ehrhart Körting unterstützt den Vorstoß seiner Unions-Kollegen. „Heime, in denen die Kinder kommen und gehen können, wie sie wollen, sind völlig sinnlos“ Dem schließt sich Reinhard Grindel, Innenexperte der Unions-Bundestagsfraktion, an: “Falls alles nichts mehr hilft, dann sollte man junge Täter zum Schutz der Bevölkerung auch wegschließen.“ 
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, sieht die geschlossenen Heime sogar als einzige reelle Maßnahme. „Untersuchungshaftanstalten mit Krabbelecken für Zwölfjährige sind ja wohl keine Alternative.“ Freiberg fordert auch Konsequenzen für Eltern, die ihre Aufsichtspflicht verletzen. „Ihnen sollten die Sozialleistungen, die sie für die Kinder erhalten, gekürzt werden.“
Laut Kriminalstatistik gab es im vorigen Jahr 96.627 Tatverdächtige im Alter von acht bis 14 Jahren. Also weg mit den „bösen“ Kindern, wegsperren in Heime, die höchstwahrscheinlich keiner dieser Politiker je von innen gesehen hat. Ich habe sie gesehen, einige. Und ich habe die Betreuer in diesen Heimen erlebt, einige. Sie sind schlichtweg überfordert mit all den Kindern und Jugendlichen, die lange bevor sie im Käfig Heim landen im Käfig einer Gesellschaft lebten, die die Bedürfnisse ihrer Seelen nicht wahrnimmt. Längst wissen wir, dass nicht nur eine hohe Zahl der jugendlichen Straftäter, die im Knast landen, wieder straffällig werden, nachdem sie draußen sind. Wer heute tatsächlich noch an eine Sozialisierung durch Gefängnisse oder Heime glaubt ist entweder dumm, oder schlicht ignorant. Ich tippe auf Letzteres.
Wie immer in unserer Gesellschaft wird am Symptom herum gedocktert. Das ist billiger, weniger anstrengend und vor allem weniger Zeit aufwendig als nach der Ursache zu suchen und diese in einem dauerhaften Prozess nachhaltig zu "behandeln". Aber wer will denn schon der Ursache auf den Grund gehen, da würde sich ja im Zweifel so etwas wie Kausalität und Verantwortlichkeit finden lassen - und verantwortlich - das sind wir doch nicht. Wir selbst, unser Kollektiv, verantwortlich für das Böse da draußen? Unvorstellbar, wo kommen wir denn da hin?
Eine Kultur, die den Verstand verherrlicht und den Wert und die Wichtigkeit von Gefühlen unterdrückt, die das eigene „Böse“ verdrängt und ins Außen projiziert, wird niemals Verantwortung übernehmen. Denn dann müsste man ja Fehler korrigieren.
 
Wir leben in einer Law and Order Gesellschaft. Aus zehn Geboten sind Millionen von Gesetzen und Verboten geworden um das Böse in Schach zu halten. Verschwunden ist es deshalb nicht. Es zeigt sich mit weit aufgerissenem Rachen in einer Gesellschaft dereen beherrschendes Grundgefühl es ist nicht zu versagen. Das Streben nach Sicherheit, nach Ansehen, nach Macht und Geld führt dazu, dass der Mensch von Kindesbeinen an zum Funktionieren erzogen wird. Versagen ist tödlich in einer Gesellschaft, die für Versager keinen Platz hat, absurderweise aber immer mehr von diesen „Versagern“ produziert.
Das Streben nach Erfolg und Macht schließt Menschlichkeit und Mitgefühl aus. 
Der Gedanke im Wettbewerb nicht unterzugehen, das Ziel nicht zu versagen ist der Nährboden für die Angst. Angst vor der Ohmacht, Angst nicht mehr mithalten zu können, Angst vor dem Verlust der Arbeit, Angst vor dem Verlust einer scheinbaren Sicherheit. Angst lähmt. Da wo sie nicht als Warnsystem für das nackte Überleben Sinn macht ist sie destruktiv. Angst nimmt dem Menschen die Möglichkeit sich zu entwickeln, die eigene Identität zu leben, kreativ zu sein und Emotionen zu zeigen. Der moderne Mensch orientiert sich an den Parametern der Masse, er strebt nach diesen und das führt zum Verlust von Empathie.
Wer nur sich selbst sieht, wer immer seinen eigenen Erfolg im Auge hat wird blind für den Nächsten und fatalerweise auch blind für die eigenen emotionalen Bedürfnisse. Damit wird er folgerichtig blind für die eigenen Kinder, deren Wünsche und Bedürfnisse.
Das Streben nach Erfolg, das wir fälschlicherweise für Selbstverwirklichung halten, vermittelt das illusionäre Gefühl von Lebendigkeit. Ein schnelles Auto, eine schicke Wohnung, ein teurer Urlaub vermitteln Lebensfreude und Lebensqualität. Beziehungen werden mehr und mehr unter dem Aspekt des Nutzens gelebt und nicht aus dem Bedürfnis heraus sich erwartungslos zu verbinden. Liebe ist ein Konsumgut geworden, das wir zwar alle verzweifelt suchen, aber nicht mehr als Geben begreifen oder als oberstes Ziel unseres Seins verstehen. Lieben lenkt ab vom Funktionieren, macht weich, wo Härte gefragt ist.
Unsere Kultur ist reduziert auf den ökonomischen Imperativ. 
Das menschliche Verhalten wird so zu einem Rollenspiel in dem schöpferische Impulse gebremst und vernichtet werden. In einem Kontext wo es um Streben und Kontrolle geht ist kein Platz für authentische Selbstverwirklichung und schon gar nicht für Individualität. Es geht ums Überleben und nicht ums Erleben, nicht um ein „sich selbst erleben“. Kampf ist angesagt, denn nur der Stärkere überlebt - ein Gift, das wir unseren Kindern schon früh injezieren, weil wir längst nicht mehr wissen wer und was wir eigentlich sind. Menschen nämlich, mit Gefühlen und der Anlage zu wissen, was ein Mensch sein könnte. Das Streben nach Mehrwert und Überschuss verändert das Sein. Das Mehrwertprinzip kennzeichnet diese Zivilisation. Anstatt Empathie ist der Verstand das Mittel der Wahrnehmung, der unbewusste Drang ist der Drang nach Macht, das Ziel ist das Beherrschen Anderer mit starrem Blick auf die Anhäufung privaten Eigentums. Die Beziehung zu uns selbst und zum Mitmenschen ist von Konkurrenz- und Feinddenken bestimmt. Das eigene Ziel versinkt im Ziel der Masse. Erwartungen müssen erfüllt werden und Gehorsam gehört zum Leben. Fatal, denn Gehorsam erzeugt Unlust und Frust.
Erziehung sollte nicht als oberstes Prinzip Gehorsam lehren, sondern auch, wie man Unsicherheit erlebt und damit umgeht. Unsere Gesellschaft aber erklärt Unsicherheit zu Schwäche.
Kinder brauchen um seelisch zu überleben Liebe, Geborgenheit, Vertrauen und Schutz und sie brauchen das Gefühl in ihrer Individualität wahrgenommen und geachtet zu werden. Die Erwachsenen von heute sind viel zu sehr damit beschäftigt selbst zu funktionieren, als dass ihnen die Zeit für echte Zuwendung bleibt. Der Fernseher ersetzt die Nestwärme, der CD Player das Vorlesen, der Hort, der Kindergarten und die Schule ersetzen die Familie. Die Peergroup wird zum sozialen Netz aus dem heraus juvenile Sozialisation entsteht. Der Chatroom im Internet wird zum Kommunikationsfeld, indem man sich fremden „Freunden“ mitteilt, weil es echte Nähe nicht mehr gibt, das Internet wird zum Zeitvertreiber und der Sexualunterricht in der Schule ist längst nicht so spannend wie die Sexseiten im Netz, die offen, für alle sichtbar Gewalt und Perversion als Normalität vermitteln.
Die Kinder und Jugendlichen von heute sind Waisenkinder einer Gesellschaft in der moralische Werte hochgehalten, aber nicht gelebt werden. Sogar die Kirche hat sich als Hort der Heuchelei und des Missbrauchs an Schutzbefohlenen geoutet.
Woran sollen sich Kinder und Heranwachsende heute noch halten, wenn es keinen Halt mehr gibt? 
Wenn ein Kind fühlt, noch bevor es denken kann, dass das Reden und das Handeln der Erwachsenen nicht übereinstimmen. Jeder Psychologe weiß, dass Doppelbotschaften zu Verunsicherung, zu Verwirrung und Haltlosigkeit führen und dass Dauerstimuli und Reizüberflutung das Gehirn überfordern und Affekte abstumpfen.
Die Haltlosigkeit unserer Kinder ist geboren aus der Janusköpfigkeit unserer Gesellschaft.
Aus Mangel an Halt erwächst Ohnmacht. Ohnmacht auch, weil das gefühlte Erleben der Kinder nicht übereinstimmt mit dem, was ihnen vorgelebt wird. Kinder fühlen sich hilflos ob der überwältigenden Kraft der Erwachsenenwelt. Die Natur der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen ist die eines Machtkampfes, der verhindern will, dass sich die kindliche Individualität entfaltet und durchsetzt. Das Überleben des Kindes hängt davon ab, dass es sich mit den Eltern arrangiert, ganz gleich wie diese Eltern sind. Die kindliche Identität orientiert sich an der Erwachsenenidentität.
Das Eigene muss verleugnet werden, das Gefühl: „Das ist nicht richtig, nicht wahrhaftig“ wird unterdrückt. Die so beschränkte Erlebniswelt unserer Kinder verdrängt die Bedürfnisse nach Wärme und verleugnet die Entfaltung eines eigenen Selbst. Menschen, die keine eigene Identität haben sind beziehungslose Menschen die kein Mitgefühl für andere entwickeln, weil ihnen das Gefühl für sich selbst aberzogen wurde. Was wir selbst nicht fühlen, können wir beim anderen nicht mitfühlen. Wenn der Mensch keine Anerkennung für die eigene Identität erfährt, verliert er seine Würde und damit seine Menschlichkeit. Die Entweihung des Inneren führt zu Hass auf andere. Der Schmerz darüber wird zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors. Der Terror führt in eine überwältigende Hilflosigkeit und schließlich zu unterdrückter Wut, die sich Ausdruck sucht.
Menschenverachtung und Empathielosigkeit sind die Blumen des Bösen unserer Zivilisation. 

Darin liegt die Ursache, dass immer mehr Kinder zu Tätern werden. Drogenabhängigkeit, Komasaufen, Sexual – und Gewaltdelikte unter Kindern und Jugendlichen steigen. Das Böse breitet sich unter den Kindern aus. Es ist ein ansteckender Virus, deren Überträger unsere Zivilisation ist.
Die „bösen“ Kinder sind, bevor sie zu Tätern werden, nicht böse. Sie sind Opfer einer empathielosen Täterschaft. Sie sind Opfer, die ob der Nichtachtung ihres Seins, Andere bestrafen, für den Schmerz, den sie fühlen und nicht fühlen dürfen.

Und jetzt sperren wir sie ein, die kleinen Verbrecher - in seelenlose Heime und lieblose Jugendgefängnisse - damit sie erst mal weg sind aus den Augen einer Gesellschaft, die mit Blindheit für ihr eigenes Verbrechen geschlagen ist.
Ich bin mir fast sicher, sie werden zurückschlagen, sobald man sie wieder frei lässt.

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