Donnerstag, 9. Oktober 2025

Kontrolle

 

 
 
 
Julian Rotter führte 1966 erstmals den Kontrollbegriff in die Psychologie ein. Dabei ging es ihm darum, eine Skala einzuführen, an deren positivem Pol sich die Leistungsmotivation und an deren negativem Pol sich die soziale Fremdgesteuertheit befand. Kontrolle in manchen Bereichen ist also zunächst einmal nichts Ungutes, sie ist ein menschliches Bedürfnis, denn wie sonst sollten wir bei allem Geworfensein in die Welt nicht in Ohnmacht versinken, hätten wir nicht das Gefühl selbstbestimmt zu leben und unser Leben gestalten zu können.
Wir haben Kontrolle und wir haben sie nicht. Wir mögen es die Dinge unter Kontrolle haben. Das Leben unter der eigenen Kontrolle stehend zu erleben gibt uns das sichere Gefühl von Eigenmacht und Selbstwirksamkeit. Jedoch, wir müssen alle irgendwann schmerzhaft erkennen, dass wir im Grunde nichts unter Kontrolle haben, schon gar nicht das Schicksal und schon gar nicht andere Menschen. 
 
"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser", lautet ein Spruch.
Kontrolle ist möglich, wo es um meine eigenen Entscheidungen, mein Handeln und meine Lebensplanung geht und auch das nur bedingt, denn niemand ist eine Insel und wir alle leben in einem Kontext, den wir uns von Geburt an nicht aussuchen können und auch im Laufe des Lebens erfahren wir immer wieder wie wenig wir doch kontrollieren können. Diese Einsicht ist nicht leicht anzuerkennen, denn sie zeigt deutlich wie fragil das Konzept von Kontrolle ist, so fragil wie der Mensch selbst.
Es gibt Menschen, die müssen mehr als andere das Gefühl haben Kontrolle über die Dinge und über ihre Mitmenschen zu haben. Sie sind ständig auf der Hut. Zum einen, weil sie andere beobachten müssen, um deren Verhalten berechnen zu können, zum anderen weil sie das beobachtete Verhalten interpretieren, beeinflussen, manipulieren und im Zweifel korrigieren müssen um sich sicher zu fühlen. Menschen die den Drang haben andere zu kontrollieren haben wenig Vertrauen, nicht andere und nicht in sich selbst. Sie können die Dinge nicht sein lassen und sie können die Menschen in ihrem Umfeld, besonders jene, mit denen sie eine emotionale Bindung haben, nicht sein lassen. Sie haben Angst, meist ist es Verlustangst und die Angst vor dem Verlassensein.
 
Verlustangst hat ihre Ursache in der Kindheit.
Besonders Menschen, die als Kind unberechenbare, in ihren Worten, Handlungen und Verhalten nicht klar fassbare und verlässliche, sicherheitsgebende Eltern erlebt haben, neigen als Erwachsene zur übermäßigen Kontrolle. Das Thema, das sie ein Leben lang begleitet ist: Sein von Schein, also Klarheit von Unklarheit und Wahrheit von Unwahrhaftigkeit, unterscheiden zu müssen. Ein schweres Unterfangen, denn wer im Elternhaus keine emotionale Verlässlichkeit erfahren hat, weiß nicht, was echt und was unecht ist. Ein Kind mir dieser Erfahrung ist unsicher im Umgang mit Menschen und im Umgang mit sich selbst. Die frühe Erfahrung von Unsicherheit und Unberechenbarkeit führt dazu, dass es sich in seinem eigenen Sein und in der Welt vom Grundgefühl her verlassen fühlt.
 
Ein Kind, das mit Bezugspersonen aufwächst, deren Maske das wahre Gesicht verbirgt weiß nicht woran es ist. Wer nicht weiß, woran er ist, kann sich an nichts halten.
Durch die Janusköpfigkeit der Personen auf die es angewiesen ist, lebt das Kind inmitten der Unberechenbarkeit und Unwahrhaftigkeit des oder der Menschen, die es liebt, auf einer einsamen Insel. Es lebt in einem Klima von ständig wankendem Boden. Was immer es im Verhalten des janusköpfigen Elternteils erlebt, ist diffus. Alles Diffuse macht Kindern Angst. Diese Angst führt dazu Klarheit, Berechenbarkeit und Kontrolle zu suchen. Ein untauglicher Versuch. Auch das spüren Kinder instinktiv. Die wiederholten untauglichen Versuche zu verstehen und einzuordnen was wahr und was unwahr ist, was echt und was unecht ist, führen zum Erleben tiefer Ohnmacht. Aber auch diese Ohnmacht kann das Kind weder benennen noch rational begreifen. Es fühlt sie. Und was wir fühlen, gräbt sich am Tiefsten in unser Gedächtnis ein. Um das Gefühl von Ohnmacht zu kompensieren lernt das Kind zu beobachten - die Mutter oder den Vater. Getrieben von der Sehnsucht das Echte zu erkennen, ist es ständig im Außen orientiert. Daher gelingt es ihm nicht, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Was dazu führt, dass es neben der Unfähigkeit zu vertrauen, zu einer nur bruchstückhaften Herausbildung eines eigenen Selbst kommt. Mit anderen Worten, ein gesundes Selbst-Bewusstsein bekommt, noch bevor es sich überhaupt entwickeln kann, Schlagseite.
 
Wer als Kind ständig im Teich eines nebulösen Elternbildes schwimmt, fischt im Trüben.
Das will es als erwachsener Mensch verhindern. Es entwickelt sich zum Kontrolleur anderer. Es muss endlich, die Sicherheit, die Verlässlcihkeit und den Halt spüren, den es als Kind schmerzhaft vermisst hat. Es muss aus der Position der Ohnmacht in die Position der Macht gelangen. Übermäßige Kontrolle hat immer mit Macht zu tun. Sie ist der Gegenpol zur Ohnmacht. Wer Ohnmacht erlebt hat, hat sich selbst als Opfer erlebt und die anderen als Täter. Das Motiv der Kontrolle ist das (Wieder) Erlangen der als Kind verlorenen Macht über das eigene Sein. Durch das Mittel der Kontrolle gelingt dieses Machtgefühl in der eigenen Wahrnehmung. In Wahrheit ist diese Macht aber wieder nur scheinbar. Der Kontrolleur ist in seinem alten Muster gefangen, er ist erneut Opfer, das Opfer seiner eigenen Kontrollsucht, jedoch ohne sich dessen bewusst zu sein. Er ist wieder Beobachter und wie als Kind abhängig vom Handeln und Verhalten anderer. Er ist wieder im Außen und nicht bei sich selbst. Er verliert sich im Außen, in der Anstrengung alles unter Kontrolle zu behalten. Dass man Nichts und Niemanden kontrollieren kann ist ihm möglicherweise auf der kognitiven Ebene sogar bewusst, das Innere Kind aber suggeriert ihm etwas anderes. So sind Kontrolleure, solange sie sich das Unbewusste nicht bewusst machen, Gefangene ihrer Suche nach Berechenbarkeit. Um Macht zu erlangen werden sie in ihren Beziehungen oft sogar zu Manipulatoren. Die Mittel der Macht sind vielfältig, aber der Zweck ist immer Macht zu spüren um Ohnmachtsgefühle nie (mehr) ertragen zu müssen.
Das Tragische ist: Menschen, die andere ständig kontrollieren müssen, verlieren dabei die Kontrolle über sich selbst und sie finden keinen inneren Frieden.
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

 

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