Freitag, 15. Juni 2012

Allein oder einsam?







Die Worte, so gefügig sie wir sie uns machen können, machen es uns bisweilen schwer. Das liegt daran, dass in ihnen Bedeutungen liegen und dass jeder von uns, jedem Wort, Wortinhalt, eine andere Bedeutung gibt. Das macht die Kommunikation unter uns Menschen nicht einfach und das Leben demzufolge auch nicht. Da jeder den Worten, das gilt ebenso für die Dinge und die Gefühle, für alles Wahrgenommene, seine individuelle Bedeutung gibt, ist es wahrlich kein Wunder, dass wir zwar kommunizieren, aber uns letztlich doch niemals gegenseitig wirklich verstehen. Wer das weiß und akzeptiert hat, lebt gelassener, er ist zufrieden, wenn er zumindest ab und an volle Zustimmung findet. 

Kürzlich las ich in einem Buch des österreichischen Schriftstellers Alfred Polgar diesen Satz: „Wenn dich alles verlassen hat, kommt das Alleinsein.  Wenn du alles verlassen hast, kommt die Einsamkeit.“
 
Eine schwerwiegende Aussage. Die Schwere liegt in den Worten. Diese Worte konfrontieren uns mit zwei Zuständen, denen die meisten Menschen ein Leben lang zu entkommen versuchen. Alleinsein - wer mag das schon? Einsamkeit - wer mag die schon? Verlassen oder verlassen werden - wer will das schon? Allein und einsam, das sind starke Wörter. Verlassen ist ein noch stärkeres Wort. Das sind für viele Menschen Unwohlseinfühlwörter, für manche sogar angstbesetzte Wörter.

Ich habe nachgedacht und mich gefragt: Wie meint er das, der Herr Polgar. Ist das für ihn so stimmig? Und was ist meine Deutung seiner Worte? Und warum deute ich so, wie ich deute?
Ich habe mich gefragt, was bedeutet Alleinsein für mich? Für mich ist Alleinsein ein Segen. Es ist das Ankommen in einer Oase der Stille, wo nichts und niemand sich in meine Gedanken mischt, ich mich mit niemandem auseinandersetzen muss, nicht sprechen muss. Ich schreibe lieber, aber seltsamerweise spreche ich viel, wenn ich mit anderen bin. Beruflich verlege ich mich überwiegend auf das Zuhören. Privat strengt mich das Sprechen an. Es strengt mich an mit Worten face en face zu kommunizieren. Was Kommunikation angeht, so reden die meisten Menschen über Triviales, Banales und Alltägliches, wenige sprechen über Tiefgründiges, sie lamentieren aber gern über höchst Persönliches. Letzteres ist mir dann lieber. Treffe ich auf Ersteres verabschiede ich mich so schnell wie möglich. 
 
Aber auch letzteres langweilt mich nach einer Weile, denn die meisten Menschen drehen sich ständig um sich selbst. Sie reden vom immer Gleichen, Unverstandenen, Ungelösten, weil es unverstanden und ungelöst ist. Sie tun es in der Hoffnung, es durch die Kommunikation mit einem anderen irgendwann doch lösen zu können, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen. Diesen Versuch habe ich schon lange aufgegeben. Im Grunde ist es ein legitimer Versuch, aber er ist untauglich, denn die Lösungen für unser Ungelöstes, finden wir nur in uns selbst oder mit Hilfe eines ausgezeichneten Beraters oder Therapeuten, der uns, wenn er wirklich gut ist, zu uns selbst führt.

Uns selbst begegnen wir im Alleinsein. Das ist für mich nichts Angstbesetztes. Auch wenn ich die Angst seit Kindesbeinen gut kenne, vor dem Alleinsein habe ich keine Angst.  Alleinsein ist für mich ein Zustand von des Wohfühlens mit mir selbst, ich, in meiner eigenen Gesellschaft, die ich schätze. Es hat lange gedauert. Ich habe es auch lange geübt, das Alleinsein und übe es gerade wieder. Allein finde ich Ruhe, allein mit mir habe ich die besten Gedanken und kann sie niederschreiben, damit sie mir nicht verloren gehen. Im Alleinsein verschwende ich keine kostbare Zeit an Triviales, an Input von Außen, welcher der Anstrengung des Filterns bedarf, an Menschen, die mich nicht interessieren, an Nichtigkeiten, an Zerstreuungen und Unternehmungen, die mir kostbare Lebenszeit rauben. In mir drin ist so viel los, dass ich die Zeit mit mir allein brauche. Zeit ist eben nicht nur Geld, sie ist Leben und das ist begrenzt.

Durch meine Erfahrung mit Menschen weiß ich, je selbstverwirklichter ein Mensch ist, desto mehr braucht er Zeit für sich selbst um seine Anlagen, seine Fähigkeiten, seine Kreativität und seine Potentiale herauszubilden und an ihnen zu arbeiten und um zur inneren Ruhe zu finden. Ich kenne keine Kunst, keine Literatur, keine Philosophie, keine Komposition, die nicht im Alleinsein entstanden ist. Je unverwirklichter ein Mensch ist, desto bedürftiger ist er nach Gesellschaft, Ablenkung und Zerstreuung.

Alleinsein ist die Beschäftigung mit dem Wesentlichen - mit uns selbst und dem, was in uns angelegt ist und sich entfalten will, all unsere Gaben und Potenziale, die Raum brauchen um lebendig zu werden. Nur mit uns selbst entdecken wir uns selbst und kommen wir zu uns selbst.
Sicher, wir brauchen auch den Spiegel, das DU, um uns zu erkennen und zu verstehen, aber es kommt auf die Qualität des Spiegels an. Wer wahllos in zu viele Spiegel schaut, dem geht es wie im Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt, am Ende nimmt er sich nur noch verzerrt wahr.
Ich bin gern und viel allein, aus all diesen Gründen. Daher ist es auch schwer, mit mir eine Beziehung zu führen, denn mir ist die wichtigste Beziehung die Beziehung mit mir selbst und den Dingen, die ich im Alleinsein tue und erschaffe. Außerdem gehört ein Teil in mir zu den Introvertierten, auch wenn ich auf manche anders wirke. 

Wer der Welt etwas schenken will, braucht die Stille des Alleinseins, damit das, was er verschenken will, sich entfalten und reifen kann. Wer sich selbst etwas schenken will, braucht sie ebenso. Aber für viele Menschen ist das Alleinsein etwas, dass sie nur schwer aushalten. Warum? Sie haben Angst vor sich selbst und vor der Stille. Dieser Kontrast zu unserer lauten Welt hat es in sich. Die Stille ist uns fremd und unheimlich, weil wir sie nicht gewohnt sind. Das Ungewohnte macht Angst, das ist zutiefst menschlich. Die Stille hat das Potential uns auf uns selbst zurückzuwerfen. Wir könnten uns nämlich plötzlich selbst begegnen, im Alleinsein mit uns selbst, wenn es still wird und für viele Menschen bedeutet das: Sie begegnen einem Fremden. 

Ich kenne Menschen, die schalten sofort den Fernseher ein, sobald sie am Abend nach Hause kommen, damit sie Stimmen hören, um sich nicht allein zu fühlen. Andere greifen zum Handy, um sich nicht allein fühlen. Andere rennen von einer Beziehung in die nächste, weil sie sich vor dem Alleinsein fürchten, oder sich allein nicht als ganzer Mensch fühlen. In meiner Praxis höre ich immer wieder was Menschen, besonders Frauen, sich antun lassen, nur um nicht mit sich allein sein zu müssen. 

Alleinsein ist schwer, wenn man es nicht fühlen mag. Dann macht es ein Gefühl von Unwohlsein, ein Gefühl von - was fange ich jetzt mit mir an? Ein Gefühl, das wir nicht mehr kennen, nicht einmal mehr unsere Kinder kennen es.

Was wir kennen sind Reize. Wir sind Reize gewohnt, wir leben in einer Welt der Reizüberflutung und des pausenlosen Geplappers. Diese Welt agiert ständig und zwar im höchsten Maße hyperaktiv. Sie ist derart überborded mit lauten und sinnenfeindlichen Geräuschen, Tönen, Stimmen und Bildern, dass der Mensch mehr und mehr zum bloßen Reagieren konditioniert wird. Die Masse Mensch agiert nicht mehr. Die Masse setzt keine Impulse, sie wird mit Impulsen überflutet. Sie reagiert auf Impulse und wehe der Impuls fehlt. Und dieser fehlt im Alleinsein. Ja, da fehlt dann etwas.
Dass der Mensch sich selbst fehlt, darauf kommt er nicht. Er ist taub geworden für die Stille. Betäubt für sich selbst und er betäubt sich selbst mit allem Möglichen, weil er nichts anderes gelernt hat. Das ist, nebenbei gesagt, auch der Zweck des Ganzen: Betäubte agieren nicht und der Staat hat leichtes Spiel mit seinen unmündigen Bürgern, die schon längst keine  Bürger mehr sind, sondern Konsumenten einer das Menschliche verschlingenden Gesellschaft. Kaufen, kaufen kaufen, schreit die Welt da draußen fordernd, laut und täglich. Alleinsein kaufen ist nicht mit inbegriffen.

Und doch nimmt das Alleinsein zu. Immer mehr Menschen leben allein. Immer mehr Menschen leben in Beziehungslosigkeit. Die Meisten unfreiwillig. Warum, wo doch die Angst vor dem Alleinsein eine große ist? Weil sie nicht mehr fähig sind Beziehung zu leben, weil sie nicht fähig sind, die wichtigste Beziehung zu leben – die Beziehung mit sich selbst. Eine mitfühlende, liebevolle, ehrliche, achtsame Beziehung mit dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben, sie selbst. Wie also wollen sie in eine mitfühlende, liebvolle, ehrliche, achsame Beziehung mit einem Du treten, die auch noch dauerhaft ist? Das kann nicht gehen. 

Je unmündiger ein Mensch ist, desto mehr braucht er Unterhaltung. Je unverwirklichter ein Mensch ist, desto mehr Zeit hat er für Gemeinsames. Er ist bedürftig, er braucht Beziehungen, einen Partner, Beschäftigung und Zerstreuung, er braucht Kneipen, Parties und das Kleben am Handy, um das Gefühl einer illusionistischen Verbundenheit mit Welt nicht zu verlieren. Aber die Wahrheit ist: In all dem bedürftigen Brauchen verbraucht er seine Lebenszeit für Nichtigkeiten, Hauptsache er ist nicht allein. Er braucht Kommunikation um jeden Preis und ihm fehlt das Verständnis für die, die ihre Zeit für sich brauchen. In Wahrheit fehlt ihm das Verständnis für sich selbst. Dies alles ohne Bewertung - na ja, nicht ganz. Sollen sie leben, wie sie wollen und mich in Ruhe und allein lassen.

Aber was ist mit der Einsamkeit?

Einsamkeit ist etwas anderes. Einsam ist der Mensch, wenn er sich von allem und jedem getrennt fühlt und mit nichts verbunden. Dann hat er alles verlassen. Er hat das Gefühl für sich selbst verloren: Er empfindet nicht, dass alles eins ist und er selbst ein Teil von allem.
Manche verlassen alles, weil sie sich von Allem und Allen verlassen fühlen, sie resignieren und ziehen sich in ihre Höhle zurück. Enttäuscht von den Menschen, verbittert und hoffnungslos betreiben sie den äußeren Rückzug in die selbst gewählte Eiswüste. Sie geben sich auf und vereinsamen innerlich. Das ist der Tod im Leben. Es gibt viele Menschen, die so existieren, wir sehen sie nur nicht, weil sie nicht gesehen werden wollen oder weil wir den Blick nicht auf sie richten wollen. Und irgendwo ganz tief in meinem Herzen kann ich sie verstehen, die, die alles verlassen, ich kann sie fühlen in ihrem Verletztsein und ihren Kränkungen und ihrer Weigerung sich noch einmal verletzten zu lassen, würden sie denn ihren Rückzug aufgeben und sich wieder der Welt und den Menschen zuwenden, ich kann verstehen, dass ihr Vertrauen gebrochen ist, weil es zu oft missbraucht wurde und ich kann sie fühlen ihre Angst vor dem Außen, das nicht sonderlich viel Gutes bereit hält, wenn ich ganz genau hinschaue. Ich kann sie nachfühlen die müde Langeweile die das sinnentleerte Geplappere und das ewige Gejammere der Mitmenschen aufkommen lässt und das Gefühl: Bevor ich mir das antue, bin ich lieber einsam. 

Wie formulierte es Friedrich Nietzsche, der große Einsame so treffend: „Des einen Einsamkeit ist die Flucht des Kranken.Des anderen Einsamkeit ist die Flucht vor den Kranken.“ Es gibt immer mehr Kranke in einer kranken Welt und wer ist nun der, der vor wem flieht?
Freiwillig gewählt einsam sein? Ich weiß, dass auch das keine Lösung ist und der Mensch in der Verlassenheit mit einer großen Angst konfrontiert wird - der Angst eines Kindes, das sich mutterseelen allein fühlt. Ich kann es verstehen, weil ich das Gefühl kenne.

Aber es gibt noch eine andere Einsamkeit. Die Buddhisten nennen sie die kühle Einsamkeit. Man ist zufrieden, vermeidet sinnlose Aktivitäten, ist diszipliniert und rennt nicht in der Welt der Begierden und der Ablenkungen umher um etwas zu erhaschen oder zu besitzen, was man nicht wirklich braucht und man erwartet keine Sicherheit und keinen Halt von anderen, weil man dies in sich selbst nicht findet. Man braucht keinen Bezugspunkt , keine Hand an der man klammert und keinen, der einen umsorgt und beschützt, weil man es für sich selbst nicht tun kann. Zufriedenheit stellt sich ein, ein Gefühl inneren Friedens und eine tiefe Ruhe. Man gibt sie auf, die Illusion dauerhaftes Glück im Außen zu finden, wenn es nur gelänge der inneren Einsamkeit zu entfliehen. Man hört auf dem Alleinsein mit sich selbst zu entfliehen und damit hört man auf vor sich selbst davonzulaufen.

Manchen Menschen wurde diese Disposition in die Wiege gelegt. Sie fühlen sich, wenn sie mit anderen Menschen zusammen sind, trotzdem oder gerade deshalb, einsam.
Diese Menschen, zu denen beispielsweise auch Dichter und Denker wie Hesse, Nietzsche, Kierkegaard, Emily Dickinson und Rainer Maria Rilke gehörten, lebten in einem Gefühl von innerer Einsamkeit, die unüberwindbar ist. Sie wussten - jeder ist im Tiefsten allein, auch wenn wir uns etwas anderes vorgaukeln, um das Gefühl des Getrenntseins nicht spüren zu müssen. Aber sie haben in diesem Gefühl ein Leben gelebt, es angenommen und mit Disziplin und Leidenschaft für das was als Gabe ins Außen treten will Großartiges für das Ganze geschaffen. 

Was die Gaukler angeht, die gab es schon immer und ihre Existenz hat auch ihr Gutes. Das Vorgaukeln der Dinge, wie sie nicht sind, hilft vielen Menschen das Leben erträglich zu machen. Die innere Einsamkeit schmerzt nämlich und zwar genau so lang wie sie nicht angenommen wird.
Es ist wahr, der Mensch ist nicht gern alleine und schon gar nicht gern einsam. Er strebt nach Ganzheit, nach dem Teil, der ihn komplett macht, wie es in Platons Gastmahl so schön zu lesen steht. Immer auf der Suche nach dem, was uns ganz macht, gibt es in jedem Leben unzählige untaugliche Versuche. Viele, die der Einsamkeit und dem Alleinsein entkommen wollen, suchen ihr missing piece in der erotischen Liebe. Diese Form der Liebe gaukelt uns auf das Wunderbarste das Gefühl von Ganzheit vor, zumindest im ersten Liebesrausch. Da gehen wir auf im anderen - und geben uns selbst auf. Ist das wirkliche Ganzheit? Nein. Es ist und bleibt Gaukelei, es ist die verlockend schöne Illusion man könne in der Verschmelzung mit dem Geliebten ganz werden. Eine Täuschung, die meist in Ent-täuschung endet, dann nämlich, wenn wir begreifen, dass der andere sein eigener Mensch ist und es immer bleiben wird. 

Die Ganzheit, und das spüren wir, wenn wir oft genug in unseren Beziehungen gescheitert sind, finden wir nur in uns selbst. Wir selbst sind der von Zeus gespaltene Kugelmensch und deshalb lässt sich die andere Hälfte nur in uns selbst finden. Kein anderer kann das für uns machen oder gar sein. Das ist eine ernüchternde Erkenntnis, aber wer nüchtern ist, wacht auf aus der Betäubung und erfährt Klarheit, auch wenn sie ihm zunächst missfallen mag. 

Wir können uns den Anderen nicht einverleiben, wir können den Anderen nicht in seiner Ganzheit erfassen – aus diesem Gewahrsein wird es geboren, das Gefühl innerer Einsamkeit. Weil es schmerzt versuchen wir immer wieder neu uns zu verbinden. Die innere Einsamkeit, das nagende Gefühl des Unvollständigseins in uns selbst ist der Antrieb um die Einsamkeit zu überwinden. Ein Paradoxon, das nicht funktioniert.

In der Stille, wenn wir allein mit uns sind - fühlen wir diese Einsamkeit alle. Aber wenn wir ihr lauschen, sagt sie: "Es ist wie es ist. Ich bin Teil Deines Lebens und ich bin unteilbar".
Diesen Teil können wir nicht abwählen, ebenso wenig wie den Tod. Aber wir können wählen, wie wir ihn deuten und (er) leben. Unsere innere Einsamkeit kann uns ein guter Begleiter und Führer sein - auf dem Weg  zu der Erkenntnis, dass wir nur ganz werden, wenn wir das missing piece in uns selbst suchen, und am Besten geht das im Alleinsein.

Aber was schreibe ich? Da draußen ist es zu laut. Sie werden sie nicht hören, meine Worte.