Dienstag, 28. März 2023

Aus der Praxis: Traumabindung

 

                                                         ART: Louise Bourgeois

 
"Ich kann nicht gehen, er, sie, ist doch mein Seelenpartner."
Wie oft höre ich das, wenn Klienten zu mir kommen um über ihre Beziehung zu klagen, die sie langsam kaputt macht.
Ist das wirklich wahr? Ist das der Seelenpartner?
Ist das wahr, wenn die Beziehung alles andere ist, als erfüllend?
Wenn deine Gefühle und Bedürfnisse körperlich und emotional nicht erfüllt werden?
Wenn die Beziehung ein ständiger Tanz von On und Off ist?
Wenn es mit und ohne nicht gut ist?
Wenn sie sich zerstörerisch anfühlt?
Wenn eigene Bedürfnisse auf der Strecke bleiben?
Wenn das Ungute überwiegt und dann wieder diese Wahnsinnsmomente kommen, wo du im siebten Himmel schwebst um kurz danach wieder abzustürzen?
Wenn jeder neuen Hoffnung eine neue Enttäuschung folgt?
Wenn du bleibst, obwohl dein Verstand und dein Bauch sagen: Geh!
Wenn du daran festhälst, weil dein Herz sagt: Das ist meine große Liebe. Ich kann ohne sie nicht leben!
Wenn Liebe als Sehnsuchtswert alles Unheilsame ertragbar macht?
Wenn du am anderen klebst wie zäher Leim, obwohl er dich immer wieder verletzt und du dich einfach nicht lösen kannst?
Wenn das so ist, dann ist es nicht der Seelenpartner.
Der tut dir nämlich gut und du ihm.
Was das ist, ist Traumabindung.
 
Traumabindung ist, wenn wir in einem Beziehungsmuster feststecken, das uns in einer Dynamik festhält, die uns nicht dienlich ist. Es handelt sich um ein Beziehungsmuster, das wir in der Kindheit erlernt haben und im Erwachsenenalter wiederholen.  
Wir wiederholen, was wir erlebt haben und leben es immer wieder aus, um unbewusst die alten Beziehungsmuster zu heilen, nach dem Motto: Es muss doch endlich gut werden, wenn ich es es nur immer wieder versuche, wenn ich nur genug liebe, genug verstehe, genug gebe, genug verzeihe.
Es wird nicht gut. 
 
Ein Problem lässt sich nicht mit Strategien lösen, die damals schon nicht geholfen haben. 
Die kindlichen Überlebenstrategien halfen uns zwar Probleme mit unseren frühen Bindungspersonen zu bewältigen, sie halfen uns Traumata emotional zu überleben, jetzt aber bringen sie uns in direkt zurück in die unheilsame Lage der Kindheit.
Fatalerweise halten wir an diesen Strategien fest.
Es zieht uns unbewusst so stark zu diesen Mustern, dass wir wider besseren Wissens gegen uns selbst handeln, um eine Beziehung zu halten, die auf Traumabindung basiert. Wir verleugnen das Unheilsame, wie damals als Kind, um geliebt zu werden. Wir verleugnen uns selbst um Liebe zu bekommen, weil wir gelernt haben: Bindung ist Überleben, und ohne Bindung, egal wie sie ist, sind wir nicht überlebensfähig.
Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, verwechseln Gefühle der emotionalen Abhängigkeit mit Liebe und wahrhaftiger Verbundenheit. 
 
Das kindliche Gefühl der Abhängigkeit fühlt sich nach Heimat an. So kennen wir es, egal wie unheilsam und schmerzhaft die Heimat der Kindheit war. Was sich vertraut anfühlt, wird als Verbundenheit empfunden und gedeutet, selbst wenn dies Schmerz bedeutet.
Unsere kindliche Bedürftigkeit fühlt sich von einer ähnlichen Dynamik magisch angezogen, egal ob sie uns guttut oder nicht. Daher finden wir uns immer wieder in ähnlichen Beziehungsmustern wieder, die wir als Kind erlebt haben. Wir haben gelernt diesen traumatischen Zustand mit Liebe zu verbinden, weil er unserer Erfahrung von „Liebe“ gleicht. Er sitzt in jeder Zelle wie ein fest installiertes Programm.
Wenn wir in einer Traumabindung stecken setzt unser Verstand aus. Wir sind gesteuert von den Verletzungen der Vergangenheit. Wir leben in unseren alten Mustern, unfähig auszusteigen, obwohl wir genau spüren – das hier ist Gift für uns. Wir schlucken es weiter, süchtig nach der Vergangenheit. Es hat eine solche Anziehung auf uns wie die Droge auf den Süchtigen. Bekommen wir unsere Dosis nicht, fühlt sich unser Leben leer an und sinnlos. Dann fehlt das Drama, der Kick, die Intensität, die Tiefe, der Exzess, der Dopaminschuss der Traumabindungen aufrechterhält. 
 
Also bleiben wir, wie der Süchtige, auf der Droge hängen, die unser Leben nach und nach zerstört, gelingt es uns nicht die Sucht zu stoppen.
Aber genau darum geht es: Stopp zu sagen.
Hinzuschauen, was sich da in uns und vor uns abspielt. Uns dessen bewusst zu werden, was wir in Endlosschleife reinszenieren, um davon zu genesen. Um wir selbst zu werden, erwachsen zu werden und nicht dem traumatisierten Kind in uns die Zügel in der Hand zu lassen. Genesen, um mit dem Partner in Resonanz zu treten, der uns gut tut und nicht dem, der unsere Neurose bedient.
Dazu müssen wir uns der alten Muster gewahr werden.
Wir müssen sie identifizieren und sie dann verlernen. Das erfordert den absoluten Willen, viel Zeit, viel Arbeit und die Kraft den Entzug durchzustehen, denn genau das ist es - ein Entzug, von dem Gift, das uns von Kindheit an beherrscht. 
 
 
Wenn Du Unterstützung suchst: Schreib mir eine Mail unter: 
aw@wende-praxis.de

Donnerstag, 23. März 2023

Aufmerksamkeit verändert vieles

 

                                                                  Foto: A.Wende

 
Gestern hatte ich ein Gespräch mit einer Klientin, die sich über sich selbst ärgert, weil sie immer dann, wenn ihr Partner sich anderen zuwendet, ein bedrohliches Gefühl von Verlassenheit empfindet, das sie dann mit Wut auf ihren Partner ausagiert. Sie weiß genau, dass diese Angst alt ist und es keinen Grund im Jetzt gibt. Ihre Beziehung ist stabil und sie weiß, dass ihr Partner sie liebt. Dieses Wissen nützt ihr aber nichts. Immer wieder wird sie von den alten Gefühlen überflutet. Ich spüre wie die Wut hochkriecht, aber ich kann nichts tun, ich muss sie rauslassen. Das macht mich traurig. Hört denn das nie auf?, sagt sie.
Ob das irgendwann aufhört weiß ich nicht, antworte ich, aber Sie können lernen bewusster mit ihren Emotionen umzugehen.
Ich empfehle meiner Klientin ihre Aufmerksamkeit zu trainieren. Diese ist wesentlich für unsere Fähigkeit zur Selbstberuhigung in emotional aufwühlenden Momenten.
Wenn wir lernen unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu richten und diese Aufmerksamkeit täglich trainieren, finden im Gehirn interessante Veränderungen statt. Unser Gehirn besitzt die Fähigkeit, sich neu zu organisieren und neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen herzustellen. Das bedeutet: Es ist dazu fähig sich strukturell und physiologisch zu verändern. Und das gelingt durch das Praktizieren von Aufmerksamkeitstraining.
 
Aufmerksamkeitstraining stärkt die Verbindungen zwischen verschiedenen Gehirnregionen, die an der Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt sind, wie z.B. den präfrontalen Cortex und den parietalen Cortex. Dadurch können Informationen schneller und effizienter verarbeitet werden. Die graue Substanz nimmt zu.
Studien haben gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig Achtsamkeit praktizieren trainieren, eine höhere Dichte an grauer Substanz in bestimmten Gehirnregionen haben, die für die Aufmerksamkeitskontrolle wichtig sind, wie z.B. der präfrontale Cortex. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit regelmäßig trainieren, erhöht sich die Aktivität in dieser Region, was uns u.a. hilft, uns besser auf eine Aufgabe zu konzentrieren und ablenkende Reize auszublenden. Das Trainieren der Aufmerksamkeit verändert auch die Konzentration und Verfügbarkeit von Neurotransmittern wie Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Diese Neurotransmitter sind wichtig für die Regulierung der Aufmerksamkeit und können ebenfalls helfen, unsere Konzentration zu verbessern.
 
Wenn neue neuronale Pfade angelegt werden, gelingt es uns mit der Zeit uns aus unseren Automatismen zu lösen. Wir reagieren nicht mehr unmittelbar und automatisch auf Reize und Trigger, sondern lernen, den Raum dazwischen achtsam wahrzunehmen und ihn zu nutzen, um nicht von unseren Gefühlen überflutet zu werden. Mit einfachen Worten: Wir reagieren zunehmend bewusster und nicht aus unseren alten Mustern heraus. Wir sind präsent im Jetzt.
Die Praxis der Metta Meditation z.B. bei der es um liebende Güte, also um das Gefühl von Liebe geht, indem wir durch das Sprechen von Sätzen und Mantras üben liebevolle Güte für uns selbst und jedes Lebewesen zu empfinden, stärkt sogar unser Limbisches System, also den Ort im Gehirn wo unsere Emotionen sitzen. 
 
Jede Art von Aufmerksamkeitsstraining führt, wenn wir es zu unserer täglichen Routine machen, zu einem ruhigeren, gelasseneren und bewussteren Umgang mit uns selbst und unseren emotionalen Herausforderungen. Es gibt unserem Nervensystem die Balance zurück. Es hilft uns, uns in der Gegenwart zu verankern. Es verhilft uns dazu nicht mehr aus dem Autopiloten zu reagieren, uns von Denkverzerrungen zu lösen, mehr Gelassenheit zu erlangen und bewusster mit uns selbst und anderen umzugehen. Aufmerksamkeit hilft uns dabei, dass wir unseren Konditionierungen und unseren Emotionen nicht mehr unbewusst ausgeliefert sind. Unsere Aufmerksamkeit steuert, wofür wir unsere mentalen Ressourcen nutzen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit besser kontrollieren können, können wir leichter Abstand von wenig hilfreichen Gedanken nehmen. Das Gewahrsein der Reaktionen unseres Nervensystems ist ein enormer Schritt in Richtung Genesung. Schon kleine tägliche Übungen verändern vieles.

Dienstag, 21. März 2023

Auf dem Weg

 

                                                                        Foto: www

 
Während wir auf dem Weg der Genesung sind beginnen wir viele geglaubte Wahrheiten und Überzeugungen zu hinterfragen. Wir beginnen anzuzweifeln, was wir für selbstverständlich hielten. Wir beginnen mehr und mehr wahrzunehmen, was in uns und um uns herum nicht in Ordnung ist.
Wir werden sensibler, für uns selbst und für andere.
Wir brauchen mehr Zeit für uns selbst und beginnen öfter die Stille zu suchen. Wir hören auf unsere Intuition und beginnen ihr mehr und mehr zu vertrauen.
Wir setzen Grenzen Menschen gegenüber, die uns immer wieder missachten und verletzen. Wir grenzen uns von jenen ab, die uns nicht wertschätzen und von jenen, die unseren Weg nicht mitgehen. Wir lassen ihnen das Ihre und kümmern uns weiter um das Unsere. Wir verlassen Beziehungen, die uns schädigen und sorgen für gesunde Beziehungen.
Wir erkennen, dass unser Wert nicht von anderen Menschen abhängt. Wir lassen uns nicht mehr manipulieren und bestimmen selbst wo es lang geht.
Vielleicht ziehen wir uns eine Weile zurück.
Unser Denken über emotionale und geistige Gesundheit verändert sich. Wir begreifen die Zusammenhänge zwischen unserer Psyche, unserem Geist und unserer Gesundheit und beginnen selbstschädigende Gewohnheiten zu lassen und entwickeln neue heilsame Gewohnheiten, die wir täglich praktizieren. Wir praktizieren Selbstfürsorge.
Wir begegnen unserem Inneren Kind und machen uns mit ihm vertraut. Wir lehnen es nicht mehr ab, weil es uns so oft boykottiert, sondern begegnen ihm mit Verständnis, Neugier, Mitgefühl und liebender Güte.
Wir reagieren weniger aus dem alten Überlebensmodus heraus und nehmen den Raum zwischen Reiz und Reaktion immer öfter bewusst wahr. Wir reagieren weniger und agieren mehr.
Wir stärken unsere Selbstwirksamkeit. Wir kennen unsere Werkzeuge zur Selbstberuhigungskompetenz und nutzen sie, wenn ungute Gefühle uns zu schaffen machen. Wir beginnen langsam das verlorene Vertrauen in uns selbst zurückzugewinnen.
Unsere Beziehung zu unserer Umwelt wird wacher, achtsamer und mitfühlender. Wir fühlen stärker unsere Verbundenheit mit allem. Wir leben bewusster. Wir vertrauen mehr und mehr unserer inneren Führung. Wir folgen unseren Werten und handeln danach.
Wir denken ganzheitlicher und integraler. 
 

Montag, 20. März 2023

Aus der Praxis: Emotionale Reifung

 

                                                                   Foto: A.Wende

 
Der Schmerz, den wir fühlen, lässt sich nicht durch einen besseren Job, einen besseren Partner oder mehr Erfolg beheben. Gefühle der Verlassenheit, der Trauer der Wut, der Wertlosigkeit, der inneren Einsamkeit, der Unzufriedenheit und der inneren Leere werden nicht durch das Verändern äußerer Umstände geheilt, auch wenn manche das meinen.
Die Erfahrung zeigt: Egal wo wir hingehen, wir nehmen uns mit.
Wir können die Probleme nicht auf der Ebene lösen, auf der sie entstanden sind.
Solange die verletzten jüngeren Anteile in uns unsere Sicht der Wirklichkeit prägen, bleiben wir der Mensch, der wir sind. Darum ist es so wichtig unsere Vergangenheit zu verstehen, zu verarbeiten und zu integrieren, um das verlorene Vertrauen in uns selbst wiederzuerlangen. Damit beginnt der Weg der Genesung.
 
Genesung ist ein bewusster Prozess, der Tag für Tag gelebt werden muss, indem wir uns unsere Denkweise über uns selbst bewusst machen und verändern.  
Dazu gehört, dass wir unser Bewusstsein auf die unbewussten Anteile in uns selbst richten, indem wir uns selbst von einer höheren Ebene aus mit Abstand beobachten. Damit ändert sich mit der Zeit unsere Selbstwahrnehmung und unser Bewusstsein über uns selbst.
Wir nehmen mehr und mehr wahr, wann wir aus den verletzen Anteilen heraus denken, empfinden und reagieren. Erst wenn wir diese Wahrnehmung geschult haben, können wir entscheiden, ob diese Anteile es gut mit uns meinen oder nicht, ob sie hilfreich sind oder nicht. Sind sie es nicht, nehmen wir Abstand und entscheiden uns für das, was jetzt in diesem Moment hilfreich ist. Damit beginnt der Prozess der emotionalen Reifung.
Emotionale Reife heißt kurz: Wir handeln nicht mehr aus den alten Konditionierungen und Überzeugungen der Kindheit heraus. Wir lernen die alten Muster zu identifizieren und sie nicht mehr auszuagieren, im Wissen, dass sie uns schaden, auch wenn wir dafür aus unserer Komfortzone heraustreten müssen. Dieser Prozess ist schwierig und er braucht neben der Bereitschaft ihn zu leben, viel Zeit, Arbeit und Disziplin. Wir müssen dranbleiben. 
 
Genesung ist keine Spontanheilung und kein Wunderwerk.
Was über Jahrzehnte unbewusst in uns wirkt, ändert sich nicht in kurzer Zeit, nur weil wir uns dessen jetzt bewusst sind. Wissen ist wichtig, aber es bedeutet noch lange nicht, damit wird gleich alles anders.
Es braucht Umsetzung. Gelebtes Wissen. Wissende Handlung.
Genesung braucht vor allem eins: Aktive, kontinuierliche Arbeit an uns selbst. Es gibt keine Abkürzung, der Weg ist das Ziel.
Ob wir diesen Weg gehen wollen, entscheiden wir selbst.
Denn jetzt sind wir kein Kind mehr - wir sind erwachsen und treffen unsere eigenen Entscheidungen. Wir übernehmen Eigenverantwortung. Wir haben eine Wahl.
Wir stellen uns dem alten Schmerz. Anstatt uns von ihm beherrschen zu lassen, lernen wir von ihm, sonst bleiben wir ewig darin stecken. 
 
Namasté

Freitag, 17. März 2023

Genesung

 


Genesung bedeutet auch: Ich gehe in eine Phase der Verpuppung. Ich ziehe mich zurück.

Ich verbringe meine Zeit alleine. Ich bleibe bei mir selbst. Ich bleibe in der Stille. 

Ich höre auf meine innere Stimme. Ich zwinge mich zu nichts. 

Ich tue nichts um mich zu manipulieren. Ich erlaube mir nichts zu tun und nichts zu wollen. Ich bin eine Weile absichtlos. Ich nehme nur wahr. Ich bin präsent. Ich vertraue dem Prozess. Ich schiebe ihn nicht mit Druck an. Ich vertraue mir selbst. Ich weiß, dass sich am Ende ein Schmetterling offenbart.

Mittwoch, 15. März 2023

„Mädchen, ich sage dir steh auf!“

 

                                                                      Foto:www


Viele Frauen haben sich jahrelang bereitwillig in den Dienst anderer gestellt. Dann kommt der alles verändernde Moment: Die Kinder sind aus dem Haus, die Ehe oder die Beziehung sind unerträglich geworden oder gescheitert, der Job langweilt oder belastet nur noch und der Blick auf die Zeit sagt: Mädchen deine Jahre sind begrenzt. Dann kann es sein, dass sie kommt: Die existentielle Sinnkrise.
Diese Frauen müssten eigentlich verdammt stolz auf sich sein, was sie bis in die 50iger Jahre ihres Lebens geleistet haben. Sie sind es aber nicht. Vielmehr fühlen sie sich nicht mehr gebraucht, leer und einsam, weil da niemand mehr ist für den sie da sein können. Sie haben nur noch sie selbst, sie fragen sich: Wer ist dieses Selbst? Und sie wissen nicht, wer sie wirklich sind und wie es weiter gehen soll.
Sie wissen oft nicht einmal mehr was ihre Bedürfnisse, Wünsche und Visionen sind, weil sie immer auf andere fokussiert waren und sie umsorgt haben, und wenn sie es wissen, denken sie, dass diese sich nicht mehr erfüllen lassen. „Zu spät“, kommt dann oft und je öfter sie diesen Gedanken denken, desto fester sitzt er im Kopf und verstärkt sich.
 
Sie fühlen sich verbraucht, müde, alt, nicht mehr attraktiv und begehrenswert, nicht wertvoll, nicht liebenswert und uninteressant. Sie fühlen sich haltlos und unsicher und wissen nicht wohin mit sich. Sie haben auf einmal viel Zeit für sich und wissen nicht, wie sie sie gestalten sollen. Sie haben keinen Plan, wie es weitergehen soll und die Angst vor einer ungewissen Zukunft lähmt.
„War das jetzt alles?“, fragen sie sich und tiefe Traurigkeit und Mutlosigkeit erfasst ihr Inneres.
Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
 
Ich kenne die Sorgen und Nöte dieser Frauen, den manche von ihnen durfte und darf ich begleiten.
Was diese Frauen brauchen ist zuallererst eine Inventur.
Einen Rückblick auf das, was sie alles geschafft haben, ein Anerkennen dessen, was sie vollbracht haben und Selbstwürdigung. Eine neue Sicht der Dinge und eine neue Bewertung dessen, was ihr Leben war – eine Kraft gebende. 
 
Es geht es darum, sich Klarheit zu verschaffen.
Dazu gehört zu schauen, was aufzuarbeiten ist, und es dann aufzuarbeiten. Dazu gehört: Auszusortieren, was nicht mehr hilfreich ist und zu behalten, was hilfreich und nützlich ist.
„Den Keller ausmisten“, nenne ich das.
Wenn das getan ist, wenn alles an hinderlichen Gedanken, lähmenden Überzeugungen, unheilsamer Realitäts- und Selbstbewertung, belastenden Erfahrungen, Verletzungen und Enttäuschungen angeschaut und verarbeitet ist, geht es um Weichenstellung.
Es geht um eine Weichenstellung, die klar und wahrhaftig ist, statt: „Ich sollte, ich müsste…
Sollen und müssen war lang genug!
Was will ich wirklich? Was will ich nicht (mehr)? 
Was oder und wer dient mir zu meinem Besten und was und wer nicht?
Was ist meine Vision? Was gibt mir Sinn? Was sind meine Werte?
Wie will ich mein Leben gestalten, so dass es tiefer, lebendiger und wesentlicher wird?
Das sind nur einige Fragen, die neue, klare Weichen stellen.
 
In dem Buch von Anselm Grün mit dem Titel „Finde Deine Lebensspur“ gibt es die Geschichte der kleinen Esther, die ich meinen Klientinnen, die sich in oben beschriebener Lage befinden, zum Lesen ans Herz lege.
Die Geschichte beginnt mit dem Entschluss der kleinen Esther, lieber zu sterben, als weiter in der Welt der Erwachsenen zu leben. Und damit beginnt ihre Heldinnenreise Richtung Freiheit, denn das ist der Schatz, den sie sucht.
Im Laufe der Reise lernt Esther trotz ihrer Angst zu handeln, sie lernt die Leere und das Alleinsein zu ertragen und anzunehmen. Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher und lauter hört sie ihre innere Stimme. Sie beginnt auf sie zu hören und die Kraft ihres Herzens wächst. Sie gibt nicht auf. Sie überwindet alle Herausforderungen.
Bis sie auf den Schwellenhüter trifft, der sich in jeder Heldenreise irgendwann zeigt um zu überprüfen, ob der Held oder die Heldin es wirklich ernst meinen. Er zeigt sich in Gestalt eines Steines, auf dem die Inschrift steht: „Ich lebe – und ich liebe dich, so wie du bist!“
Esther erstarrt. Sollte das etwa der Schatz sein, den sie sucht, der ihr zu einem freien Leben verhilft?
Sie kann und will es nicht glauben.
Sie ist enttäuscht, ihr Herz ist so voller Trauer, dass sie zusammenbricht. So viele Jahre war sie unterwegs, hat alle Gefahren überwunden, aller Angst getrotzt, all ihre Einsamkeit. Leere und Sehnsucht ausgehalten – und jetzt das?
Nur ein Stein mit der Inschrift: „Ich lebe - und ich liebe dich, so wie du bist?
Esther resigniert. Sie ist bereit aufzugeben und zu sterben.
Plötzlich hört sie eine Stimme: „Mädchen, ich sage dir steh auf!“
Nein, sagt Esther: Warum? Wozu? Für wen?
Aber die Stimme ruft ein zweites und ein drittes Mal: „Mädchen, ich sage dir steht auf!“
Und beim dritten Ruf kommt Esther eine Kraft entgegen, die sie bis in Innerste ihres Wesens führt. Dorthin, wo sie sich selbst als liebenswert und stark erkennt.
Und Esther steht auf.
Und geht weiter …
 
 
Namasté
Angelika Wende


Montag, 13. März 2023

Aus der Praxis: Wer in der Gefangenschaft der Sucht nicht leben will, muss aussteigen.

 

                                                         Malerei: A. Wende

 

Das Zusammenleben mit einem Alkoholiker bedeutet extremen Stress. Der Süchtige verhält sich wie eine Melange aus Dr. Jeckyl und Mr.Hyde, einem hilflosen, ungezogenen, bockigen Kind und, je weiter die Sucht voranschreitet, wie ein Pflegefall. Die Angehörigen müssen alles ertragen und alles erledigen, was der Süchtige nicht mehr schafft. Sie müssen die Schäden der Sucht mittragen und schließlich den Süchtigen versorgen, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Sucht ist eine Familienkrankheit, von der alle betroffen sind.

Sucht gleicht einem schwarzen Loch, das alle Bemühungen verschluckt. Irgendwann kommt der Punkt, an dem der Angehörige, der den Süchtigen „retten will“, in diesem schwarzen Loch versinkt, während der krankheitsuneinsichtige Süchtige weiter seiner Sucht frönt. 

Das größte Leid der Angehörigen tritt dann ein, wenn der Süchtige in der chronischen Phase angelangt ist und sie weiter auszublenden versuchen, dass der zerstörerische Sog des Siechtums sie mit in den Abgrund zieht.

Angehörige von Süchtigen, die zu mir kommen, haben emotionale und/oder physische Gewalt erfahren und viele leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, was ihnen oft nicht bewusst ist.

Das Leben in der Co-abhängikeit von einem Süchtigen, der keine Kranheitseinsicht hat, ist ein Ritt durch die Hölle. Und der hat Nachwirkungen, auch dann wenn Co-abhängige sich bereits getrennt haben. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes vergiftet. Sie müssen entgiften um zu genesen.  

Viele Co-abhängige geben alles um dem Süchtigen zu helfen, und alles ist vergeblich. Sie betreiben oft über Jahrzehnte oder lebenslang "betreutes Trinken", ohne sich dessen bewusst zu sein. Mit ihrer Unterstützung, ihrer Duldsamkeit, ihrer Leidensfähigkeit und ihrer Hilfe, halten Sie die Sucht aufrecht.

Wer mit einem Alkoholiker lebt weiß: Alles dreht sich um den Süchtigen. Eigene Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte bleiben unerfüllt. Und nicht nur das:

Selbst der Gesündeste beginnt an sich zu zweifeln, wenn er mit einem Alkoholiker zusammenlebt. 

Alkoholismus schafft verzweifelte Menschen. 

Sucht zerstört den ganzen Menschen. 

Sucht macht so ich-süchtig, dass jedes Gefühl abstirbt.

Sucht macht so taub, so leer, so kalt, dass alles andere darunter begraben wird.

Eben auch die Seele und das Leben der Angehörigen.

Für Süchtige gibt es zahllose Hilfen, die jeder, der eine Krankheitseinsicht hat, nutzen und in Anspruch nehmen kann. Die Angehörigen stehen in ihrem Leid oft alleine da. 

Co-abhängige haben kaum eine Lobby. Und viele von ihnen schämen sich Hilfe überhaupt zu suchen oder sie reden sich ein, dass es ihnen so schlecht nicht geht und es so schlimm doch nicht ist. Dem Süchtigen geht es ja am Schlimmsten. Sogar in den Angehörigenseminaren mancher Suchtkliniken, ich spreche aus eigener Erfahrung, sieht man die Aufgabe der Angehörigen darin, den Suchtkranken auch bei seiner Genesung mit allen Kräften zu unterstützen. Und wieder sind sie in der Rolle der Therapeutin, bzw. des Therapeuten, des alles Verstehenden und Verzeihenden, des Betreuers bzw. der Betreuerin. Denn: auch wenn der Süchtige trocken ist, geheilt ist er nicht. Alkoholsucht ist eine chronische Krankheit, die nicht heilbar ist, man kann sie nur stoppen. Sie hat die höchste Rückfallquote aller Süchte.

TherapeuthIN oder BetreuerIN – ein Platz, an den Angehörige nicht hingehören, denn dazu ist eine Partnerschaft nicht da. 

Wieder kommt es zu einem unheilsamen systemischen Ungleichgewicht, indem die Rücksicht auf und das Verständnis für den Süchtigen vor den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten Vorrang haben. Es geht ja um seine Genesung. Dazu gehört aufzupassen, dass man als Angehöriger den Suchtkranken nicht wieder durch irgendeinen "Fehler" oder Trigger in den Rückfall treibt. Wieder kommt es zu Dauerstress, dauernder Angespanntheit, dauernder Habacht-Stellung, dem ständigem Drehen um den Süchtigen, jetzt um ihn vor einem Rückfall zu bewahren. Denn nach wie vor dreht es sich um den Alkohol, der jetzt nicht mehr getrunken werden soll und die Belastung, die Abstinenz bedeutet. Und wieder ist da Erschöpfung, Traurigkeit und Wut, und wieder sind da permanent Druck und Angst. Zu viel an Belastendem um die eigenen Bedürfnisse hinreichend leben zu können. Zu viel um endlich Ruhe und Frieden zu finden. 

Wer will so leben?  Meiner Meinung nach niemand, der sein Leben und sich selbst genug wertschätzt und würdigt. Aber: das ist nur meine Meinung. Jeder entscheidet für sich. Jeder ist für sich selbst und sein Leben verantwortlich.

Wer in der Gefangenschaft der Sucht nicht leben will, muss aussteigen. 

Das ist für Co-abhängige genauso schwer wie der Ausstieg des Suchtkranken aus der Sucht. Der Ausstieg beginnt mit dem ersten Schritt: Dem Anerkennen, das die Suchtdynamik die Kontrolle über das eigene Leben hat. Entscheidend um den Ausstieg aus dieser Dynamik zu finden ist es zu lernen die eigenen Gefühle bewusst wahrzunehmen und sie auch ernst zu nehmen. Dann geht es darum Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein (wieder)zuerlangen, die eigenen Grenzen zu spüren und zu setzen, sprich gesunden Selbstschutz zu üben, um schließlich das co-abhängige Verhalten zu verlernen. Dazu gehört unabdingbar, dass man nach den Ursachen sucht, die oft in den jüngeren verletzen Anteilen liegen.

Es geht im Grunde darum das zu lernen, was der uneinsichtige chronisch Süchtige nicht will und am Ende auch nicht mehr kann: Verantwortung für sein Denken und Handeln zu übernehmen - Eigenverantwortung - und das bedeutet: Zuallererst für sich selbst gut zu sorgen.

Wenn Du co-abhängig bist und Unterstützung suchst – ich bin für dich da.

Schreib mir eine Mail unter: aw@wende-praxis.de

Ich freue mich auf Dich.

Angelika Wende