Montag, 23. Juni 2014

Aus der Praxis – Von der Unmöglichkeit des Vergessens




Wie schön es doch wäre all das, was wir nicht erinnern wollen zu vergessen. Wie schön es doch wäre, unbelastet von der Vergangenheit ein Leben im Jetzt zu gestalten und jeden neuen Morgen wie ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier zu begrüßen, das darauf wartet ohne den unschönen Überhang eines Gestern beschrieben zu werden. Welch eine Befreiung das wäre.

Aber wie so vieles Schöne, was wir uns ersehnen und vorstellen bleibt auch das nur ein Wunsch. Die Wahrheit ist, wir vergessen nicht. Wir Menschen sind Wesen, die von Prägungen und Erfahrungen bestimmt sind. All das zusammengenommen ist Erinnerung. Erinnerung ist mit allen Sinnen gefühlt Erlebtes und – Erinnerung ist untrennbar mit unseren Gefühlen verbunden. Sie ist vollgepackt mit alten Gefühlen und damit sind wir.

Schon lange treibt mich die Frage um, was passiert mit unseren Emotionen, wenn die Erinnerung an ein Ereignis aus unserem Bewusstsein verschwunden ist, welches diese Gefühle verursacht hat? Haben sie sich aufgelöst ins Nichts wie der Morgentau nachdem die Sonne die Feuchtigkeit aus den Wiesen vertrieben hat, oder sind sie immer da und nur nicht immer präsent im Bewusstsein?

Viele glauben, dass Erinnerung und Gefühlsregungen untrennbar miteinander verbunden sind. So haben beispielsweise Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung die Angewohnheit, über die Gründe für ihre Gefühle nachzugrübeln und geraten dadurch immer wieder in ein seelisches Tief. Bisher glaubte man, dass dies darauf hindeutet, dass Gefühle von Trauer oder Angst abhängig vom Abrufen der Erinnerung an die belastenden Ereignisse sind und das sie verschwinden, wenn die Erinnerung gelöscht ist. Aber wahr ist: Erinnerungen lassen sich nicht löschen, im besten Falle verblassen sie mit der Zeit.

Neueste Untersuchungen der Wissenschaftler um das Team von Justin Feinstein von der University of Iowa, widersprechen sogar dieser Annahme. Sie zeigten, dass durch bestimmte Ereignisse ausgelöste Gefühle weiter existieren, obwohl die dafür verantwortlichen Erfahrungen scheinbar längst vergessen sind. 
 Das bedeutet eine „vergessene“ oder eine verblasste Erinnerung bedeutet also nicht, dass auch die damit verknüpften Gefühle verschwunden sind. Wenn wir glauben unsere Vergangenheit vergessen zu haben irren wir also, denn die damit verbundenen Emotionen sind nicht nur in unserem Gehirn, sondern in jeder Zelle unseres Organismus unauslöschbar gespeichert. Sogar die Tests der Wissenschaftler mit Alzheimerpatienten ergaben, diese Menschen vergessen zwar ihre Erinnerungen, aber nicht ihre erlebten Gefühle.

Schon der kleinste Auslöser, der in irgendeiner Weise an die alte Erfahrung erinnert, ein Geruch, Worte, Geräusche, Dinge, die wir sehen, eine Bewegung, eine Geste, eine Bewegung u.v.m ruft die alten Gefühle ab und wir erleben sie in der Gegenwart mit der gleichen oder ähnlicher Qualität wie wir sie in der Vergangenheit empfunden haben. Das erklärt vieles und es macht vieles schwer für all die, die vergessen wollen um freier zu leben und unbelastet vom Alten neue Wege gehen möchten.

Erlebte Gefühle sind unauslöschbar. Das ist eine Erkenntnis, die Fragen stellt, vor allem die Frage: Wie ist es möglich eine alte Last nicht unsere Gegenwart belasten zu lassen?

Vielleicht so: Ich kann kein Gefühl löschen, aber was ich kann, ist es annehmen und es aushalten, solange es da ist und mir bewusst machen, dass es ein altes Gefühl ist und nicht meine jetzige Realität, auch wenn es sich so anfühlt. Schwer, aber möglich mit dem Wissen, dass Gefühle kommen und gehen, sich wie Wellen aufbäumen und sich dann wieder zurückzuziehen ins große Meer der Erinnerung. Vielleicht ist es Demut zu erkennen, dass ich meine Gefühle nicht „vergessen“ kann, aber sie ziehen lassen kann, wenn ich sie gefühlt habe, dahin zurück wo ihr Platz ist – in den Tiefen meines Selbst. Das erscheint mir tröstlich.





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen