Dienstag, 17. Juli 2012

Zum wahnsinnig werden!

 

 





Ausgangssituation: Eine Prüfung.
Das ist zunächst einmal nichts Unerwartbares für den Prüfling, nichts was in irgendeiner Weise zu Panik führen sollte. Sollte, heißt aber nun einmal nicht – könnte.
Er steht vor einer Herausforderung.
Auch das ist zunächst einmal nichts, was zu Panik führt. Möchte man meinen.

Tut es aber. Der Prüfling gerät in einen Wirrwarr von Gedanken und Gefühlen, er schläft schlecht, er somatisiert, erlebt sogar Anfälle von Panik. Der Gedanke an die Prüfung löst eine Überflutung mit Affekten aus, deren Auswirkung auf die mentale und körperliche Befindlichkeit des Prüflings man als temporären Angstzustand bezeichnen würde.

Was passiert? Unterhalb der Metaebene „Prüfung“.

Der Kopf macht mit, immer und überall, manchmal anders als wir das wollen.
Das Gehirn mit seinen unergründlichen neuronalen Prozessen, den Erfahrungswerten von Versagen, die im limbischen System gespeichert sind, übernimmt die Herrschaft. Der Körper gerät in eine Stresssituation. Wenn wir starke emotionale Erlebnisse haben, was eine bevorstehende Prüfung für ein Individuum durchaus sein kann, werden in unserem Gehirn die Stresshormone Adrenalin und Cortisol freigesetzt und wirken als Stimuli. Die sympathische Aktivität ist Teil des vegetativen Nervensystems, das bei Stress auf Hochtouren läuft. Die Vernunft gerät außer Kontrolle.

Die Stresssituation des Prüflings steigert sich so weit, dass er von Kopfkrieg redet, weil das so ist, in seiner Wahrnehmung. Das Gefühlte wird zu Gedanken – diese führen am Ende zur Handlung oder zur Lähmung. So funktioniert unsere psychische Struktur. So entsteht Verhalten.

Im Kopf des Prüflings braut sich etwas zusammen.   
Plötzlich sind da Fragen nach dem ganz alltäglichen Wahnsinn. Woher kommt er, woher kommen diese von Angst besetzten Gefühle, die in jedem von uns stecken, und uns im Zweifel, in den Wahnsinn treiben.

Er fragt:
Und wo führt das alles hin?
Was passiert, wenn er diesen Wahnsinn nicht mehr unter Kontrolle hat, wenn er den Realitätsbezug völlig verliert? Wenn er nicht mehr abschalten kann?

Er sucht Antworten.
Die eigene affektive „Schieflage“ wird zum Motor mentaler Produktivität und schließlich zum Motor künstlerischer Produktion.

Der „ganz normale Wahnsinn“ findet einen Kanal im kreativen Tun. Der Prüfling schaut seine Angst an und die Blüten die sie treibt und gibt dieser Angst ein Gesicht. Er nutzt alle ihm zur Verfügung stehenden kreativ-künstlerischen Mittel als Medium diesem Gesicht etwas Wesenhaftes und damit etwas Fassbares zu geben, etwas das nicht diffus ist und unbestimmbar wie die Angst, die lähmt und den Wahnsinn als Möglichkeit in sich trägt.

Er wird schöpferisch.
 
Beuys sagte einmal – jeder Mensch ist ein Künstler.
Ich sage – jeder Mensch ist potentiell schöpferisch.

Darum geht es. Schöpferisch tätig sein, um dem ganz normalen Wahnsinn zu entkommen, besser - um mit es mit ihm auszuhalten.

Der Mensch hat die Anlage zum Kippen. Er hat die Anlage zum Herausfallen aus dem, was er Realität nennen, wenn die eigene Normalität, das eigene „in er Welt sein“ einen Knacks bekommt. Wenn es uns den Kopf fickt!

Bei Kopf assoziieren wir Vernunft, Ratio, Denken und Kopflosigkeit ...
Kopflos - im Kopfkrieg. Das ist ungut in einer rationalen Welt, wo das Kopfdenken die Herrschaft längst übernommen hat und das Herzdenken ein Luxus für Spinner, unbelehrbare Idealisten und verkrachte Künstler geworden ist.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf, singt André Heller. Sie verstecken sich ängstlich vor dem, was das wirkliche Leben fordert. Überforderung ist die Folge. Kopfkrieg ist Standard in einer Welt, die sich als vernünftig bezeichnet und die Vernunft als das Maß aller Dinge heiligt.

Welche Vernunft? Die Vernunft einer Welt, die zu immer verkopfteren Produkten und Dienstleistungen neigt, welche die eigene kleine Welt ihrer Konstrukteure widerspiegelt, aber nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen, für die sie eigentlich gemacht sind, in der Wirklichkeiten von Unternehmen dominieren, die ihre eigene Welt von Macht und Geld für den einzigen Hort der Realität halten. Gut fürs Geschäft, schlecht für die Menschheit.

Der Prüfling wird in einer solchen Wirklichkeit nicht enden. Er ist kreativ und damit in Hinblick auf das, was eigentlich zu tun ist, die Vorbereitung auf die Prüfung – unvernünftig.

Schon Peter Handke hat es in den Siebzigern befürchtet: „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Wie vernünftig kann der Mensch eigentlich sein, wie rational ist er?
Statt Klarheit herrscht Zweifel, statt Glaube und Zuversicht, herrschen Unsicherheit und latente Angst.

Schon unsere Kinder haben Angst zu versagen, ob einer Wirklichkeit, die sich ausschließlich in Erwartungen, Forderungen und Erfolgsdenken präsentiert und die sie aussortiert, wenn sie anders sind.

Zum wahnsinnig werden?
Sind die Wahnsinnigen nicht die authentischeren Menschen, jene die ver - rückt werden, weil sie sich in den vernünftigen Parametern der von einer Massendoktrin inszenierten Wirklichkeit nicht mehr auskennen?

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, fragt der Psychologe Paul Watzlawick und entwickelt den Konstruktivismus. Und stellt fest: Die Wirklichkeit ist allein und einzig von unserer Wahrnehmung abhängig. Von unserer Vorstellung von Welt.  
Für das Wirkliche gibt es kein Skript, kein: So ist es richtig und so ist es falsch.

Der Kopfkrieg geht weiter im Kopf des Prüflings.
In vielen Köpfen, in Euren?
Die Vernunft wird ihn nicht verhindern.

Frei davon ist nur der Dumme.
... „denn in der Nomenklatur der Dummen ist nichts unmöglich, also gibt es das Unmögliche an sich nicht, also besteht eine Harmonie zwischen dem, was der Trottel erwartet, und dem was eintritt. Die Dummheit kann bis ins Unendliche ordnen und klassifizieren, ohne in ihrem Tun je auf Grenzen zu stoßen, denn sie lässt ein Formulieren von Grenzen nicht zu.“ 
Konstatiert der französische Philosoph André Glucksmann.

Kopfkrieg ist in den Köpfen derer zu Hause, die denken, die fühlen, die Fragen haben und schöpferisch sind. Ja, vielleicht ist in diesen Köpfen auch die Möglichkeit des Wahnsinns, aber wie gefragt: Was ist wirklich?