Montag, 16. Mai 2011

die wunde ...

"es gibt kein größeres verlangen, als das eines verwundeten nach einer anderen wunde", schreibt der philosoph georges batailles.

warum kommt mir am frühen morgen dieses zitat in den sinn?
weil ich lese, was menschen posten in facebook, meiner social community, die ich heute, wie an jedem morgen, bei einer tasse kaffee besuche. morgenbesuch in den gedanken anderer. heute lese ich gedanken anderer menschen über wunden.

auch in trage wunden in mir, alte und neue. wir alle sind verwundet auf irgendeine weise und wir alle leben mit diesen wunden. sie beinflussen unser leben mehr oder weniger. je nachdem wie tief sie sind, je nachdem wie wir sie empfinden.

wunden sind ein teil des menschseins. sie zu haben ist unschön glauben wir. sie sind es, die uns angreifbar machen. sie sind es aber auch, die uns öffnen, besonders für die wunden anderer. und es ist nicht selten, dass wir aufgrund unserer eigenen wunde auf ein gegenüber treffen, dass eine ähnliche wunde in sich trägt.

wunden suchen wunden, sagt batailles und ich gebe ihm recht. es ist die wunde, die uns empathisch macht, für uns selbst und für andere. wunden, so sehr sie unsere integrität auch ins wanken bringen können haben sinn. sie machen uns aus. machen uns zu dem menschen, der wir sind.

hildegard von bingen sagte einmal: unsere wunden werden zu perlen, wenn sie zur quelle des lebens werden. das klingt schön. das gefällt mir und ich weiß, dass sie recht hat mit diesen schönen worten.

ohne meine wunden würde ich all das, was mir wichtig ist, all das was ich tue und lebe nicht tun und leben können. meine wunde ist die quelle meiner inspiration. ich lebe lange genug um meine wunden zu kennen und zu verstehen. ich habe sie mir immer wieder angeschaut und ich habe irgendwann erkannt, dass es nicht nötig ist alle wunden zu heilen.

es gibt wunden, die niemals heilen.
sie vernarben und bei der kleinsten berührung brechen sie auf. dann bricht etwas heraus, was alt ist und doch anders, denn das alte hat sich verwandelt im lauf der jahre, es hat eine andere qualität bekommen.

weil ich meine wunden angeschaut habe, weiß ich, dass ich die verantwortung dafür übernommen habe. ich verstehe mich besser aus dieser verantwortungsnahme heraus.

die tiefsten wunden sind die, die wir als kind erfahren haben, die prägen sich ein.
alle verletzungen, die folgen, sind folgen dieser wunde. sie ist der urgrund auf dem sich unser leben aufbaut, der uns empfindlich macht und berührbar im guten wie im schlechten.

im guten ist diese wunde, wie hildegard von bingen sagt, die perle, die, wenn wir sie formen, unser leben zu dem macht, was es ist - wert voll.

manchmal begegnen mir menschen, die einer auster gleich verschlossen sind. sie verbergen ihre perle im dunkel der harten schale, weil sie sie schützen wollen, vor den anderen. aber sie ist dennoch da. und von da, wo sie ist, wirkt sie über die harte schale hinaus und bringt dinge hervor, die es ohne sie nicht geben würde. sie ist wie die sehnsucht, eine kraft die dazu da ist schöpferisches in die welt zu tragen. allein das zählt, denn im schöpfersichen ist der mensch, das was er sein könnte, im schöpfersichen spürt er sich selbst und im schöpferischen wirkt die wunde in ihrer anderen, positiven qualität über das eigene hinaus.

jedes kramphafte bemühen die wunde endlich los zu werden, führt nur dazu, dass sie weiter aufreisst und mehr schmerzt. jeder versuch die wunde wegzudenken führt zu irrwegen in unserer entwicklung. das anerkennen aber führt zur versöhnung mit unserer wunde. ob sie nun heilt oder nicht spielt eben keine rolle, sondern allein das, was wir mit und aus ihr machen.

manchmal begegnen mir menschen, die sagen, heile deine wunde, hör auf an sie zu denken, vergiss sie.

dann weiß ich, das ist ein mensch, der mich nicht annehmen kann wie ich bin. ich bin auch diese wunde, sage ich dann, ich versuche es zu sagen, aber bei manchen menschen führt dieser versuch zu immer weiteren versuchen mir genau das auszureden. von diesen menschen wende ich mich ab. menschen, die einen teil von uns ablehnen oder uns nach ihrem bilde, nach ihren erwartungen verändern wollen sind nicht gut für uns.

wer einen teil von uns ablehnt, lehnt unser ganzsein ab, weil alle teile uns ausmachen als ganzes, als der mensch, der wir eben nun mal sind. so wie wir selbst unser ganzsein ablehnen, wenn wir teile von uns ablehnen. das ist selbstverurteilung.

wer sich selbst verurteilt hat es schwer mit sich selbst und schwer mit seinen wunden. das leben ist schwer genug.

ich habe irgendwann aufgegeben mich zu rechtfertigen für das, was ich auch bin. und ich gebe es mehr und mehr auf zu glauben, dass irgendein anderer mir das gibt, was ich mir nur selbst geben kann: verständnis für meine wunden oder heilung.

ja, manchmal machen meine wunden mich noch immer traurig und manchmal lähmen sie mich, zwingen mich zum rückzug von der welt da draussen.

ich habe erfahren, auch das ist in ordnung, denn in jedem starken gefühl liegt eine wahrheit. und in jedem rückzug liegt die chance ganz mit mir zu sein, mit dem menschen, der mir der nächste ist, den kennen zu lernen ein abenteuer ist.

abenteuer sind keine spaziergänge, sie sind voller herausforderungen, voller gefahren.
manchmal sind sie schmerzhaft, und manchmal sind sie risikoreich, aber ist nicht das auch das leben?

wenn ich genug vom abenteuer habe, komme ich wieder nach hause zu dem menschen, der mich annimmt wie ich bin - ich selbst, mit meiner wunde. sie ist mein motor, mein antrieb immer weiter zu machen, solange bis ich die perle in ihrer ganzen schönheit geformt habe.





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