Mittwoch, 30. Oktober 2013

Der Flügelschlag eines Schmetterlings - Neue Werke von Cyrus Overbeck


Es war einmal ..., so beginnen Märchen.
Das Wunderbare an den Märchen ist, dass wir – ob als Kind oder als Erwachsener – Geborgenheit in ihnen finden und das seltsamerweise, obwohl jedes Märchen immer auch etwas Grausames und zutiefst Dunkles in sich trägt. Märchen beherrschen die Kunst, die Polaritäten und Gegensätze unserer menschlichen Existenz zusammenzufügen, sie eins werden zu lassen, untrennbar miteinander verbunden und einander bedingend. Intuitiv verstehen wir im Märchen die elementaren Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Wir fürchten uns nicht, weil uns alles selbstverständlich erscheint und weil wir wissen, dass jeder Märchenheld, jede Figur, egal ob Hexe, Magier, böse oder gute Fee, ihre ureigene Funktion erfüllt. Im Märchen begreifen wir das Ganze. Wir lauschen fasziniert, und unserer Innerstes weiß: Ja so ist es, bis dass der Tod sie scheidet oder ... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Märchen sind tröstlich, denn am Ende siegt die Kraft der Liebe und das schenkt uns Zuversicht.


Vielleicht wäre Cyrus Overbeck Märchenerzähler geworden, wäre er nicht ein Maler. Seine Werke tragen dieses Märchenhafte in sich. Sie erzählen von Licht und Schatten, von Gut und Böse, von Schönheit und Vergänglichkeit, von Freude und Leid, von Liebe und Tod, von Vanitas, Eros und Thanatos – und immer ist alles eins.

Wie der Magier im Märchen jongliert er mit den großen Themen der menschlichen Existenz, eulenspiegelhaft und mit der Leichtigkeit des Schlages zarter Schmetterlingsflügel, sich der Gefahr der Verletzung bewusst, die beginnt, sobald der schützende Kokon schmerzhaft durchbrochen wird und das eintritt, was Leben ist. Der Magier kennt die Gesetze der Dualität, er weiß, dass sein Geist Materie erschaffen kann, er arbeitet mit Affirmationen, Allegorien und Symbolen, er ordnet sich den kosmischen Gesetzen unter und ist permanent auf der Suche nach Vervollkommnung. Er tut seine magische Arbeit mit dem Bewusstsein: Es geht um die Kunst, die irdische Existenz sinnvoll zu gestalten und die ureigenen Potenziale zu entfalten. Er weiß um die Macht der bedingungslosen Liebe, und er weiß auch, die Liebe bewahrt nicht vor Leid, uns selbst nicht und die, die wir lieben nicht, und dennoch ist sie die stärkste Kraft.


Getragen von der Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe ist Overbecks Schaffensdrang ungebrochen. In jedem Bild, in jeder Plastik seines neuen Œuvres folgen wir der Textur des magischen roten Fadens, der sich durch das Gesamtwerk zieht und in der Zwei- und Dreidimensionalität immer wieder neu Gestalt annimmt: eine vibrierende duale Schwingung von überbordender Lebenslust und tiefer Melancholie, geboren aus dem Bewusstsein, jeder ist allein und aus der Erkenntnis, dass allein die Liebe uns heilen kann. Die zutiefst menschliche Sehnsucht nach dem Einssein mit allem, um das Gefühl des Getrenntseins zu überwinden, manifestiert sich Zeichen gleich auf Leinwänden, in Holzschnitten, in bezaubernden, kleinen Farbradierungen und in barock anmutenden skulpturalen Kompositionen, deren eindringliche Energie auf den Betrachter wirkt und ihn dort abholt, wo der moderne Mensch steht – erschöpft und leer von der Sattheit seiner Welt, müde und depressiv von der Leistungsgesellschaft, die ihm gnadenlose Selbstausbeutung abfordert, innerlich verlassen auf der Suche nach dem, was ihn von innen hält.


Der moderne Mensch liest keine Märchen mehr, er findet kaum mehr Geborgenheit, weder in den alten Mythen, noch in sich selbst. Er leidet still an seiner unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. In seiner Welt herrscht das Verbot der Leidenschaft und des Eros. Damit verträgt sich das Leistungsprinzip einer vom Habenwollen beherrschten Gesellschaft nicht. Der Zugang zur Liebe und der damit einhergehenden Verletzung ist ihm versperrt. Eros ist zur bloßen Erotik, zum Konsumgut, zur selbstbezogenen Genussoption verkommen, zu einer seelenlosen Begierde, die Geborgenheit per se ausschließt.

Cyrus Overbeck spürt die Vibrationen des Zeitgeistes, und er leidet daran. Mit seinen Werken hält er dem Betrachter die Agonie seines Daseins vor wie einen Spiegel, in dem dieser sich in der individuellen und kollektiven Blutleere erkennen kann, um zu reflektieren und nachzuspüren, was ist und was sein könnte. Vielleicht trägt der künstlerische Gärprozess in der Einsamkeit des Ateliers dazu bei, vielleicht ist es die tief in der Biografie des Sohnes einer Deutschen und eines Persers verwurzelte melancholische Verstimmung, vielleicht ist es die mit einer viel zu dünnen Membran umkleidete Empathie, die diesen Großen unter den Gegenwartskünstlern spüren und kreieren lässt, was uns alle angeht und berührt.


Overbecks neue Arbeiten sind Allegorien archetypischer Seelenlandschaften. Damit erfüllt er eine klassische Aufgabe, die Kunst einnehmen kann. Die hochkomplexe Bildsprache ist übervoll von existenziellen Fragen und zutiefst menschlichen Sehnsüchten, die nach Antworten, Ausdruck und Erfüllung streben. Variationsreich, experimentierfreudig und getragen von einer nach Schönheit strebenden meisterlich beherrschten Formsprache zeigt sie sich auf den Tableaus expressiver großformatiger Ölgemälde, in zarten poetischen Radierungen und in den in Bronze gegossenen Skulpturen. Im Spannungsverhältnis aus Nähe und Distanz, aus Anziehung und Abstoßung schauen wir die Plastiken, die wie skulpturale Collagen aus Versatzstücken von Kunst- und Popkultur anmuten. Formale Anleihen aus der Kunstgeschichte werden übernommen, zitiert und mit archetypischen Symbolen kombiniert, die neue Allegorien schaffen und existenzielle Fragen aufwerfen.

Der Torso, um dessen Hals das Statussymbol der Fliege gezurrt ist, die Schärpe, die souverän um die perfekte Männerhüfte gebunden ist, so hinterfragt Overbeck das überhöhte Schönheitsideal unserer Zeit und bricht es. Er setzt ihm den Totenschädel als Metapher für Vanitas und Vergänglichkeit auf. Das erinnert an die klassische Vanitas-Kunst, an die, den Augenreiz kitzelnden, überbordenden Stillleben mit ihren prallen Früchten, Figuren und Blumen, die auf den ersten Blick verlockend erscheinen und auf den zweiten Blick vom Verfall gekennzeichnet sind. Leise klingt Andreas Gryphius Gedicht „Es ist alles eitel“ an. Eitel, das einer leblosen Bakelitpuppe ähnelnde Rosenköpfchen, eitel, die ins Gebet versunkene Madonna mit den alternden Händen und den Narben der Trauer im schönen Gesicht, eitel, der weibliche Akt, dem silberne Rosen aus dem schlanken Hals wachsen – eitel im Sinne von Vanitas, dem leeren Schein, der Nichtigkeit und der Vergeblichkeit alles Irdischen. 

Eitel strebt jede einzelne Figur dem ultimativen Vanitas-Symbol entgegen, dem mit Sterlingsilber galvanisierten Overbeckschen Totenschädel. Könnten wir sie sprechen hören, so klänge es im Chor: „Das Leben ist nur dort, wo der Tod ist, mit dem Geborenwerden beginnt das Sterben, Eros und Thanatos sind untrennbar eins, der ewige Zyklus des Lebens ist schön und grausig zugleich.“ Eine ungemütliche Wahrheit, die uns da anspringt. Provokant, lakonisch, ohne jede Dogmatik und mit Vorliebe auf dekorative Weise bestückt Overbeck seine Protagonisten mit Rosen, dem Symbol für die Liebe im Sinne des platonischen Eros, der den Charakter einer kosmischen Kraft in sich trägt, die den Fortbestand allen Lebens ermöglicht. Von dieser kosmischen Kraft, die sich nicht mit der erotischen Begierde begnügt, sondern weitaus mehr zu erfassen sucht, nämlich das Gewahrsein, dass die Sehnsucht nach Liebe letztlich nicht einem Individuum als solchem gilt, sondern etwas Höherem, das in jedem Menschen, in allem Lebendigen verkörpert ist, erzählen Overbecks Werke.


Für manch einen mag das klingen wie ein Märchen. Und die sind nicht mehr zeitgemäß. Diese Gesellschaft schafft alles ab, was dem Begehren des Abwesenden gilt, nicht in Suchmaschinen gefunden und nicht sofort konsumiert werden kann. Wie also seelische Schönheit, die von den Sinnesobjekten zu den geistigen Idealen und Ideen führt und schlussendlich zu Agape, der allumfassenden göttlichen Liebe, die mit der Liebe zu uns selbst als Geschöpf des Schöpfers beginnt, überhaupt begreifen? Wie Geborgenheit finden in der Leere einer seelenlosen äußeren Fülle? Der Weg zur Erkenntnis ist schmerzvoll. Das ist die Weisheit, die in allen Märchen verborgen liegt. Der Weg zum zufriedenen Konsumenten ist leicht, denn jede Form von Negativität wird im positivistischen Zeitgeistdenken ausgeblendet. Das ist das Märchen der Moderne.


Der Weg des Helden im Märchen unserer Ahnen aber führt über die Transformation. Davon sprechen die zarten Flügel der Schmetterlinge, die Overbeck in seinen Gemälden, Holzschnitten und Farbradierungen um Frauenbildnisse, Tiere, Naturimpressionen und Segelschiffe zu magischen Ornamenten arrangiert. Schmetterlinge sind seit jeher mystisch aufgeladene Zeichen der Transzendenz. Nur im schmerzhaften Erleben des Ausgestoßenwerdens aus der schützenden Hülle der äußeren Begrenzungen scheinen sie uns zuzuflüstern, ist Geburt, ist Wachstum und Wandlung, ist Werden und ja, auch Vergehen. Mit diesen tiefgründigen Arbeiten bricht Cyrus Overbeck eine Lanze für das Leben, wie es ist, und nicht, wie wir es gern hätten, auch wenn ihn das manchmal sehr einsam macht.

Lieber Cyrus,
Schmetterlinge fliegen einsam, aber sie fliegen dem Licht entgegen ... und der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen. Das ist kein Märchen und doch ist es Magie.

Von Herzen und in tiefer Hochachtung vor Deinem Werk

Angelika Wende




Nachtrag
Märchen beginnen mit:
Es war einmal ...
... ein Wissenschaftler, der beobachtete einen Schmetterling und sah, wie sehr er sich abmühte, durch die enge Öffnung seines Kokons zu schlüpfen. Seit vielen Stunden kämpfte der kleine Kerl, um sich daraus zu befreien. Der Wissenschaftler bekam Mitleid mit dem Schmetterling. Er nahm ein kleines Messer und weitete vorsichtig die kleine Öffnung des Kokons, damit sich der Schmetterling leichter befreien konnte. Und so geschah es: Der Schmetterling entschlüpfte plötzlich sehr schnell und sehr leicht.
Doch als der Wissenschaftler ihn erblickte, erschrak er. Die farbenprächtigen Flügel des Schmetterlings waren ganz kurz, und so sehr er sich auch bemühte, er konnte nur flattern, aber es gelang ihm nicht zu  fliegen.
Völlig aufgelöst nahm der Wissenschaftler den verzweifelt flatternden, kleinen Kerl behutsam in seine Hände und lief zu seinem Freund, einen Biologen.Sag, warum sind seine Flügel so kurz, und warum kann der kleine Schmetterling nicht fliegen?“
Der Biologe fragte den Wissenschaftler, was denn geschehen sei. Da weinte der Wissenschaftler und gab zu, dass er dem Schmetterling geholfen hatte aus dem Kokon zu schlüpfen. „Mein armer, trauriger Freund,“ erwiderte der Biologe, „das war das Schlimmste, was du dem kleinen Falter hast antun können. Durch die enge Öffnung ist er gezwungen, sich mit eigener Kraft durchzuquetschen. Erst dadurch kommen seine Flügel aus dem kleinen Körper heraus.
Du hättest ihm dabei zusehen können, wie er sich mit seiner ganzen eigenen Kraft aus dem Kokon kämpft, dann ganz erschöpft zur Erde fällt, sich langsam reckt und streckt und sich entfaltet zum Schönsten alles Schönen, um seine Flügel auszubreiten und zu fliegen. Weil du ihm aber geholfen hast, um ihm den Schmerz zu ersparen, hast du ihm die Kraft seiner Flügel genommen.“
(Verfasser unbekannt)






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen